Aufgezeichnet von: Wlada Kolosowa

Ich war überglücklich, als ich meinen ersten festen Job bekam – auch wenn ich bei einer Viertagewoche nur 960 Euro brutto im Monat verdiente. Vor vier Jahren gab es ja noch keinen Mindestlohn. Ich war damals 25. Als junge Schriftstellerin brauchte ich eigentlich einen Nebenjob, der mein Leben finanziert. Aber die Stelle hörte sich spannend an und nach viel Verantwortung: "Country Manager Frankreich" für ein Berliner Kunst-Start-up. Die Anforderungen waren hoch: Französisch-, Englisch- und Deutschkenntnisse waren gefragt, ein Masterabschluss im Kunstbereich und praktische Erfahrungen im Kunstbetrieb sollte man auch schon gesammelt haben. Das alles traf auf mich zu: Bevor ich nach Berlin gezogen war, hatte ich in Frankreich zwei Masterabschlüsse gemacht: Einen in Philosophie, einen in zeitgenössischer Kunst, nebenbei hatte ich in Galerien gearbeitet.

In ihrem Buch "Bienvenue dans la nouvelle monde" erzählt die französische Autorin Mathilde Ramadier, 29, über ihre Erfahrungen in der Berliner Gründerszene. Ihre Warnung: Die Versprechen der Start-ups sind oft nur heiße Luft. © Interforum Editis

Im Vorstellungsgespräch über Skype wurde mir erzählt, dass ich viel reisen und das Pariser Büro des Start-ups aufbauen würde. Stattdessen saß ich von meinem ersten Tag an in einem sehr weißen, sehr großen Raum in Berlin neben vierzehn anderen "Country Managern". Wir alle tippten von morgens bis abends Daten in Exceltabellen: Name des Kunstsammlers, Standort und Bestand seiner Kollektion und so weiter. "Country Manager China" machte dasselbe für den chinesischen Kunstmarkt, "Country Manager UK" für den britischen. Jeder Praktikant, der die notwendige Sprache sprach und etwas recherchieren konnte, hätte unseren Job machen können. Wer am Ende am meisten Daten eingegeben hatte, bekam einen 100-Euro-Amazon-Gutschein.

Als die chinesische Kollegin ihn gewann, sagte die für uns verantwortliche Kollegin: "Das wundert mich nicht. Ihr Chinesen arbeitet doch alle wie Roboter." Zwei Tage später kündigte ich. Nach nur drei Wochen bei diesem Start-up war ich unendlich gelangweilt und unterfordert. Zwei Monate später wurden alle meine Kollegen gefeuert, niemand von ihnen hatte etwas davon geahnt. Soweit ich weiß, sitzt das Start-up inzwischen in Hong Kong. Somit gerieten schon bei meinem ersten festen Job gleich mehrere Versprechen für mich ins Wanken, mit denen Start-ups junge Menschen wie mich locken. In den fünf Jahren, in denen ich in Berlin für insgesamt zwölf Start-ups arbeitete, blieb kaum etwas übrig von dem Glauben an die schöne neue Start-up-Welt. Ein paar Beispiele:

Lüge 1: Flache Hierarchien und Eigenverantwortung

Für acht Berliner Start-ups arbeitete ich als Freelancer von zu Hause aus, bei den vier anderen ging ich morgens ins Büro. Meistens waren es schön eingerichtete Großraumbüros, die man aber nicht Großraumbüro nannte, sondern Open Spaces. Die Männer mussten keinen Anzug tragen, man konnte den Chef duzen und mit ihm Kicker spielen. Aber das Versprechen, dass wir gemeinsam und gleichberechtigt an einem Projekt arbeiten, ging nicht auf. In meiner Erfahrung waren Angestellte genauso austauschbare Rädchen im Getriebe wie in herkömmlichen Unternehmen, nur dass ihre Berufsbezeichnungen aufregender klangen. Ich habe als "Content Manager", "Country Manager" und "People Manager" gearbeitet und letztendlich jedes Mal monotone Praktikantenaufgaben gemacht. In einem Start-up, das im Internet Möbel mit skandinavischem Design verkaufte, habe ich zum Beispiel Produktbeschreibungen oder Newsletter übersetzt. Eigeninitiative war nicht gefragt. Schlug ich vor, einen Blog zu starten, oder eine Social-Media-Kampagne zu machen, hieß es oft: "Gute Idee! Frage mal den Manager." Er antwortete mir nie.

Lüge 2: Junge Menschen bekommen bei Start-ups die Chance, die Welt zu verändern.

Für einige wenige Start-ups mag es stimmen, dass sie ein Produkt entwickeln, das die Welt verbessert. Ein gutes Beispiel aus Berlin ist Betterplace.org – eine Crowdfunding-Plattform für soziale Projekte. Aber ein großer Teil der Berliner Start-ups macht weder etwas Gutes noch etwas Bahnbrechendes, sondern E-Commerce. Das erfolgreichste Unternehmen in Berlin, das als Start-up angefangen hat, ist Zalando. Hauptgeschäft: Klamotten verkaufen. Ich weiß nicht, was daran revolutionär sein soll – genauso wenig wie bei den zig Start-ups, die Essen nach Hause liefern, oder Schminke, Parfüms und Windeln verschicken.

Lüge 3: Wir sind eine Familie

Das Möbel-Start-up, für das ich arbeitete, hatte ein wunderschönes Büro in Berlin-Kreuzberg. Es gab einen Kühlschrank, der immer voll mit Obst, Snacks und Bier war. Mittags gab es umsonst leckeren Lunch (auch mit veganer Option), freitags Freigetränke für alle, einmal im Monat führte der CEO das ganze Team ins Restaurant aus. In den ersten Tagen schien es mir wie das Paradies. Aber dann merkte ich, dass so gut wie alle meine Kollegen die Mittagspausen mit ihrem Gratisessen neben der Tastatur verbrachten – und ihre Freizeit miteinander. Die Firmenevents waren nicht verpflichtend, aber da alle hingingen, hatte man keine Wahl. Mein Unternehmen war, wenn kein Big Brother, dann sicherlich eine Big Mother, die mich mit Essen versorgte, bestimmte, wann und mit wem ich spielte, und mir Gutscheine und Kuchen zum Geburtstag schenkte.

Die ganzen Gratisleistungen machten es jedoch schwierig, Kritik am Unternehmen zu üben. Oder die Kollegen (und sich selbst) zu fragen: Was nutzen uns Gratis-Sushi und Kickertisch, wenn wir ausgebeutet werden? Wir alle hatten kurze, unsichere Verträgen mit wenig Chancen auf Aufstieg. Im Restaurant sagte der CEO oft: "Wir sind eine große Familie." Aber gleichzeitig mussten sich alle Angestellten, alle "Brüder und Schwestern", gegenseitig für ihre Präsentationen oder Arbeitsperformance bewerten. Was ist das für eine Freundschaft, bei der man ständig fürchten muss, schlechte Noten von seinem Kumpel zu bekommen? Und vom Familiengefühl blieb auch nicht viel übrig, als herauskam, dass das Berliner Büro schließen muss und alle gefeuert werden. Bei seinen Familienansprachen hatte der CEO monatelang verschwiegen, dass es dem Unternehmen richtig schlecht ging.