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Christian Stöcker

Videoüberwachung am Südkreuz Treffen sich Orwell und Kafka am Bahnhof...

Was Innenminister de Maizière in Berlin gerade ausprobieren lässt, markiert einen neuen Höhepunkt der Unverfrorenheit im Verhältnis zwischen dem deutschen Staat und seinen Bürgern. Damit darf und wird er nicht durchkommen.
Polizisten am Südkreuz im Erkennungsfeld

Polizisten am Südkreuz im Erkennungsfeld

Foto: Wolfgang Kumm/ dpa

"Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf diese Weise?"

"Nun fangen Sie also wieder an", sagte der Wächter und tauchte ein Butterbrot ins Honigfäßchen. "Solche Fragen beantworten wir nicht."

Franz Kafka, "Der Prozess"

Bundesinnenminister Thomas de Maiziére, der sich mit einer gewissen Verzögerung zum großen Fan digitaler Technologien entwickelt hat, plant eine nie dagewesene Ausweitung staatlicher Macht. Das Pilotprojekt, das derzeit am Berliner Bahnhof Südkreuz läuft, ist - wenn der Minister seinen Willen bekommt - der Einstieg in einen echten Überwachungsstaat, eine Art Mash-up aus Franz Kafka und George Orwell.

De Maizière möchte gerne deutschlandweit Überwachungskameras mit einem System koppeln, das in Echtzeit die Gesichter aller Passanten in ihrem Blickfeld erkennen kann. Der Einsatz dieser Technik sei "dringend geboten", sagt der Innenminister, sofern sie denn funktioniere; dann aber müsse man sie auch "flächendeckend" einsetzen.

Organisieren ließe sich eine flächendeckende Überwachung womöglich in kürzester Zeit - per Softwareupdate. Entsprechende Kameras hängen jedenfalls auch schon an anderen Stellen des Südkreuz-Bahnhofs, am Hamburger Hauptbahnhof sind ebenfalls solche Modelle zu sehen. Der Überwachungsstaat ist, technisch gesehen, immer nur ein paar Mausklicks entfernt.

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Foto: SPIEGEL ONLINE

Christian Stöcker ist Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE. Als regelmäßiger Kolumnist ist er zudem jeden Sonntag als "Der Rationalist" zu lesen.

"Das System" wird zum handelnden Subjekt

Egal, wer wo an einer solchen Kamera vorbeiläuft, teilt dem System zwangsläufig seinen aktuellen Aufenthaltsort mit. Wenn ein "Gefährder" im Blickfeld der Kamera irgendetwas Verdächtiges tut, so die Theorie, schlägt "das System", so nennt es auch der Minister, Alarm. Es sieht - und erkennt! - aber zwangsläufig auch alle anderen.

Die notwendigen Vorarbeiten haben eifrige Innenpolitiker in den vergangenen Jahren geleistet. Dank biometrischer Ausweise liegen entsprechende Daten über viele Bundesbürger vor. Unsere Gesichter sind schon maschinenlesbar gemacht worden. Seit Mai dieses Jahres dürfen die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern "zur Erfüllung ihrer Aufgaben im automatisierten Verfahren" auf diese Daten zugreifen. Und Überwachungskameras hängen auch schon an vielen Orten, täglich werden es mehr.

Der zweite Schritt: die aktuelle Terrorvorhersage

All das aber ist nur der erste Schritt. Im Kern möchten de Maizière und seine Polizisten in etwa das Gleiche, was sich beispielsweise auch die NSA wünscht: ein fast magisches System aus künstlicher Intelligenz und Echtzeit-Datensammlungen, das eines Tages vorhersagt, wer demnächst etwas Böses tun wird. Daten aus dem "Cyberraum", wie de Maizière gerne sagt, Daten aus Kameras, Telefonverbindungsdaten und so weiter. Deep Learning und neuronale Netze werden aus all den Informationen schon irgendwie die nötigen Muster extrahieren. Für die aktuelle Terrorvorhersage in Analogie zur Wettervorhersage gewissermaßen. Man will dem Unbeherrschbaren mit neuen Herrschaftsmethoden begegnen.

Es geht darum, und darüber sollten wir als Gesellschaft vielleicht vorher doch noch mal reden, zwischen Polizei und Bürgern eine Schicht künstliche Intelligenz (KI) einzuziehen. Diese KI kann Polizisten warnen und losschicken, wenn sie es für nötig hält. Eine Art allsehender, immer aufmerksamer digitaler Wächter, der weiß, wer mit wem spricht, telefoniert oder Mails austauscht, wer sich wo aufhält - außer natürlich, der- oder diejenige trägt gerade eine Schirmmütze.

So etwas geht nicht ein bisschen oder nur dann, wenn man es gerade braucht. Jede digitale Technologie ist potenziell totalitär.

Wie kann der Minister annehmen, dass er damit durchkommt?

Kombiniert mit dem rechtsstaatlich ohnehin sehr fragwürdigen Konzept des "Gefährders" würde ein solches System wahrhaft kafkaeske Situationen herbeiführen. Menschen und Maschine würden Fehler machen, Unbescholtene würden beobachtet und aufgrund der Prognosen womöglich staatlich gegängelt. Wie präzise und fehlerfrei die Gefahreneinschätzungen deutscher Sicherheitsbehörden sind, zeigt aktuell sehr anschaulich die skandalöse Posse um den Zugang zum G20-Pressezentrum:  Den gleichen Namen zu haben wie ein Verdächtiger kann in Deutschland heute schon für Sanktionen reichen.

Die offenkundige Hilflosigkeit westlicher Sicherheitsbehörden im Angesicht von Terroranschlägen mit Kleinlastern und Messern macht das Bedürfnis dieser Behörden nach einer Wundertechnik verständlich. Sie würde aber die in sie gesetzten Erwartungen niemals erfüllen. Anschläge wie die der vergangenen Monate hätte ein solches System nicht verhindert - London ist bekanntlich eine der am meisten videoüberwachten Städte der Welt.

Gegen den Terror helfen würde das nicht. Wozu also?

Wie immer würden diejenigen, die das System überwachen soll, am schnellsten Möglichkeiten finden, sich dieser Überwachung zu entziehen. Stichwort Schirmmütze. Es würde den Staat also weitaus mächtiger machen, aber nicht so mächtig, dass sich damit der Terror abstellen ließe. Es würde die Grundrechte des Einzelnen in nie dagewesener Weise beschneiden, aber nicht so sehr, dass er dadurch sicher vor Anschlägen wäre.

Wozu das Ganze also?

Die tagespolitisch vielleicht noch wichtigere Frage ist diese: Wie kommt der Innenminister auf die Idee, dass er damit durchkommt? Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2008 schon klargestellt, dass "anlasslos erfolgende oder () flächendeckend durchgeführte Maßnahmen der automatisierten Erfassung und Auswertung" nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Und damals ging es nicht einmal um Gesichter. Sondern um Autokennzeichen.