„Auch Menschen über 70 haben Grundrechte“

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Psyche und Gesundheit

„Auch Menschen über 70 haben Grundrechte“

Hier spricht die Risikogruppe: Barbara Stolterfoht ist 80 Jahre alt, schwer krank und will sich nicht in Quarantäne wegsperren lassen. Trotzdem wäre sie bereit, ihre Kontakte länger einzuschränken – unter einer Bedingung.

Profilbild von Ein Protokoll von Esther Göbel

Barbara Stolterfoht ist Mitglied der SPD, in den 1980er Jahren war sie Gesundheitsreferentin und Kommunalpolitikerin, später erste Frauenbeauftragte in Kassel, in den Neunzigern hessische Staatsministerin für Frauen, Arbeit und Sozialordnung.


Ich habe als Politikerin in meinem Leben viel gestaltet, mich vor allem für die Frauen eingesetzt. Und ich habe mich immer als Teil dieser Gesellschaft betrachtet. Bis jetzt.

Im vergangenen Jahr dachte ich nicht, dass ich die 80 Jahre noch schaffen würde. Ich leide an einer unheilbaren Krankheit; welche genau, geht niemanden etwas an. Aber ich werde an ihr sterben. Meinen runden Geburtstag wollte ich deswegen umso mehr feiern. Ich hatte schon alles geplant: rund 80 Menschen aus meinem ganzen Leben eingeladen, einen Saal gebucht, das Buffet ausgesucht. Meine erwachsenen Kinder hätten fürs Programm gesorgt. Meine Tochter ist ein Chanson-Fan, bestimmt hätte sie etwas gesungen, mein Sohn arbeitet hauptberuflich als Gitarrist. Und dann habe ich noch einen Stiefbruder, der macht Kirchenkabarett. Ach, es wäre sicher toll geworden!

Doch dann fiel das ganze Fest wegen des Coronavirus ins Wasser. Keine Feier, keine Gäste. Immerhin konnte ich den Geburtstag mit meiner Tochter an der Ostsee verbringen, ein kleiner Ausflug. Ich lebe in Berlin, allein. Jeden Tag mache ich einen großen Spaziergang durch Mitte – ohne Mundschutz. Angst, dass ich mich mit dem neuartigen Virus anstecken könnte, habe ich nicht. Ich laufe einfach einen Bogen, wenn mir jemand entgegenkommt. Aber eine andere Sache macht mir Angst.

Was für eine dumm-dreiste Äußerung!

Wegen meines Alters und meiner Erkrankung werde ich seit ein paar Wochen von Experten, Politikerinnen und Medien klassifiziert; ich bin jetzt „Risikogruppe“. Ich war fassungslos, als ich in den Abendnachrichten hörte, wie die Berliner Senatorin für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung Dilek Kalayci sich zu möglichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus äußerte: „Ich würde jetzt sagen, es ist wirklich der richtige Zeitpunkt, alle älteren Menschen in die Quarantäne zu nehmen. Alle Über-Siebzigjährigen in Quarantäne! Und, das ist das Einzige, was wirklich hilft, ja. Einfach in Quarantäne nehmen!“

Für mich klang das nach Zwangsmaßnahme; was für eine dumm-dreiste Äußerung! Auch wenn Frau Kalayci diese Worte ein paar Tage später relativierte und in einem Interview mit dem Tagesspiegel als Sorge um die älteren Menschen umformulierte: Ich habe mich durch das genannte Zitat persönlich bedroht gefühlt, auf einen Schlag nicht mehr dieser Gesellschaft zugehörig. Sondern verbal ausgegrenzt, lästig geredet.

Nach den Abendnachrichten rief ich sofort eine gute Freundin von mir an, die ebenso erbost war wie ich. Wir haben zusammen beschlossen, dass jede von uns einen Brief an die Gesundheitssenatorin schreibt. Warum? Weil auch Menschen über 70 Grundrechte haben. Wir sind genauso Bürgerinnen und Bürger dieses Landes wie jüngere Menschen.

Wieso eigentlich alle Über-70-Jährigen? Wieso diese Grenze?

Wir sind alt, ja, und manche sind krank. Aber man kann nicht einfach in einem solchen Ton darüber nachdenken, eine ganze Bevölkerungsgruppe wegzusperren. Das geht nicht. Für mich würde das unsere demokratischen Werte verraten.

Außerdem frage ich mich: Wieso alle Menschen über 70? Wie kommt diese Grenze zustande? Es gibt Über-70-Jährige, die noch Marathon laufen oder jeden Tag ihre Enkel versorgen – und es gibt Menschen Mitte 60, die können keinen Schritt mehr geradeaus gehen. Ist die Marke „über 70“ nicht sehr willkürlich? Mir erschließt sie sich nicht.

Man sollte auch nicht vergessen: Die Älteren, die jetzt älter als 70 sind, bilden eine Generation, in der ungewöhnlich viele Menschen Verantwortung getragen haben, als sie jünger waren. Die 68er und Nach-68er haben die Bundesrepublik mit umgekrempelt und modernisiert. Wenn man denen mit Zwangsmaßnahmen droht, wird man nicht viel Freude mit ihnen haben. Die wehren sich!

Ich kann von Glück sagen: Ich gehöre noch zu jenen Alten, die es gut haben: Ich lebe zwar allein, aber in einer schönen großen Wohnung, sogar mit Dachterrasse. Ich habe viele Freundinnen und Freunde, Enkel, erwachsene Kinder. Trotz Kontaktsperre kommuniziere ich viel, über Telefon, SMS, E-Mail oder WhatsApp. Aber viele Alte sind nicht fit in diesen Dingen – und was machen die, die ganz allein, ohne soziale Kontakte, in einer kleinen Wohnung hocken?

Wir brauchen spezielle Konzepte für die Älteren

Wie organisieren wir die Situation am besten so, dass alle, die es brauchen, geschützt werden, und die anderen möglichst normal ihrem Alltag nachgehen können? Diese Frage muss erlaubt sein. Natürlich. Wir brauchen einen kommunikativen Verhandlungsspielraum, eine öffentliche Debatte. Aber der Ton macht die Musik. Der Gesundheitsminister hat es beispielsweise in einem Interview mit der Zeit so formuliert: „Wir brauchen Konzepte, die speziell auf Ältere und chronisch Kranke zugeschnitten sind. Wenn wir sie schützen, können wir gleichzeitig an anderen Stellen wieder normales Alltagsleben ermöglichen. Wir werden die Alten also möglicherweise über mehrere Monate bitten müssen, ihre Kontakte einzuschränken, und im Zweifel zuhause zu bleiben.“

Ich bin mir sicher: Wenn man in einem respektvollen Ton an die Alten appellieren würde, an deren Vernunft, wären viele bereit, ihre Kontakte einzuschränken. Aus dem nötigen Verantwortungsgefühl heraus. Aber keine Zwangsmaßnahme, bitte! Außerdem braucht es tatsächlich spezielle Konzepte. Die Alten einfach vereinsamen zu lassen, fände ich unverantwortlich.

Ich habe Angst, allein sterben zu müssen

Corona hat mein Denken über das Sterben verändert. Ich habe jetzt wieder Angst davor. Dabei hatte ich mich mit dem Tod bereits abgefunden, mich aufs Sterben vorbereitet: Ich bin in einem Hospiz angemeldet, habe eine gute palliativmedizinische Betreuung. Aber sollte die monatelange Quarantäne für die Alten wirklich kommen, und sollte sich die Pandemie hierzulande so entwickeln wie anderenorts, den Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems inklusive, dann würden diese Pläne nicht mehr gelten. Für uns Alte würde es bei einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems im Behandlungsfall eventuell keinen Platz im Krankenhaus geben.

Ich habe Angst davor, allein sterben zu müssen, dazu auch noch ohne medizinischen Beistand. Dabei hatte ich gehofft, im Kreise meiner Lieben mein Leben beenden zu können.


In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de


Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Philipp Daum und Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel