Die Niederlande sind weltweit bekannt als Fahrradnation. Dabei liegt der Autobesitz dort mit 517 Wagen pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner ähnlich hoch wie in Deutschland (575 Pkw pro 1.000 Einwohner). Allerdings werden hierzulande 57 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt, während es dort mit 43 Prozent deutlich weniger sind. Das ist kein Zufall. Die Entscheidung für das Rad oder das Auto trifft zwar jeder individuell – aber die Infrastruktur beeinflusst die Wahl. Die niederländischen Verkehrsplanerinnen und -planer kombinieren Infrastruktur und Psychologie, um nachhaltige Verkehrsmittel im Alltag zu fördern.

Das beginnt beim Bau von Wohnungen. In den Niederlanden werden Neubaugebiete an das Radnetz und den Bus- und Bahnverkehr angeschlossen, noch bevor die ersten Bewohnerinnen und Bewohner ihre Umzugskartons auspacken. "Das ist nirgendwo niedergeschrieben, das ist in unserer Verkehrsplanung selbstverständlich", sagt der niederländische Mobilitätsexperte Bernhard Ensink vom Beratungsunternehmen Mobycon. Die Verkehrsplaner wissen: Lebensumbrüche wie die Geburt von Kindern oder eben ein Umzug sind gute Gelegenheiten, um eingefahrene Gewohnheiten wie das Mobilitätsverhalten zu ändern. Die Bereitschaft, etwas Neues auszuprobieren, ist in diesen Momenten besonders groß. Um das zu nutzen, müssen allerdings die Voraussetzungen attraktiv sein, um das Auto stehenzulassen und ein anderes Verkehrsmittel zu nutzen.

Das gilt auch für das neue Wohngebiet Leidsche Rijn am westlichen Rand von Utrecht. Rund 43.000 Menschen sind in den vergangenen gut 20 Jahren hierhergezogen. Für die kurzen Wege innerhalb des Quartiers sollen die Zugezogenen kein Auto brauchen. In Neubaugebieten werden Ortskerne mit Cafés, Restaurants und Discountern angelegt, damit die Anwohner in Laufnähe alles finden, was sie im Alltag brauchen. Auch die Bus- und Tram-Haltestellen, die alle zehn bis 15 Minuten angefahren werden.

Der Straßenbelag signalisiert das Tempo

Die Radwege in dem neuen Quartier haben den typischen Niederlande-Standard, wie man in einem Video sehen kann: Sie sind breit und von der zweispurigen Straße und den Parkplätzen durch einen Grünstreifen sicher getrennt. "Das ist an allen Straßen so, wenn die Autos 50 Stundenkilometer fahren dürfen", sagt Ensink. Der Grundgedanke sei: Die Infrastruktur müsse Fehler verzeihen. "Ein Fehler im Straßenverkehr darf für Radfahrer und Fußgänger nicht sofort tödlich enden", sagt der Mobilitätsexperte. Dieser Ansatz ist Teil des "Sustainable Safety"-Konzepts, das die Regierung 1998 einführte und null Tote im Straßenverkehr zum Ziel hat. Mit dem Konzept wurde eine neue Straßenhierarchie eingeführt. Seitdem wird Verkehr ab Tempo 50 konsequent getrennt. Ist die Geschwindigkeit niedriger, teilen sich alle Verkehrsmittel die Fahrbahn.

Dabei überlassen die Niederländer nichts dem Zufall. Der Wechsel von einer Hauptverkehrsstraße in eine Seitenstraße muss für alle Verkehrsteilnehmer sofort spürbar sein. Um das sicherzustellen, ändert sich der Straßenbelag, sobald in eine Tempo-30-Zone oder eine Wohnstraße gewechselt wird. Statt glattem Asphalt sind hier Pflastersteine verlegt. Beim Abbiegen verändert sich sofort das Fahrgefühl, die Rollgeräusche nehmen deutlich zu. "Das gefällt den Anwohnern zwar oft nicht, aber es drosselt das Tempo der Autos spürbar", sagt Ensink. Um die Geschwindigkeit konsequent zu verringern, verjüngen die Planerinnen zudem die Fahrbahn in den Wohngebieten mit Bäumen oder Grünbepflanzungen, und reduzieren die Geschwindigkeit weiter auf 15 bis 20 km/h.

Diese technischen und psychologischen Elemente nutzen die Niederländer auch, wenn sie Fahrradstraßen nachträglich einrichten. "Das Aufpflastern ist dann sehr teuer, aber es lohnt sich", sagt Ensink. Der Hinweis an die Autofahrer sei deutlich: Ihr seid hier nur zu Gast. In Deutschland werde das schnell übersehen, da nur das blau-weiße Verkehrszeichen die Fahrradstraße anzeige. Im Schilderwald am Straßenrand geht das schnell unter. Für Ensink ist deshalb die psychologische Komponente durch den Wechsel des Straßenbelags entscheidend. Für Radfahrer ist der Belag angenehm, ohne zum Rasen einzuladen.

Ohne Autos genügt Schwarmintelligenz

Gleichzeitig nehmen die Verkehrsplaner die Radfahrerinnen in den Niederlanden in die Pflicht. Wo besonders viele Fußgänger und Radfahrer ohne Autoverkehr unterwegs sind, setzen sie auf Schwarmintelligenz. Was Ensink damit meint, lässt sich gut in Amsterdams Vondelpark beobachten oder zur Rushhour am Hauptbahnhof. Auf dem breiten Radweg der Kaistraße De Ruijterkade schwirren die Pendler auf Fahrrädern, Rollern und kleinen E-Autos, die bis zu 25 km/h fahren dürfen, zügig aneinander vorbei. Der dichte Pulk erinnert tatsächlich an einen riesigen Schwarm von Staren, deren Flugmanöver perfekt aufeinander abgestimmt sind. Das funktioniert nur, weil jeder aufmerksam auf jeden achtet und Rücksicht nimmt.

"Das Verhalten aller Verkehrsteilnehmer wird durch die Gestaltung des öffentlichen Raums beeinflusst", sagt Ensink. "Wenn die Gefahr für Verletzungen gering ist, kann man den Fußgängern und Radfahrern die Freiheit geben und ihre Schwarmintelligenz nutzen", sagt er. Funktioniere es nicht, könne immer noch nachgesteuert werden. "Wenn dagegen die Unfallgefahr für Radfahrer und Fußgänger hoch ist, muss man sich trauen, die Verkehrssituation drastisch zu ändern, um ihre Sicherheit zu erhöhen", sagt Ensink. Der Platz, der dafür notwendig sei, müsse immer vom Autoverkehr kommen.

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Da sind uns die Niederlande einfach deutlich voraus! Wenn ich von Autos knapp überholt werde, dann erzeugt das immer ein Gefühl von Unsicherheit. Irgendwann streift mich dann ein Auto und ich mache den Abflug {...} Deshalb halte ich die Regelung aus den Niederlanden für absolut richtig: Auf Haupt-, Durchgangs- und Außerortsstraßen gibt es getrennte Fahrbahnen; auf allen anderen Straßen innerorts ist die Geschwindigkeitsdifferenz klein und alle Fahrzeuge teilen sich die Fahrbahn. Deshalb sollte grundsätzlich bei jedem Neubau , Ausbau oder der grundlegenden Sanierung einer Straße (>50km/h) ein Bau eines Radwegs zur Pflicht gemacht werden. Und innerorts muss bei engen Platzverhältnissen auf den Durchgangs- oder Hauptstraßen auch mal eine Spur für Autos zugunsten getrennter Radwege geopfert werden.