Wo Europas letzte Urwälder zerstört werden – Seite 1

Lange bevor Könige und Kaiser Europa unter sich aufteilten, regierte ein Baum unseren Kontinent. Vor knapp 12.000 Jahren brach seine Ära an: die Zeit von Fagus silvatica, der Rotbuche. Von Süden, wo sie die Eiszeit überdauert hatte, eroberte sie langsam große Teile von Europa. So lange, bis sich dichte Buchenwälder von Spanien über Frankreich erstreckten, von Belgien bis hin nach Tschechien, über Slowenien, Polen, Bulgarien und Albanien. Vor sechseinhalb Tausend Jahren wuchsen auf 40 Prozent des Kontinents Rotbuchenwälder. 

Heute ist an den meisten Gegenden davon nicht mehr viel zu sehen. In Deutschland, das als Zentrum der Buchen einst zu zwei Dritteln von ihnen bedeckt war, sind nur ein paar Waldreste übrig geblieben, in Thüringen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern. In vielen anderen Ländern Mittel- und Westeuropa sieht es ähnlich aus.

Ganz sind diese Urwälder aber noch nicht verschwunden. Weit im Osten des Kontinents, in der Ukraine zum Beispiel oder Slowenien, kann man heute noch ahnen, wie es hier vor einigen Jahrtausenden ausgesehen haben muss. Das gilt insbesondere für Rumänien. Kein Land besitzt größere Buchenurwälder. Rumänien verfügt über einen wahren Naturschatz  – buchstäblich: die Unesco hat die Buchenwälder Europas 2007 zum Erbe der Menschheit erklärt und ihnen einen besonderen Schutz zugesprochen. Auch die Gesetze der EU sollen sie vor der Zerstörung bewahren, ein Großteil der Urwälder sind Teil des europaweiten Netzwerks von Schutzgebieten "Natura 2000". Sogar laut rumänischem Gesetz ist es verboten, Bäume in unberührten Wäldern zu fällen. In der Theorie. 

In der Praxis sind seit 2005 bereits 45 Prozent der Urwälder vernichtet worden, schätzt die Umweltstiftung Euronatur. Es sind illegaler Holzeinschlag und Korruption, die sie bedrohen. 

Die staatlichen Wälder werden von der rumänischen Forstbehörde Romsilva verwaltet, die im Land für zwei Eigenschaften bekannt ist: dass nach dem Untergang des Ceausescu-Regimes hier viele geschasste Bürokraten unterkamen. Und dass viele Forstverwalter in die eigene Tasche wirtschaften. Zahlen aus der offiziellen Waldinventur des Jahres 2018 zeigen, dass im Land 18 Millionen Kubikmeter Holz legal eingeschlagen worden – und 20 Millionen illegal. 

Viele europäische Holzkonzerne, vor allem aus Österreich, sind im Land aktiv, betreiben riesige Sägewerke – und diese Sägewerke haben Hunger auf Holz.

Die Regierung muss reagieren

Die Folgen hat nun ein internationaler Zusammenschluss von NGOs dokumentiert: an drei Standorten haben sie zum einen die geschützte Biodiversität dokumentiert und zum anderen ihre Zerstörung. Die rumänische Naturschutzorganisation Agent Green, die auf Umweltrecht spezialisierte NGO Client Earth und die deutsche Umweltstiftung Euronatur sind seit Jahren in der Region aktiv und dokumentieren, wie die Wälder hier geplündert werden– oft ohne Konsequenzen. 

In diesem Jahr aber ist etwas in Bewegung gekommen. Im Februar forderte die EU-Kommission die rumänische Regierung offiziell auf, etwas gegen die Verstöße gegen die Holzhandelsverordnung zu unternehmen. Die Kommission bemängelte außerdem, dass das Land vorgeschriebene Umweltverträgslichkeitsprüfungen nicht oder nur schlampig gemacht hatte. Diese Untersuchungen sind vor Eingriffen in Ökosystemen wie etwa einem Straßenbau vorgeschrieben. Sie sollen verhindern, dass wertvolle Wälder und Lebensräume für seltene Tiere und Pflanzen vernichtet werden. 

Die rumänische Regierung hatte einen Monat Zeit, um auf die Vorwürfe zu reagieren, die Antwort ist nicht öffentlich.

Natur per Gerichtsbeschluss verteidigen

Mitarbeiter von Agent Green berichten allerdings, dass sich an der Praxis des Abholzens noch nichts geändert hat. Daher legen die drei NGOs in dieser Woche noch einmal nach – und schicken weitere Unterlagen an die EU, die zusätzliche Verstöße dokumentieren. Die Daten, die der EU-Kommission übermittelt wurden und die ZEIT ONLINE einsehen konnte, zeigen an drei verschiedenen Standorten, wie Urwälder im großen Stil kahlgeschlagen wurden. Anhand von Beispiele aus dem Făgăraș- und dem Maramuresch-Gebirge sowie dem Domogled-Nationalpark wollen die Organisationen zeigen, wie umfassend, zerstörerisch und alltäglich die Rodungen in Schutzgebieten sind. 

"Die illegale Abholzung in Rumänien ist nicht nur auf einzelne Standorte beschränkt. Sie ist ein systemisches Problem", sagt der Euronatur-Geschäftsführer Gabriel Schwaderer. "Wir hoffen, dass die Intervention so schnell wie möglich kommt, denn die Wälder werden abgeholzt, während wir hier reden."

Die Strategie von Umweltschützern, Natur per Gerichtsbeschluss zu verteidigen, gewinnt in letzter Zeit immer mehr an Bedeutung. Es ist ein anderer Kampf als früher, bei dem sich Aktivisten an Bäume ketteten oder in den Wipfeln verschanzten. Dieser Kampf wird vor allem in Beamtenzimmern geführt, die Waffen sind wissenschaftliche Daten: Welcher Wald verdient das Prädikat "Urwald" – und damit den Schutzstatus? Wie alt sind bestimmte Bäume? Gibt es hier seltene Arten? Dabei geht es längst um mehr als Geld. Manche populistischen Regierungen sehen das Recht, die Urwälder nach Gutdünken abzuholzen, als eine Demonstration der Wahrung nationaler Interessen.

Das erste Schlachtfeld des neuen Kampfes war der Białowieża-Urwald im Osten Polens. 2018 wurde die polnische Regierung vom Europäischen Gerichtshof davon abgehalten, ihn abzuholzen. ClientEarth trieb damals das Verfahren voran, mit dabei war damals die Expertin für Umweltrecht Agata Szafraniuk. Jetzt kämpft sie mit ihrer Kollegin, der Anwältin Ewelina Tylec-Bakalarz für die rumänischen Wälder, die sagt: "Wir haben der Kommission eine Reihe von Karten über längere Zeiträume vorgelegt, aus denen deutlich hervorgeht, wie groß die Kahlschläge sind."

Kurioserweise weiß bis heute niemand genau, wie viele der Wälder in Rumänien tatsächlich den Status Urwald oder naturnaher Wald tatsächlich verdienen. Eine Satellitenbild-Studie von Euronatur (Schickhofer M. & Schwarz U. (2019)) kam im vergangenen Jahr auf 525.000 Hektar – das wäre fast ein Zehntel des rumänischen Waldes, eine Greenpeace-Untersuchung immerhin noch auf rund 300.000 Hektar – deutlich mehr jedenfalls als die rumänische Regierung in ihrem Urwald-Katalog angegeben hat.

Bäume in Urwäldern werden gezielt geschlagen

Dabei geht es beim Feilschen um Hektarzahlen gar nicht so sehr um den eigentlichen Urwald. Besonders die alten Baumstämme lassen oft nur schwer verarbeiten. Es geht vielmehr darum, Platz zu schaffen, meist um Fichten-Monokulturen anzupflanzen, und darum, Tatsachen zu schaffen: Oft werden gezielt Bäume in Urwäldern geschlagen, damit sie den Schutzstatus als unberührte Wälder nicht mehr bekommen. 

Nadelbäume wie Fichten wachsen schnell und gerade. Sie  bringen so Holz und Geld – vorausgesetzt, sie können es mit der Klimakrise aufnehmen, die in Zukunft auch Rumänien heimsuchen wird. Erfahrungen aus den letzten Jahren in Deutschland zeigen, dass gerade solche Wirtschaftswälder extrem anfällig gegenüber Trockenheit und Schädlingen sind. 

Die Urwälder hingegen mit ihrem dichten Kronendach und ihrer Altersstruktur erhalten sich ihr eigenes Mikroklima, sie sind widerstandsfähig gegenüber Umwelteinflüssen wie Dürren oder Stürmen. Außerdem speichern sie große Mengen Kohlenstoff in ihrem Holz und im Boden. Die Wälder sind Heimat für Hunderte Tiere und Pflanzen, die einst den Kontinent bevölkerten und nun überall in Europa ausgestorben oder bedroht sind – in Rumänien aber noch in großer Zahl vorkommen. Dreizehen-Spechte und balzende Auerhühner, Wolfsrudel, Braunbären und Luchse, die hier noch frei durch die Wälder streifen. Myriaden an Pilzen und Insekten, die sich vom Totholz ernähren. Anders als in einem Wirtschaftsforst darf hier ein umgestürzter Baum einfach verrotten und wird nicht aufgeräumt. Weit mehr als die Hälfte aller Arten in den alten Buchenwäldern ist genau davon abhängig. Ein umgefallener Stamm ist also genau das Gegenteil von tot – er ist das pure Leben. Genau wie der Urwald um ihn herum. Das Einzige, was man tun muss, damit dieses Leben weitergeht, ist: es in Ruhe lassen.