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Eine Bekannte erzählte mir einmal eine eigenartige Geschichte, in der es um weitaus mehr ging, als auf den ersten Blick ersichtlich war.
"Stell dir vor, ich gehe also wie jeden Abend mit meinem Hund raus und nehme mal eine andere Tour, der Abwechslung halber. Es gibt da eine große Wiese mit Büschen und so was, da gehen viele Leute abends spazieren oder setzen sich auf die Bänke. Es ist ja schon recht früh dunkel, und so umrundeten wir also den Rasen, als es irgendwie blitzte. Erst dachte ich, dass vielleicht ein Autoscheinwerfer aufgeblendet hatte, weil es eine Kurve bei der einen Zufahrtsstraße gibt, dann aber kriegte ich mit, dass es ein Blitzlicht war.
Außer mir war niemand mehr auf der Straße, und ich entdeckte, dass jemand hinter einer Scheibe stand und scheinbar mit Blitzlicht Fotos machte, durch die Fensterscheibe hindurch. Ich ging auf das Haus zu, denn jetzt war ich neugierig geworden. Als ich unter dem Fenster stand, wusste sich der heimliche Fotograf wohl entdeckt und öffnete seinen Ausguck.
'Es ist verboten, hier mit den Hunden herumzulaufen, geht doch woanders hin mit euren Kötern.' Es dauerte eine Zeit, bis mir klar wurde, was die ältere Frau damit meinte. Aber sie hatte mich und meinen Hund ablichten wollen, um Beweise zu haben. Das sagte sie jedenfalls noch, bevor sie das Fenster hörbar schloss.
Stinkwütend machten wir uns auf den Heimweg, und das legte sich keineswegs, als ich am nächsten Tag von Leuten aus dem Viertel erfuhr, dass jeder die 'Alte mit der Polaroid' kannte. Ernst nahm das allerdings niemand, denn wenn man versucht, ein Objekt, das fünfzig oder mehr Meter weit entfernt ist, im Dunkeln zu blitzen, erhält man eine Kollektion hübscher schwarz bis dunkelgrauer Schnappschüsse, auf denen eigentlich nichts zu sehen ist. Außer man hat eine teure Ausrüstung, was allerdings wohl kaum zutraf. 'Sie schickt die Bilder an das Ordnungsamt', sagten die Leute, 'aber dort nimmt das niemand ernst.'
In den nächsten Wochen nahm ich öfter diesen Weg, und tatsächlich konnte ich die Amateur-Fotografin mehr als einmal in Aktion beobachten. Es handelt sich nicht um eine alleinstehende, etwas wirre Alte, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern um eine verheiratete Frau, die in einem sehr gepflegten Einfamilienhaus wohnt. Einmal kam ihr Mann gerade nach Hause und fuhr seinen Wagen in die Garage am Haus, als wieder mal ein Blitzgewitter niederging – wie ich fürchte, auf mich und den Dackel.
Als einmal einige junge Mädchen aus dem Haus kamen und ich gerade zu meinem Hund sagte, dass er sich benehmen solle, weil er ja schließlich fotografiert würde, warf mir einer der Teenager einen ziemlich bösen Blick zu. Es sieht aus, als wäre die ganze Familie mit dem sonderbaren Hobby der Frau einverstanden. Und ich habe eine solche Wut im Bauch, wenn ich das Haus nur sehe, dass ich am liebsten herumbrüllen würde – aber eine Beleidigungsklage brauche ich eben auch nicht.
Es ist wie diese Blockwartsache aus dem Dritten Reich – selbsternannte Hüter für Sauberkeit und Ordnung – das macht mich krank. Außerdem hab ich sowieso immer ein Tütchen dabei, obwohl mein Dicker immer nur pinkelt um die Zeit wenn wir dort vorbeigehen."
Meine Bekannte wollte sich nicht beruhigen lassen – im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten konnte sie die lustige Seite der Sache nicht wahrnehmen. Sie fühlte sich beobachtet, in ihren Persönlichkeitsrechten eingeschränkt und überwacht. Und, das war wohl auch der Knackpunkt der Sache, sie konnte die "Fotografin" nicht aus dem Kopf bekommen. Wieso, so fragte sie sich, unterstützt die Familie diesen Unsinn – denn dass die ganze Sache nichts weiter einbrachte als gelangweilte Gesichter beim Ordnungsamt, war klar. Noch niemals war irgendjemand belangt worden, weil sein Hund die Wiese entweiht hatte – was wohl an den schlechten Aufnahmen lag.
Weitaus interessanter fand ich, wieso meine Bekannte so besessen war von der Sache. Was, so fragte ich mich, hat eine alte Frau, die gerne ein wenig Ordnungshüter spielt und wahrscheinlich eine gestörte Beziehung zu Hundehaltern hat, für Ängste in einem Menschen aktiviert? Denn dieser Ärger über die alte Frau war schon recht bedenklich in den Bereich für Hass auf der Skala der Empfindungen gerückt.
Natürlich geht es auch um Gegensätze, denn meine Bekannte ist eher der lässige Typ, der "jedem Tierchen sein Pläsierchen" lässt und der Intoleranz tatsächlich Angst macht – wohingegen ihre Kontrahentin wohl das ganze Universum säuberlich glattgefegt und vor allem aber streng reglementiert sehen will.
Intoleranz ist etwas, das Grenzen stecken will, wo keine vorgesehen sind, Regeln aufstellt, wo es um Entfaltung geht, alles Außerplanmäßige und damit die Kreativität unterdrückt und stets mit einem ganzen Katalog von Verboten zur Stelle ist, und vor allem alles Fremde bis zum Hass hin ablehnt – auch das vermeintlich Fremde. Denn intolerante Menschen fürchten alles, was man nicht unter Kontrolle zu bringen scheint, vor allem aber die eigenen unkontrollierbaren Anteile ihres Ichs.
Stellvertretend für diese sorgsam vor der Ich-Wahrnehmung versteckten Teile ihrer selbst stecken sie die umgebende Welt in eine Art Korsett und lagern quasi aus, was ihnen zu schaffen machen könnte oder macht. Sie projizieren das ganze Paket auf irgendetwas anderes außerhalb, wie zum Beispiel lärmende Kinder, Ausländer oder Hundehalter.
Man kann sich nun fragen, was um Gottes Willen an pinkelnden Hunden oder auch einigen auf der Wiese liegenden Häufchen der Frau mit der Kamera solche Angst einflösst, dass sie ihrerseits eine Anzeige riskiert. Ihrem sichtbaren Umfeld nach ist sie keine Person, der an Auffälligkeit liegt – oder aber hier liegt der (pinkelnde) Hund begraben, denn sie ist auf ihre Weise eine Berühmtheit im Stadtviertel. Man kennt sie, ärgert sich über sie, lacht über sie ... auf jeden Fall nimmt man sie wahr.
Ob nun Angst oder Profilneurose, meine Bekannte war nicht nur selber angefeindet, sondern sie war auch für jemand anderen ein Feind – ohne sich dessen bewusst zu sein oder es zu wollen. Niemand kennt genau die Gründe für das Verhalten der Frau am Fenster und ihrer Familie – aber eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: die Wiese meiden oder aber die Fotosessions mit einem Achselzucken abtun.
Für einen Kleinkrieg mit gegenseitigen Anzeigen und Angriffen sollte jedem die Zeit zu schade sein – und wenn man sich nicht in die Lage des Gegners versetzen kann, weil man nichts über ihn weiß – dann sollte man eben "Toleranz auf Vorschuss" üben – das macht sie ja aus, die Haltung der Menschlichkeit.
© "Der pinkelnde Hund": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Foto des "Bratislava Bronze Paparazzo" von Benmil222 (Quelle: Wikipedia, Creative Commons-Lizenz).
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