Aufgezeichnet von: Wlada Kolosowa
Ich war überglücklich, als ich meinen ersten festen
Job bekam – auch wenn ich bei einer Viertagewoche nur 960 Euro brutto im Monat
verdiente. Vor vier Jahren gab es ja noch keinen Mindestlohn. Ich war damals
25. Als junge Schriftstellerin brauchte ich eigentlich einen Nebenjob, der mein
Leben finanziert. Aber die Stelle hörte sich spannend an und nach viel
Verantwortung: "Country Manager Frankreich" für ein Berliner Kunst-Start-up. Die
Anforderungen waren hoch: Französisch-, Englisch- und Deutschkenntnisse waren gefragt, ein
Masterabschluss im Kunstbereich und praktische Erfahrungen im Kunstbetrieb
sollte man auch schon gesammelt haben. Das alles traf auf mich zu: Bevor ich
nach Berlin gezogen war, hatte ich in Frankreich zwei Masterabschlüsse gemacht:
Einen in Philosophie, einen in zeitgenössischer Kunst, nebenbei hatte ich in Galerien gearbeitet.
Im Vorstellungsgespräch über Skype wurde mir erzählt,
dass ich viel reisen und das Pariser Büro des Start-ups aufbauen würde.
Stattdessen saß ich von meinem ersten Tag an in einem sehr weißen, sehr großen
Raum in Berlin neben vierzehn anderen "Country Managern". Wir alle tippten von
morgens bis abends Daten in Exceltabellen: Name des Kunstsammlers, Standort
und Bestand seiner Kollektion und so weiter. "Country Manager China" machte
dasselbe für den chinesischen Kunstmarkt, "Country Manager UK" für den
britischen. Jeder Praktikant, der die notwendige Sprache sprach und etwas
recherchieren konnte, hätte unseren Job machen können. Wer am Ende am meisten
Daten eingegeben hatte, bekam einen
100-Euro-Amazon-Gutschein.
Als die chinesische Kollegin ihn gewann, sagte die für uns verantwortliche Kollegin: "Das wundert mich nicht. Ihr Chinesen arbeitet doch alle wie
Roboter." Zwei Tage später kündigte ich. Nach nur drei Wochen bei diesem
Start-up war ich unendlich gelangweilt und unterfordert. Zwei Monate später
wurden alle meine Kollegen gefeuert, niemand von ihnen hatte etwas davon
geahnt. Soweit ich weiß, sitzt das Start-up inzwischen in Hong Kong. Somit
gerieten schon bei meinem ersten festen Job gleich mehrere Versprechen für mich
ins Wanken, mit denen Start-ups junge Menschen wie mich locken. In den fünf
Jahren, in denen ich in Berlin für insgesamt zwölf Start-ups arbeitete, blieb
kaum etwas übrig von dem Glauben an die schöne neue Start-up-Welt. Ein paar
Beispiele:
Lüge 1: Flache Hierarchien und Eigenverantwortung
Für acht Berliner Start-ups arbeitete ich als
Freelancer von zu Hause aus, bei den vier anderen ging ich morgens ins Büro.
Meistens waren es schön eingerichtete Großraumbüros, die man aber nicht
Großraumbüro nannte, sondern Open Spaces. Die Männer mussten keinen Anzug
tragen, man konnte den Chef duzen und mit ihm Kicker spielen. Aber das Versprechen,
dass wir gemeinsam und gleichberechtigt an einem Projekt arbeiten, ging nicht
auf. In meiner Erfahrung waren Angestellte genauso austauschbare Rädchen im
Getriebe wie in herkömmlichen Unternehmen, nur dass ihre Berufsbezeichnungen
aufregender klangen. Ich habe als "Content Manager", "Country Manager" und
"People Manager" gearbeitet und letztendlich jedes Mal monotone
Praktikantenaufgaben gemacht. In einem Start-up, das im Internet Möbel mit
skandinavischem Design verkaufte, habe ich zum Beispiel Produktbeschreibungen oder Newsletter übersetzt. Eigeninitiative war nicht
gefragt. Schlug ich vor, einen Blog zu starten, oder eine Social-Media-Kampagne
zu machen, hieß es oft: "Gute Idee! Frage mal den Manager." Er antwortete mir
nie.
Lüge 2: Junge Menschen bekommen bei Start-ups die Chance, die Welt zu verändern.
Für einige wenige Start-ups mag es stimmen, dass sie
ein Produkt entwickeln, das die Welt verbessert. Ein gutes Beispiel aus Berlin
ist Betterplace.org – eine Crowdfunding-Plattform für soziale Projekte. Aber ein großer Teil der Berliner Start-ups macht weder etwas Gutes noch etwas
Bahnbrechendes, sondern E-Commerce. Das erfolgreichste Unternehmen in Berlin,
das als Start-up angefangen hat, ist Zalando. Hauptgeschäft: Klamotten verkaufen.
Ich weiß nicht, was daran revolutionär sein soll – genauso wenig wie bei den
zig Start-ups, die Essen nach Hause liefern, oder Schminke, Parfüms und Windeln
verschicken.
Lüge 3: Wir sind eine Familie
Das Möbel-Start-up, für das ich arbeitete, hatte ein wunderschönes Büro in Berlin-Kreuzberg. Es gab einen Kühlschrank, der immer voll mit Obst, Snacks und Bier war. Mittags gab es umsonst leckeren Lunch (auch mit veganer Option), freitags Freigetränke für alle, einmal im Monat führte der CEO das ganze Team ins Restaurant aus. In den ersten Tagen schien es mir wie das Paradies. Aber dann merkte ich, dass so gut wie alle meine Kollegen die Mittagspausen mit ihrem Gratisessen neben der Tastatur verbrachten – und ihre Freizeit miteinander. Die Firmenevents waren nicht verpflichtend, aber da alle hingingen, hatte man keine Wahl. Mein Unternehmen war, wenn kein Big Brother, dann sicherlich eine Big Mother, die mich mit Essen versorgte, bestimmte, wann und mit wem ich spielte, und mir Gutscheine und Kuchen zum Geburtstag schenkte.
Die ganzen Gratisleistungen machten es jedoch
schwierig, Kritik am Unternehmen zu üben. Oder die Kollegen (und sich selbst)
zu fragen: Was nutzen uns Gratis-Sushi und
Kickertisch, wenn wir ausgebeutet werden? Wir alle hatten kurze, unsichere
Verträgen mit wenig Chancen auf Aufstieg. Im Restaurant sagte der CEO
oft: "Wir sind eine große Familie." Aber gleichzeitig
mussten sich alle Angestellten, alle "Brüder und Schwestern", gegenseitig für
ihre Präsentationen oder Arbeitsperformance bewerten. Was ist das für eine
Freundschaft, bei der man ständig fürchten muss, schlechte Noten von seinem
Kumpel zu bekommen? Und vom Familiengefühl blieb auch nicht viel übrig, als
herauskam, dass das Berliner Büro schließen muss und alle gefeuert werden. Bei seinen
Familienansprachen hatte der CEO monatelang verschwiegen, dass es dem
Unternehmen richtig schlecht ging.
Aufgezeichnet von: Wlada Kolosowa
Ich war überglücklich, als ich meinen ersten festen
Job bekam – auch wenn ich bei einer Viertagewoche nur 960 Euro brutto im Monat
verdiente. Vor vier Jahren gab es ja noch keinen Mindestlohn. Ich war damals
25. Als junge Schriftstellerin brauchte ich eigentlich einen Nebenjob, der mein
Leben finanziert. Aber die Stelle hörte sich spannend an und nach viel
Verantwortung: "Country Manager Frankreich" für ein Berliner Kunst-Start-up. Die
Anforderungen waren hoch: Französisch-, Englisch- und Deutschkenntnisse waren gefragt, ein
Masterabschluss im Kunstbereich und praktische Erfahrungen im Kunstbetrieb
sollte man auch schon gesammelt haben. Das alles traf auf mich zu: Bevor ich
nach Berlin gezogen war, hatte ich in Frankreich zwei Masterabschlüsse gemacht:
Einen in Philosophie, einen in zeitgenössischer Kunst, nebenbei hatte ich in Galerien gearbeitet.