Der Designer Enzo Mari und die Kunsthistorikerin Lea Vergine waren Zeitkritiker mit Leidenschaft

Nach Komplikationen infolge einer Covid-19-Erkrankung ist das legendäre Paar in Mailand gestorben.

Gabriele Detterer
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Enzo Mari: «Sei L’Orso» (Du bist der Bär).

Enzo Mari: «Sei L’Orso» (Du bist der Bär).

Giuliana Casadei

Enzo Mari kreierte das Bildmotiv «Sei L’Orso» aus der Grafikreihe «Della Natura» in den 1960er Jahren: Mit halb geschlossenen Augen lagert L’Orso, der mächtige Bär, auf dem Boden und beobachtet, ja belauert das Umfeld. So konterkarierte der Mailänder Designer und Künstler das Bild vom tapsigen, flauschigen Teddybären. Die Einladung zur Retrospektive «Enzo Mari», die am 17. Oktober in der Triennale Mailand eröffnet wurde, zeigt das bärische Bildmotiv.

Auch im wirklichen Leben durchkreuzte Enzo Mari so manche Vorstellung, zuallererst das Klischee vom smarten Designer. Allein schon äusserlich ragte er mit seiner Gestalt und dem weissen Bart wie ein felsiges Urgestein aus jeder Personengruppe auf. Nachdenklich erschien er im Gespräch, er war kein Mann grosser Worte.

Der italienische Designer Enzo Mari in seinem Atelier, 1974.

Der italienische Designer Enzo Mari in seinem Atelier, 1974.

Adriano Alecchi / Imago

Enzo Mari, der den Weltruf italienischer Formensprache mitbegründete, war aus einem besonderen Holz geschnitzt. Dass er nur kurz nach der Eröffnung der von Hans Ulrich Obrist mit Francesca Giacomelli kuratierten Retrospektive am 19. Oktober 88-jährig nach Komplikationen infolge einer Covid-19-Erkrankung verstorben ist, löst tiefe Bestürzung aus. Die Ausstellung wird nun zum Vermächtnis einer jahrzehntelangen, intensiven Auseinandersetzung mit der Formgestalt alltäglicher Dinge und der Arbeit für gutes Design, dessen Essenz sich nicht auf formale Ästhetik reduzieren lässt.

Nur einen Tag nach Maris Tod vermeldeten die Zeitungen «Corriere» und «Repubblica», dass auch seine Witwe, die renommierte Kunstkritikerin und Autorin Lea Vergine, 82-jährig gestorben ist. Sie zählte zu den bedeutendsten Stimmen der italienischen Kunstkritik und war vor allem für das Buch «The Body as Language» («Il corpo come linguaggio») mit ihren Essays über Body-Art und Performance bekannt.

Enzo Mari redete gerne von seinem japanischen Ahornbaum. Wozu Design, wenn es diese kreatürliche Naturschönheit gibt? Die Schönheit eines Gebrauchsgegenstands entstehe eben dann, wenn dieser den Alltag der Menschen verbessere, so Enzo Mari. Der Praktiker und Theoretiker hinterfragte die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen des Entwerfens und der Produktherstellung. Die Sehnsucht nach Veränderung, die auch heute junge Designer umtreibt, prägte sein Leben.

Dass er Projekte nicht exklusiv für eine privilegierte Käuferschicht ersann, gründete auf der Überzeugung, dass soziale Verantwortung die Richtlinie für kreatives Schaffen sein sollte. Zum Begriff «Design» hielt er Distanz und bevorzugte das dynamischere Wort «progetto».

Sein ethischer Anspruch zeigt sich auch in den Möbelentwürfen der Reihe «Autoprogettazione» von 1974: Jeder kann auf der Basis der im gleichnamigen Buch dokumentierten Anleitungen neunzehn schlichte Holzmöbel nachbauen. Auch die Herstellung der Dinge soll Freude machen. Das Do-it-yourself-Projekt wurde zum Klassiker alternativer Möbelherstellung der 1970er Jahre und erlebt Neuauflagen.

Enzo Mari: «La Mela».

Enzo Mari: «La Mela».

nova68.com

Spiellust auch mit kleinen Dingen

Als einer seiner erfolgreichsten Entwürfe gilt der Stuhl «Tonietta», produziert vom Möbelhersteller Zanotta. Für den formschönen Stuhl erhielt Mari 1987 die prestigereiche Auszeichnung Compasso d’Oro. Tonietta sei weder arrogant noch ärmlich und deshalb ein wahrer Stuhl, meinte Mari. Selbst kleine Objekte offenbaren die Sensibilität der Hände des Designers für die Formfindung. Nimmt man den Brieföffner Benbecula, den er 1961 gestaltete, aus der Danese-Schachtel, verspürt man Nostalgie für eine vergangene Designkultur.

1932 in Cerano (Novara) geboren und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, begann er ein Studium an der Kunstakademie. Schnell offenbarte sich sein Talent für angewandte Kunst. 1957 entwarf Enzo Mari «16 animali», ein Puzzle aus hölzernen Tierfiguren, die eine Nähe zum gestalterischen Ansatz von Bruno Munari (1907–1998) sichtbar machen.

Der vielseitige Maestro hinterlässt unendlich viele Zeichnungen und blieb ein Leben lang Künstler. Anfang der 1960er Jahre zählte er zusammen mit Gianni Colombo, Grazia Varisco und Davide Boriani zum Kreis der Mailänder Protagonisten der Arte cinetica und war 1962 an der richtungsweisenden Ausstellung Arte programmata beteiligt. Mit der Installation «anti-tele-dipendentitore» von 1991 bewies er auch Jahrzehnte nach dem avantgardistischen Aufbruch, dass er in einer Person untrennbar Künstler, Gestalter, Formenerfinder und Zeitkritiker vereinte.

«Enzo Mari» – auch als virtuelle Tour, kuratiert von Hans Ulrich Obrist mit Francesca Giacomelli, Triennale Mailand, bis 18. April 2021.