Es gibt die kleine Chance, immerhin, dass ihm die historischen Parallelen gar nicht bewusst sind. Schließlich ist Donald Trump jener Präsident, der vor einer Reise nach Pearl Harbor, Hawaii, nichts von den japanischen Angriffen auf Amerikas Pazifikflotte von 1941 gehört hatte und darum seine Begleiter fragte: "Was zur Hölle ist hier noch mal passiert?"

Es ist folglich möglich, dass Trump nicht wusste, dass sein Tweet, in dem er ein Zitat des rassistischen einstigen Polizeichefs von Miami aufgriff ("Wenn die Plünderungen beginnen, beginnt das Schießen"), eben diese Vorgeschichte hatte. Möglich sogar, dass sein Tweet vom Sonntag, dass nun "ANTIFA" (die Versalien gehören immer dazu, wenn man Trump zitiert) als terroristische Vereinigung eingestuft werde, im geschichtlichen Sinne unschuldig war: dass Trump keine Ahnung davon hatte, dass die USA einst am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben, um den Faschismus zu besiegen; und dass "Antifa" die Abkürzung von "Antifaschismus" ist; und dass es deshalb auf die bizarrste Weise heikel ist, wenn jetzt ausgerechnet der weiße Präsident der USA nach der Ermordung eines Schwarzen durch weiße Polizisten auf Antifaschisten schimpft.
Was für eine trostlose Unschuldsvermutung, nicht wahr? Aber so sind die USA von 2020: so niveaulos.

Was kann diese Gesellschaft noch aushalten, ehe sie tatsächlich auseinanderbricht? Wie robust, wie zäh kann sie jetzt sein, nachdem sie sich jahrelang alle Solidarität abtrainiert und ihre Klassenunterschiede durch immer noch eine Steuersenkung für Reiche vergrößert hat? Der Präsident jedenfalls heilt nichts. Er moderiert nichts. Er zündelt nur.

Ein Tod zu viel

Man hätte es sich ja nicht destruktiver und dramatischer, im zynischen Sinne passender ausdenken können: Was fehlte eigentlich noch, um diesem von Covid-19 und 104.000 Todesopfern sowie 40 Millionen Arbeitslosen erschütterten und von Präsident Trump täglich aufgehetzten und in keiner Sekunde mit Ernsthaftigkeit geführten Land den Rest zu geben? Antwort: ein neuer Rassenkonflikt, ist doch klar, ausgelöst durch einen Mord – durch vier weiße Cops an einem unbewaffneten Schwarzen und gefilmt von einer Passantin und deshalb in aller Grausamkeit wieder und wieder im ganzen Land ausgestrahlt.

Es gab in den vergangenen Tagen in über 75 amerikanischen Städten Demonstrationen. Wüst und gnadenlos waren die Szenen aus Minneapolis, wo der 46-jährige George Floyd am vergangenen Montag zu Tode gekommen war, nachdem er mit einer mutmaßlich gefälschten 20-Dollar-Note aufgefallen war. Aber auch Atlanta, Washington, New York, Los Angeles, Chicago, Detroit, ach, nahezu alle großen und größeren Städte erlebten friedliche Großdemonstrationen, hörten den Ruf "No justice, no peace" ("Keine Gerechtigkeit, kein Frieden"), sahen vereinzelte und dann nicht mehr vereinzelte Ausschreitungen, sahen neue Brutalität durch Polizisten, erlebten Versöhnliches wie gemeinsam singende, gemeinsam betende Demonstranten und Polizisten.

Der Mord an George Floyd geschah, symbolbeladen, am Memorial Day, Amerikas Nationaltrauertag, und es war der eine Vorfall, der eine Tod zu viel. Im New Yorker Central Park war, kurz zuvor an eben jenem Montag, der Schwarze Christian Cooper beim Beobachten von Vögeln ("Birdwatching") auf Amy Cooper gestoßen, die ihren Hund nicht anleinte und auf seine Bitten mit dem Griff zu Telefon antwortete: Sie werde den Polizisten "sagen, dass ein afroamerikanischer Mann mein Leben bedroht".

Bereits am 25. Februar war in Brunswick, Georgia, der unbewaffnete schwarze Jogger Ahmaud Arbery von den beiden Weißen Gregory McMichael und Travis McMichael, Vater und Sohn, erschossen worden; die Ermittlungen waren eingestellt worden, da Gregory McMichael ehemaliger Polizist war. Und am 13. März 2020 war die gleichfalls unbewaffnete Breonna Taylor, Rettungssanitäterin, in ihrer eigenen Wohnung in Louisville, Kentucky, von drei Polizisten erschossen worden; die Cops hatten im Drogeneinsatz Adressen verwechselt. Eine Systemfrage? Eine Kulturfrage? Selbstverständlich.