Herbstzeit ist Event-Zeit. In meinem Postfach stapeln sich Einladungen zu allen möglichen Veranstaltungen, und gefühlt jede zweite davon hat irgendwas mit „Digitalisierung“ im Titel. Das hat fast schon etwas von Wort-Durchfall. Kürzlich hielt ich selbst einen Vortrag und lieferte dem Veranstalter mein Abstract ab. Er schrieb mir zurück: „Bitte verwenden Sie das Wort ‚Digitalisierung‘ im Titel.“ Darauf ich: „Aber mein Vortrag hat nichts mit Digitalisierung zu tun.“ Darauf er: „Aber das kennen die Leute.“ Auf dem Niveau sind wir inzwischen unterwegs, was Digitalisierung angeht. Grausam. Und das auch noch völlig ungerechtfertigt. Denn die Digitalisierung an sich ist eher unwichtig.
Hoffnungslos überbewertet
Stellen Sie sich vor, Sie besuchen ein Heimspiel Ihres Fußballvereins. Das Spiel ist großartig: Kampf, Drama, und am Ende ein glücklicher Sieg für Ihre Mannschaft. So richtig packend. Worauf werden Sie sich wohl konzentrieren, wenn Sie einem Freund davon erzählen: auf das packende Spiel oder auf die Frage, ob Sie mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit dem Auto hingekommen sind? Die Antwort ist offensichtlich. Die Hauptsache ist wichtig und berichtenswert. Nebensachen sollten Nebensachen bleiben. Und Digitalisierung ist eine Nebensache.
Das ist vielleicht schwer zu glauben bei dem ganzen Wind, der seit Jahren gemacht wird. Aber Digitalisierung ist wie ein Fahrrad oder Auto, mit dem Sie von A nach B kommen. Ein Werkzeug, ein Hilfsmittel. Mehr nicht. Digitalisierung sollte nie um ihrer selbst willen angepackt werden – „weil es jeder macht“ oder weil der „Harvard Business Manager“ irgendeine Technik als besonders fancy anpreist. In diesem Sinne wird die Digitalisierung wahnsinnig überhöht, schon allein deshalb, weil es für alle Beteiligten eine Win-win-Situation ist: Die Unternehmen können sich fortschrittlich zeigen, die Berater ihre hippen Modelle verkaufen, die Magazine werfen alle paar Monate einen neuen Trend auf den Markt und die Veranstalter kriegen ihre Events voll. Ein perfekter Verstärker-Zirkel.
Es gibt keine Digitale Transformation
Würde ich jedes Mal, wenn ich in der Presse das Begriffspaar Digitale Transformation lesen, einen Cent bekommen, wäre ich heute vermutlich steinreich. Keine Phrase wird im Zusammenhang mit der Digitalisierung so ausgewalzt wie die angebliche Digitale Transformation. Dabei gibt es sie gar nicht. Lassen Sie mich kurz erklären, warum.
Erstens können wir nicht von einer digitalen Transformation, sondern von einer gesellschaftlichen Transformation sprechen. Echte technische Revolutionen wie Smartphones oder GPS verändern automatisch auch unser Denken, Fühlen und Verhalten. Oder haben Sie noch alle Ihre wichtigen Telefonnummern im Kopf? Planen Sie noch Ihre Route mit einer Papierkarte und prägen sie sich ein? Eben. Digitalisierung verändert durch massenhaft neues Verhalten das kollektive Unbewusste und ist daher in erster Linie eine psychologische Transformation.
Zweitens ist der Begriff Transformation falsch. Eine Transformation beginnt zum Zeitpunkt X und ist zum Zeitpunkt Y abgeschlossen. Die Digitalisierung wird nie abgeschlossen sein, weder im gesellschaftlichen noch im wirtschaftlichen Bereich. Sie ist auch kein konstanter Prozess, sondern sprunghaft, erratisch, unvorhersagbar. Bitte streichen Sie daher Sätze aus Ihren Mails wie: „Unser Unternehmen hat die digitale Transformation erfolgreich abgeschlossen.“ Tut mir leid, aber damit machen Sie sich nur lächerlich.
Die drei Regeln der Digitalisierung
Digitalisierung als Begriff ist heute bis zur Unbrauchbarkeit verschwommen; auch Auswüchse wie die Digitale Transformation können wir zu den Akten legen. Hype Cycles zu digitalen Themen sind zwar unterhaltsam, bringen Sie aber in Ihrer Unternehmensentwicklung nicht weiter. Wie können Sie also gewinnbringend mit dem Thema Digitalisierung umgehen? Dazu möchte ich Ihnen drei Regeln mit auf den Weg geben:
#1 Customer first, technology second
Der Kunde bezahlt die Gehälter Ihrer Mannschaft. Daher sollten Sie ganz nah an ihn ran und sich fragen: Unterstützen meine Vorstellungen von Digitalisierung seine Bedürfnisse? Was brauche ich technisch, und was brauche ich nicht? Es muss nicht immer eine trendige App sein.
#2 Business first, technology second
Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Wenn Sie sich mit der Digitalisierung beschäftigen, lassen Sie sich nicht von Hypes anstecken, sondern betrachten Sie die Digitalisierung als Werkzeug: Stützt Sie mein Geschäftsmodell? Brauche ich das wirklich? Ist der Output meine Investition wert?
#3 People first, technology second
In einer Zeit, in der Wissen praktisch umsonst zu haben ist und digitale Werkzeuge immer mächtiger werden, liegt Ihr Wettbewerbsvorteil in hohem Maße in der Qualifikation und der Kreativität Ihrer Mitarbeiter. Investieren Sie daher zuerst in Ihre Mitarbeiter und deren Wertschöpfung, bevor Sie auf den nächsten Hype Cycle der Digitalisierung aufspringen.
Fazit: Lassen Sie die Kirche im Dorf, den gesunden Menschenverstand ans Ruder und den nächsten Kongress ruhig links liegen. Dann klappt’s auch mit der Digitalisierung.