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Syrerinnen in Jordanien: Gekommen, um zu bleiben

Foto: Adam Pretty/ Getty Images

Syrerinnen in Jordanien Flucht in Arbeit

Hunderttausende Syrerinnen sind in den letzten Jahren nach Jordanien geflohen. Dort finden die Frauen nur selten Arbeit - aber wenn, dann profitieren alle: Wirtschaft, Gesellschaft und sie selbst. Drei Beispiele.
Aus Irbid und Amman berichten Christoph Sydow und Philipp Breu (Fotos)

Safaa Sukkariahs Weg zum eigenen Unternehmen begann mit einem Missverständnis: Sie dachte, bei dem Workshop im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari würde es darum gehen, Netze zu flechten. Stattdessen lernte sie, leckende Wasserhähne zu reparieren und verstopfte Leitungen frei zu machen. Die arabischen Wörter für Netz und Klempnerarbeiten sehen fast gleich aus - deshalb landete Frau Sukkariah mit Anfang 40 in einem Sanitär-Lehrgang.

In ihrer Heimat Syrien hatte die Frau einst Kunst studiert und nie etwas mit der Klempnerei zu tun. 2012 musste sie vor dem Krieg aus Ost-Ghuta am Rande von Damaskus fliehen. Seither lebt sie in Jordanien.

2015 absolvierte sie den Workshop, hatte Spaß an der handwerklichen Arbeit und entdeckte eine Marktlücke: Viele Frauen waren ohne ihre Ehemänner aus Syrien geflüchtet. In den konservativen Gesellschaften Syriens und Jordaniens ist es für die meisten alleinstehenden Frauen undenkbar, einen fremden Mann für Handwerkerarbeiten ins Haus zu lassen - also müssen Frauen wie Sukkariah ran.

Safaa Sukkariah flüchtete 2012 vor dem Krieg aus Syrien nach Jordanien

Safaa Sukkariah flüchtete 2012 vor dem Krieg aus Syrien nach Jordanien

Foto: Philipp Breu

Ihre ersten Kunden kamen über Hilfsorganisationen, die sich um alleinstehende Frauen kümmern. "Die ersten Aufträge erledigte ich kostenlos, um zu üben", sagt die Klempnerin stolz. "Dann nahm ich Geld für die Anfahrt. Jetzt stelle ich Rechnungen."

Inzwischen führt Sukkariah ihr eigenes Unternehmen mit zwei Teams in den nordjordanischen Städten Irbid und Mafraq. Sie beschäftigt drei festangestellte und 17 freiberufliche Angestellte - ausschließlich Frauen, und fast alle sind geflüchtete Syrerinnen. Viele von ihnen waren erst Kundinnen und haben dann Interesse am Klempnerberuf bekommen. Die Auftragslage ist glänzend, ständig vibriert ihr Smartphone, kommen Anfragen rein.

Sukkariah bildet ihre Mitarbeiterinnen selbst aus. Die Ausbildung dauert drei Monate und ist kostenlos. Sie erhält Unterstützung von der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und von "Shamal Start", einer Initiative, die Unternehmensgründer in Nordjordanien unterstützt. Während sich der jordanische Staat vornehmlich um die Integration der Männer in den Arbeitsmarkt kümmert, sind es hauptsächlich Entwicklungshilfsorganisationen aus dem In- und Ausland, die sich um die Integration der Frauen kümmern.

Hunderttausende Syrer werden auf absehbare Zeit in Jordanien bleiben

Sukkariahs Unternehmen ist eine seltene Erfolgsgeschichte in Jordanien: Mehr als 650.000 syrische Flüchtlinge sind nach Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR noch immer im Land registriert. Auch wenn in großen Teilen Syriens nicht mehr gekämpft wird, will kaum jemand zurückkehren.

Zu groß ist die Angst vor dem Assad-Regime. Seit knapp einem Jahr ist die Grenze zwischen beiden Ländern wieder offen, seither sind jedoch nur rund 20.000 Flüchtlinge nach Syrien zurückgekehrt - auch wenn die Lebensbedingungen für sie in Jordanien hart sind.

Der jordanisch-syrische Grenzübergang Jaber: Seit vergangenem Jahr ist die Grenze zwischen beiden Staaten wieder offen

Der jordanisch-syrische Grenzübergang Jaber: Seit vergangenem Jahr ist die Grenze zwischen beiden Staaten wieder offen

Foto: Philipp Breu

In einer UNHCR-Umfrage vom November vergangenen Jahres gab jeder vierte Flüchtling an, er wolle nie mehr nach Syrien zurückkehren. Deshalb setzt sich in Jordanien langsam die Erkenntnis durch: Hunderttausende Flüchtlinge und ihre Nachfahren werden auf absehbare Zeit im Königreich bleiben - und müssen also in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integriert werden.

Das klappt in Jordanien bisher besser als etwa in der Türkei oder im Libanon. Anders als in der Türkei gibt es in Jordanien für die Flüchtlinge keine Sprachbarriere, anders als der Libanon ist Jordanien ein stabiler Staat. Die Syrer werden in Jordanien zwar nicht geliebt, aber immerhin akzeptiert. Es gab bisher keine Versuche der Regierung in Amman, sie nach Syrien zurückzuschicken.

Rund 300.000 Flüchtlinge in Jordanien sind laut UNHCR-Statistiken im arbeitsfähigen Alter. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen besitzt eine Arbeitserlaubnis. Syrer, die auf dem Bau oder in der Landwirtschaft arbeiten wollen, bekommen unbürokratisch eine Arbeitserlaubnis. In vielen weiteren Sektoren sieht das anders aus: Jobs als Ingenieure, Kfz-Mechaniker oder Lehrer sind per Gesetz ausschließlich Jordaniern vorbehalten.

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist frappierend: Mehr als 146.000 syrische Männer besitzen eine Arbeitserlaubnis - aber nur rund 7000 syrische Frauen. Das liegt zum einen an den Ehemännern, die nicht wollen, dass ihre Ehefrauen arbeiten. Das liegt zum anderen daran, dass die meisten Mütter niemanden haben, der während der Arbeitszeit ihre Kinder hütet.

Drei Stunden Hinfahrt, acht Stunden Arbeit, drei Stunden Rückfahrt

Das hielt auch Faten Tahhan, 36, lange von der Arbeit ab. Sie war 2012 mit drei Kindern aus Homs nach Jordanien geflüchtet. Seit 2017, seitdem ihre Kinder alt genug sind, arbeitet sie als Näherin für die Jordan River Foundation in Amman. Die Hilfsorganisation stellt für Ikea allerhand Produkte her: von Kissenbezügen bis Schürzen.

Faten Tahhan

Faten Tahhan

Foto:

Philipp Breu

"Ich habe aus finanziellen Gründen angefangen zu arbeiten", erzählt Tahhan. "Das Leben in Jordanien wird immer teurer, und ich muss meine drei Kinder versorgen."

Auch sie ist eine Quereinsteigerin: In Syrien hatte sie einst Kindergärtnerin gelernt, dann aber nie in dem Beruf gearbeitet. Trotzdem setzt sie sich hohe Ziele: "Ich bin Perfektionistin und will immer besser werden", erzählt Tahhan. "Ich will in dem, was ich tue, genauso gut werden wie die Kollegin neben mir, die seit 30 Jahren als Näherin arbeitet."

Rund 50 Frauen arbeiten in einem unscheinbaren, mehrstöckigen Haus im Stadtteil Jabal al-Nathif in Amman an den Ikea-Kollektionen. Etwa 15 von ihnen sind Syrerinnen. Sie verdienen pro Monat mindestens 220 Jordanische Dinar - umgerechnet rund 280 Euro. Darüber hinaus werden sie danach bezahlt, wie viele Teile sie produzieren. So kommen manche Frauen auf 400 bis 500 Dinar pro Monat. Zum Vergleich: Ein Lehrer verdient in Jordanien monatlich im Schnitt 400 Dinar.

Näherei in Amman: Hier arbeiten jordanische und syrische Frauen gemeinsam

Näherei in Amman: Hier arbeiten jordanische und syrische Frauen gemeinsam

Foto: Philipp Breu

Entsprechend lukrativ sind die Arbeitsplätze in der Näherei - auch wenn es eng ist und laut. Und entsprechenden Aufwand betreiben manche Frauen für den Job. Raja Ahmad al-Balbisi etwa steht jeden Morgen um 5.15 Uhr im Flüchtlingslager Zaatari auf. Dann fährt sie mit dem Bus ins 80 Kilometer entfernte Amman. Zwischendurch muss sie dreimal umsteigen. Sie braucht für jeden Weg mindestens drei Stunden. Fünf Mal die Woche macht sie das.

"Handarbeit war schon immer meine Leidenschaft", erzählt Balbisi. Doch nicht nur das gefalle ihr am Job: "Die Kolleginnen sind wie meine Familie. Wir unterstützen uns gegenseitig und helfen einander." Weder Kolleginnen noch Chefs machten Unterschiede zwischen Jordanierinnen und Syrerinnen. Alle würden gleichermaßen akzeptiert, erzählt Balbisi.

200.000 Teile haben Tahhan, Balbisi und ihre Kolleginnen seit 2017 produziert. Die Nachfrage ist gewaltig, bald kommt die vierte Kollektion auf den Markt.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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