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Disruption: Blockchain verändert alles

Foto: Adam Avery für manager magazin

Digitalisierung der Industrie Internet der Sprünge - Blockchain verändert alles

Ob Tourismus, Energiewirtschaft oder Industrie 4.0 - Blockchain wird nicht nur das Finanzgewerbe radikal verändern.
Von Eva Müller

Die folgende Geschichte stammt aus der Ausgabe 6/2017 des manager magazins, die Ende Mai erschien. Wir veröffentlichen sie hier als Kostprobe unseres Journalismus' "Wirtschaft aus erster Hand". Damit Sie künftig früher bestmöglich informiert sind, empfehlen wir ein Heft-Abo.

Manchmal sind die einfachsten Fragen am schwersten zu beantworten. Wer im Konzern hat welche Hotels auf Mallorca gebucht? Wo gibt es noch freie Betten an der Costa Brava? Darüber kann bei der Tui  niemand Auskunft geben - auch nicht Vorstandschef Fritz Joussen (54).

Für jede der 14 Landesgesellschaften schließt die Vertragsabteilung individuelle Kontrakte mit unzähligen Hoteliers. Die Vereinbarungen werden oft noch manuell in das jeweilige Computersystem der Töchter eingepflegt. Ist dann etwa das Spanien-Kontingent der Tui Deutschland ausgeschöpft, sieht niemand, dass der britische Teil des Tourismusriesen noch über freie Zimmerkapazitäten verfügt. Das "extrem intransparente System" hat den ehemaligen Softwareentwickler Joussen derart genervt, dass er seine ITler anwies, etwas zu unternehmen.

Die Experten schlugen ihm eine einheitliche Plattform für das Management von Verträgen vor. Die schaffe automatisch vollen Zugriff auf alle Hoteltransaktionen - übersichtlicher, effizienter und sicherer als herkömmliche Software. Die Tui will sich dazu der Blockchain-Technologie bedienen, die einem breiteren Publikum vor allem in Kombination mit der umstrittenen Kryptowährung Bitcoin ein Begriff ist.

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Digitale Geschäfte im Blockchain-System: Das Tausend-Augen-Prinzip

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Joussen drängte auf Umsetzung des Projekts - allen Risiken der jungen Technologie zum Trotz. Er schwärmt in höchsten Tönen von dem Konzept - und ist sich "zu 100 Prozent sicher", dass Blockchain "die Zukunft ist, die das Internet einmal ablösen wird".

Derart euphorisch äußern sich normalerweise nur Nerds, die mit der Idee verteilter Digitalregister die Welt noch einmal erfinden wollen. Sie sind fasziniert von dem neuartigen Prinzip, das nicht einfach Informationen weitergibt, sondern auch das Übertragen von Werten ermöglicht.

Im Blockchain-System wird jeder Datensatz - also auch eine Überweisung oder ein Vertrag - mathematisch von Tausenden Rechnern bestätigt und ist mit vorherigen Transaktionen zwischen den beteiligten Geschäftspartnern untrennbar verbunden. Gespeichert werden die miteinander verketteten Blöcke nicht in einem großen zentralen Rechenzentrum, das leicht von Hackern attackiert werden kann. Die Datenbank wird stattdessen verteilt auf den Tausenden an der Blockchain beteiligten Servern repliziert, was eine Manipulation durch Dritte praktisch ausschließt.

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Die wichtigsten Akteure der Digitalwährung: Diese Bitcoin-Köpfe müssen Sie kennen

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Auch wenn das Konzept zunächst komplex wirkt - Experten erwarten davon einen Technologieschub wie Anfang der 90er durch das Internet. Und anders als in den Vorzeiten des Web tun deutsche Unternehmenslenker derlei Ideen heute nicht mehr als Spinnerei ab. Traumatisiert von der Zerstörung ihrer Geschäftsmodelle wollen sie vermeiden, vom nächsten Trend überrollt zu werden.

Killerapplikation Bitcoin beweist, dass das Blockchain-Prinzip funktioniert

Das Blockchain-Prinzip birgt tatsächlich gigantisches Potenzial für Veränderungen: Mithilfe der digitalen Kassenbücher lassen sich Werte wie Geld, Aktien, Patente oder Eigentumsrechte eindeutig einem Besitzer zuordnen, absolut fälschungssicher übertragen und für alle Teilnehmer transparent darstellen. Mittelsmänner wie Banken oder Notare, die bisher noch als vertrauensbildende Institutionen bei Geschäftsabschlüssen vonnöten waren, wären überflüssig.

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Digitale Geschäfte im Blockchain-System: Das Tausend-Augen-Prinzip

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Dass die Blockchain-Technik tatsächlich funktioniert, beweist seit Jahren deren Killerapplikation Bitcoin. Eine Einheit der digitalen Währung ist deutlich mehr wert als eine Feinunze Gold - auch wenn die Bundesbank vor Spekulationen mit der Kryptowährung warnt.

Die Faszination für die Grundlage des Digitalgeldes ist längst nicht auf die Finanzwelt beschränkt. Denn Blockchain taugt zu weit mehr als nur zur Abwicklung von Zahlungen. Das Produktversprechen, digitale Geschäfte und Verträge zwischen Millionen von Teilnehmern hochsicher abwickeln zu können, elektrisiert Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen - von der Energiewirtschaft über das produzierende Gewerbe bis hin zum Handel. Die damit verbundenen Produktivitätssprünge wären gigantisch.

IT-Konzerne wie IBM , Microsoft  oder SAP  versprechen, mithilfe von Blockchain Transaktionen zu automatisieren und das Internet der Dinge (IoT) zu beschleunigen. Dienstleister wie Accenture, Deloitte, Infosys  oder KPMG helfen bei der Gestaltung entsprechender Geschäftsmodelle. Wagnisfinanzierer haben bereits mehr als 1,5 Milliarden Dollar in rund 1000 Start-ups investiert, die Blockchain-Lösungen programmieren. Everledger etwa registriert Diamanten, Shocard offeriert einen digitalen Personalausweis, Blockfreight entwickelt Logistiksysteme. 21Inc stellt die nötigen Spezialrechner her und hat mehr als 120 Millionen Dollar eingesammelt.

Auch good old Germany gibt sich experimentierfreudig. Nach Einschätzung von Philipp Sandner, der für die Frankfurt School of Finance ein Blockchain-Center aufbaut, beschäftigen sich drei von vier Dax-Konzernen mit der Technologie. Daimler , Airbus  oder SAP sind am Hyperledger-Projekt beteiligt, das Standards etablieren will. Bosch kooperiert mit Cisco  und Foxconn im Iot-Blockchain-Konsortium. Selbst im Mittelstand ist Blockchain ein Begriff.

Ob und wie sich die Querschnittstechnologie als Basis für neue Geschäftsmodelle etabliert, dafür sei dieses Jahr entscheidend, sagt Stephan Zimprich. Der Jurist leitet beim Internetverband Eco die Kompetenzgruppe Blockchain und erwartet, dass bald die nötigen Protokolle, Schnittstellen und Standards sowie rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. In den kommenden ein bis zwei Jahren könnten dann echte kommerzielle Anwendungen entstehen - knapp zehn Jahre nachdem die Grundidee für die Kryptowährung Bitcoin erstmals unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto veröffentlich wurde.

Kurz vorm Wendepunkt

Unter dem Eindruck der Finanzkrise wollte der Blockchain-Erfinder die Banken als Intermediäre ausschalten, weil die das Vertrauen ihrer Kunden missbraucht hatten. Statt zweifelhafter Instanzen garantieren Algorithmen die Validität digital aufgezeichneter Transaktionen.

Das Prinzip des digitalen Vertrauens haben brillante Programmierer wie Vitalik Buterin inzwischen stark erweitert. Seine Ethereum-Plattform etwa ermöglicht sogenannte Smart Contracts. Diese Verträge führen sich automatisch selbst aus, sobald ein programmiertes Ereignis eintritt. Zahlung durch Impuls. Noch sind für eine solch durchdigitalisierte Welt einige Hürden zu überwinden. Im Bitcoin-System dauert es rund zehn Minuten, bis ein Block verschlüsselt und bestätigt ist. Die vielen beteiligten Rechner verbrauchen extrem viel Energie.

Computop-Chef Ralf Gladis sagt, er halte Blockchain "selbst nach wohlwollender Prüfung" für ungeeignet im Massengeschäft - wohl wissend, dass die Technologie Zahlungsdienstleister wie ihn, PayPal oder Wirecard  bedroht. Andere im Finanzsektor freuen sich. McKinsey prophezeit der Branche als Ganzes Einsparungen von 80 bis 110 Milliarden Dollar, wenn die neuen Systeme erst mal voll im Einsatz sind. Vorreiter wie die Deutsche Börse arbeiten bereits an der Umstellung ihrer Backoffice-Prozesse.

Um Blockchain günstig, schnell und skalierbar zu machen, feilen weltweit Tausen-de begeisterter Programmierer an der Technologie. Bruce Pon etwa arbeitet mit seiner Berliner Gründung BigchainDB an einer Lösung, die eine Million Schreibvorgänge pro Sekunde verarbeiten soll. Ebenfalls in der Hauptstadt entwickelt die IOTA Foundation ein vieldimensionales Konstrukt, das "unendlich skalierbar" sein soll, wie ihr Mitgründer Dominik Schiener meint.

Oliver Bussmann beobachtet die Entwicklung aus dem beschaulichen Städtchen Zug in der Schweiz. Der ehemalige UBS-Grande fördert dort Start-ups mit der Crypto Valley Association. "Wir stehen kurz vor dem Wendepunkt", sagt er. Spätestens ab 2020 werde Blockchain viele Branchen disrupten. Die Technik habe das Potenzial, alles zu verändern - von den Lieferketten in Produktion und Handel über die Vernetzung von Maschinen, die Stromversorgung, die Elektromobilität, die Sharing-Economy, ja sogar die Staatsverwaltung. Estland biete seinen Bürgern längst eine digitale Identität an, auch das Katasterbuch in Georgien laufe auf Blockchain-Technologie.

Grünstrom-Gemeinschaft

Die großen Stromerzeuger bereiten sich ebenfalls auf die neue Ära vor. Im Innovation Hub der RWE-Tochter Innogy testen Nerds, wie sich auf Basis der neuen Technologie dezentral erzeugter Grünstrom effizient einspeisen und verteilen lässt. In Mülheim an der Ruhr wurden 15 Innogy-Kunden im Herbst 2015 versuchsweise zu einer Art Energiegenossenschaft zusammengeschlossen. Die Teilnehmer tauschen untereinander Strom aus den Solarzellen auf ihren Dächern und den Wärmekraftwerken in ihren Kellern aus. Das Abrechnungssystem wurde via Blockchain digital nachgebildet.

Näher am echten Leben bietet das Start-up Strombewegung in Kooperation mit Eon  den Austausch und die Abrechnung von Ökostrom an. Das junge Unternehmen hat im Calenberger Land vor den Toren Hannovers eine erste Selbstversorgergruppe aktiviert. Ähnlich den zehn Häusern an der President Street im New Yorker Stadtteil Brooklyn, die sich als Microgrid organisiert haben.

Ein radikaler Ansatz für RWE , Eon und Co. Denn wer braucht ihre Dienste noch, wenn Erzeuger und Verbraucher ihren Ökostrom direkt miteinander handeln?

Doch die Entwicklung lässt sich nicht aufhalten, den Etablierten bleibt nur, neue Dienstleistungen zu entwickeln - rund um die Elektromobilität zum Beispiel. So hat Innogys Innovation Hub gerade ein Netzwerk privater Stromtankstellen gestartet. Im Share&Charge-System können Besitzer einer Starkstromsteckdose ihren Anschluss anderen Elektrofahrern zur Verfügung stellen. Bis zu 1000 Zapfstellen sollen demnächst in dem Pilotversuch über die App Share&Charge zu buchen sein. Abgerechnet wird automatisch via Blockchain, nicht mehr umständlich über einen Dienstleister wie PayPal.

Damit die E-Autos sich künftig autonom aufladen und für die Batteriefüllung selbst zahlen, will ZF Friedrichshafen ihnen eine eigene Geldbörse spendieren, selbstverständlich auf Blockchain-Basis. Mit dem Car eWallet des Zulieferkonzerns lassen sich auch Centbruchteile abrechnen, etwa wenn sich ein Fahrzeug eine Ministromspritze aus der Induktionsschleife vor einer Ampel zieht oder ein Parkplatz reserviert wird. Via Smart Contract kann der Wagen sogar Geld verdienen, indem er sich während der Arbeitszeit seines Besitzers selbst vermietet oder seinen Kofferraum für den Lieferdienst öffnet.

Für ihren Softwareprototyp ernteten die Ingenieure vom Bodensee auf der US-Techmesse CES im Januar tosenden Beifall. Im zweiten Halbjahr 2017 soll ein Pilotprojekt mit real rollender Hardware starten.

Sekunden statt Tage

Blockchain-Fans feiern solche Pionieranwendungen bereits als Einstieg in die autonome Ökonomie der Dinge. Deren digitale Identität werde Innovationen enorm beschleunigen, prophezeit Alessandro Curioni, Forschungsdirektor des IBM-Labors in Zürich.

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Digitale Geschäfte im Blockchain-System: Das Tausend-Augen-Prinzip

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Die lückenlose Rückverfolgung von Mozzarella wäre so eine Innovation. Beim Transport des Käses darf die Kühlkette nicht unterbrochen werden. Wird es zu warm im Lkw, meldet das der Temperatursensor an das Digitaletikett. Die per Blockchain festgelegte Regel "zu warm, weg damit" sortiert die Delikatesse dann automatisch als ungenießbar aus.

Was nach einem Witz des genussfreudigen Italieners klingt, ist für IBM ein ernsthaftes Geschäft. Mit dem US-Handelsriesen Walmart baut der IT-Konzern in China ein System, das die Sicherheit von Lebensmitteln verbessert.

In Dubai wollen die Behörden so bis 2020 sämtliche Handelstransaktionen abwickeln, um sich die Logistik- und Zollbürokratie zu ersparen. In Indien plant das Industriekonglomerat Mahindra das Management seiner Lieferketten per Blockchain zu optimieren, ähnliches hat Japans Autoriese Toyota  vor. Pharmakonzerne wollen mit der Supertechnologie ihre klinischen Tests fehlersicher gestalten, Gesundheitsbehörden Patientendaten und Genanalysen unkorrumpierbar übermitteln.

"Bis 2025 werden bis zu 70 Prozent aller globalen Märkte direkt oder indirekt mit Blockchain arbeiten", erwartet Ingo Fiedler, der das Thema an der Universität Hamburg erforscht. Eine Vorhersage, die für Jürgen Müller höchste Relevanz hat. Der Chief Innovation Officer von SAP sieht in der Organisation der Transaktionen zwischen Unternehmen eine gigantische Wachstumschance für den Walldorfer Softwarekonzern. Geschäfte über Unternehmensgrenzen hinweg seien immer noch mit einem unglaublichen Aufwand verbunden. "Wir wollen die mit dicken Papierstapeln verbundenen Vorgänge optimieren."

Ein Projekt zur Vereinfachung des internationalen Zahlungsverkehrs hat SAP auf Blockchain-Basis schon entwickelt. Damit läuft ein Vorgang, der bisher Tage dauerte, binnen 20 Sekunden ab. Mehr als zehn weitere Ideen stecken in der Pipeline - zum Fakt-Checking in Lebensläufen beispielsweise oder zum Immobilienmanagement, bei dem sämtliche Verträge mit Dienstleistern und Handwerkern über die gesamte Lebensdauer (also auch wechselnde Besitzer) eines Gebäudes hinweg einbezogen werden. Die SAP-Tochter Ariba hat gerade angekündigt, ihre Handelsplattform für Firmen auf Blockchain umzustellen.

Enormes Einsparpotenzial

Wie stark solche Lösungen althergebrachte Businessmodelle umwälzen, hat die Investmentbank Goldman Sachs an einem Exempel berechnet. In den USA werden Besitztitel für Gebäude von einer speziellen Versicherung garantiert. Durch voll transparente Blockchain-Register lassen sich Fehler beim Übertragen solcher Titel vermeiden. Allein das spart bis zu vier Milliarden Dollar pro Jahr. Banken könnten bis zu fünf Milliarden Dollar an Kosten vermeiden, wenn sie die Compliance-Regeln im Geldwäschegesetz durch Blockchain-basierte Transaktionsarchive erfüllen.

Wo solche Milliardenpotenziale schlummern, sind Gründer meist nicht fern. Ihre Angriffsziele: die großen Internetpioniere. Die Blockchain-Start-ups könnten den etablierten Aggregatoren durchaus gefährlich werden, glaubt Deloitte-Experte Mirko Gramatke: "Frei nach dem Motto: Disrupt the Disruptor."

Das israelische Start-up Lazooz etwa hat sich zur Aufgabe gemacht, Fahrer und Fahrgäste qua Selbstorganisation zusammenzubringen. Gelingt dies, braucht kein Mensch mehr den gehypten Vermittlungsdienst Uber. Aus dem sächsischen Mittweida heraus arbeitet Slock.it an einer Softwareplattform für ein "universelles Sharing-Netz". Türschlösser sollen künftig automatisch erkennen, ob ein Mieter für die Nutzung einer Privatwohnung gezahlt hat oder nicht. Wenn nicht, kommt er gar nicht erst rein. Dicke Provisionen, wie sie heute Airbnb für das Vermakeln fremder Betten kassiert, würden dann entfallen.

Einfache Handhabung, enormes Einsparpotenzial, transparente Prozesse - die Blockchain-Technologie könnte nicht nur heutige Leuchttürme gefährlich ins Wanken bringen. Sie eröffnet auch der oft schon abgeschriebenen Old Economy die Chance, ihre digitalen Defizite wettzumachen.

Tui-Chef Joussen jedenfalls kann sich über seine auf Blockchain laufende, hochmoderne Bettendatenbank gar nicht genug freuen. Im Sommer soll sie an den Start gehen.