Die beste Rückschau hat er selbst geliefert. Als Dieter Henrich 2020 seine philosophische Autobiografie Ins Denken ziehen veröffentlichte, war bereits klar, dass dies Schlussstein eines ganzen Forscherlebens sein würde. Die Retrospektive erinnerte in ihrem dialogischen Aufbau und dem Titel nach an Georg Lukács' Gelebtes Denken, doch dem Versuch haftete bei Henrich etwas Eigentümliches an. Zeitlebens hatte sich sein Schaffen um die beiden Fragen gedreht, wie philosophische Einsichten zustande kommen und was es bedeutet, dass der Mensch sein Leben im Wissen von sich selbst führen muss. Es scheint fast notwendige Konsequenz zu sein, dass Henrichs Werk mit einer Reflexion auf die Genese des eigenen Denkens endete.

Dessen existenzialistischer Einschlag ist unübersehbar. Die Geworfenheit auch und gerade des Philosophen hat er 2011 in seinem Buch Werke im Werden treffend auf den Punkt gebracht: "Der Denker ist tätige Mitte und der zur Rechenschaft fähige Meister, nicht aber der Konstrukteur des ihm eigenen Wissensganzen." Oder in anderen Worten: "Er beherrscht den Aufbau dieses Ganzen, aber er schafft ihn nicht. Darum versucht er auch, ihn als gegründet in etwas zu verstehen, was am allerwenigsten sein eigenes Werk sein kann – sei es nun Geist, Gott oder Gehirn und subatomare Materie." Henrich sprach aus Erfahrung.

Der 1927 in Marburg Geborene litt als Kind unter zahlreichen Krankheiten und nicht weniger stark prägten der Untergang der Weimarer Republik, der frühe Tod des Vaters und die Kriegsjahre den jungen Henrich. Vor dem Hintergrund solcher Erlebnisse konnte der eigene Lebensentwurf kaum noch als etwas in der Macht des Subjekts Liegendes gedacht werden. Die frühen Brüche in seinem Leben, das dadurch geweckte Bedürfnis nach rationaler Selbstverständigung zogen den zunächst eher an Geschichte Interessierten in die Philosophie. Der entscheidende Einfluss wurde dabei Hans-Georg Gadamer, den der junge Student 1948 in Marburg traf. Studium und Promotion bei dem fachlich wie menschlich bewunderten Gadamer wurden für Henrich ein "großes Glück".

Andere Denker machten auf den aufstrebenden Philosophen weniger Eindruck. Von Adorno ist er regelrecht enttäuscht, wirft ihm später ungenügende Hegel-Rezeption und "rattenfängernahe Rhetorik" vor. Auch der alternde Heidegger oder Ernst Bloch vermochten nicht, ihn in den Bann zu ziehen. Überhaupt lagen seine Interessen quer zu fast allen Philosophien seiner Zeit. Während sich seit Nietzsche eine immer stärkere Tendenz zur Destruktion des klassischen Subjekt-Begriffs durchsetzte, die sich zum vielfach beschworenen Tod des Subjekts steigerte, fand Henrich gerade in einer Theorie der Subjektivität und des Selbstbewusstseins den Zielpunkt seines Schaffens.

Rehabilitierung der Metaphysik

Ihren Ausgangspunkt bildet die Unhintergehbarkeit des menschlichen Selbstbewusstseins, von dem aus der Mensch seinen Weltzugang gewinnt. Der Mensch kann sich – da er nicht als Urheber seines eigenen Selbstbewusstseins gedacht werden kann – niemals in vollständiger Selbstgewissheit wiederfinden. Dieser Gedanke der modernen Subjektkritik führte Henrich jedoch nicht zur Abschaffung des Subjektbegriffs, sondern zur Rehabilitierung der Metaphysik. An das Bewusstsein, dass in der menschlichen Selbstgewissheit immer ein Wissen um seine Grenzen einbegriffen ist, schließt sich ihm unmittelbar der Überstieg auf einen letzten Grund und der Ausblick auf ein Ganzes an.

Im Deutschen Idealismus begann Henrich nach Antworten danach zu suchen, wie sich eine im Weltganzen eingebettete Subjektivität denken lässt, und fand, wenn nicht Lösungen, so doch Argumente, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden darf. In zahlreichen Studien untersuchte er die Begründungsverfahren der Klassiker aufs Neue. Insbesondere Fichtes ursprüngliche Einsicht (1967), die Aufsatzsammlung Hegel im Kontext (1971) und seine Arbeiten zu Hölderlin entwickelten große Wirkmächtigkeit. Eine eigene Metaphysik oder systematische Philosophie hat Henrich selbst nie vorgelegt. In fünf Vorlesungen, die 2007 in dem Buch Denken im Selbstsein gesammelt wurden, entfaltete er jedoch Kernelemente einer eigenen Theorie der Subjektivität, die auch ein Denken ums Ganze ist und von deren Basis aus nicht nur wesentliche Eigenschaften des Subjektseins wie Leiblichkeit, sondern auch sittliches Bewusstsein, Freiheit und Mitsein (Intersubjektivität) begriffen werden können.

Seine akademische Laufbahn führte Henrich zunächst nach Berlin, wo er 1960 seine erste Professur annahm. Bereits fünf Jahre später zog es ihn aus der politischen Frontstadt wieder nach Heidelberg zurück, wo er eine auch organisatorisch rege Tätigkeit entfaltete und unter anderem Herausgeber der Theoriereihe bei Suhrkamp und 1970 Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung wurde. In dieser Rolle entwickelte sich Henrich zu einem wichtigen Brückenbauer, knüpfte Verbindungen in die Ostblockstaaten, reiste zu einem Hegel-Kongress nach Moskau und half mit, Arsenij Gulygas Kant-Biografie in Deutschland zu publizieren.