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Fußballhistorie: Dieses Halbfinale war die Hölle

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Deutschland-Schweden 1958 Dieses Halbfinale war die Hölle

Bei der WM in Schweden erlebte Deutschland 1958 eines der dunkelsten Kapitel seiner Fußballgeschichte. Das Semifinale gegen die Gastgeber endete für den Titelverteidiger mit einer bitteren Niederlage - und mit Aufruhr auf den Straßen.

"Heja, heja, heja, heja!" Wie Donnerschläge prasselt der Schlachtruf aus 50.000 Schwedenkehlen auf das Spielfeld des Göteborger Ullevi-Stadions nieder. Das gewaltige Grollen fängt sich an den Tribünen und hallt erneut über den grünen Rasen wie ein Gewitter. Im Stadioninnenraum feuern vier Einpeitscher mit riesigen Schwedenfahnen die Zuschauer an, treiben das Publikum über Lautsprecher an den Rand der Ekstase.

Es ist der 24. Juni 1958, 18.50 Uhr. Das Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft 1958 wird gleich angepfiffen. Die Paarung: Titelverteidiger Deutschland gegen Gastgeber Schweden. Eine brisante Kombination. Scharf hat die schwedische Presse angeblich zu harte Tacklings der deutschen Mannschaft in den vorangegangenen Spielen kritisiert. Das lärmende Auftreten ihrer Fans hat der Mannschaft keine Freunde gemacht, und natürlich schwingt auch die Nazivergangenheit irgendwie mit. Das alles hat sich zu einer überaus gereizten Stimmung verdichtet.

Auf der Tribüne runzeln die Offiziellen des Weltverbandes Fifa besorgt die Stirn. Um sie herum beginnt der Hexenkessel immer stärker zu brodeln, angefacht von den vier Vorturnern auf der Laufbahn. Diese Form der organisierten Unterstützung für die Heimelf ist schon fünf Tage zuvor beim Viertelfinale gegen die Sowjetunion in Stockholm ungut aufgefallen. Doch die Vehemenz und Aggressivität, mit der das "Heja" nun in Göteborg skandiert wird, stellt alles Bisherige in den Schatten.

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Fußballhistorie: Dieses Halbfinale war die Hölle

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Der Anpfiff. Die deutschen Spieler versuchen, ihre Nerven im Zaum zu halten. Zunächst mit Erfolg - Mannschaftskapitän Hans Schäfer gelingt in der 24. Minute sogar die Führung. Deutlich beeindruckt von der Atmosphäre zeigt sich aber Schiedsrichter István Zsolt. Zunächst verweigert der Ungar den Gästen einen klaren Foulelfmeter, dann übersieht er vor Schwedens Ausgleich ein Handspiel von Nils Liedholm. Doch die Deutschen verzichten auf große Proteste. Stattdessen halten sie die Partie weiter ausgeglichen.

Nach dem Revanchefoul kippt die Stimmung

Bis zu jener ominösen 59. Minute, in der Verteidiger Erich Juskowiak von Fortuna Düsseldorf "der geistige Schnürsenkel, der die sportliche Ordnung zusammenhält", reißt, wie es das "Hamburger Abendblatt" blumig, aber treffend formuliert. Juskowiak, zuvor vom trickreichen Schwedenstürmer Kurt Hamrin vom AS Padua "bis zum Zerspringen gereizt", revanchiert sich mit einem üblen Tritt.

Referee Zsolt stellt den Deutschen ohne Zögern vom Platz - doch Juskowiak weigert sich zu gehen. Mit hochrotem Kopf und geschwollener Halsschlagader protestiert er vehement gegen den Platzverweis. Kapitän Hans Schäfer und Fritz Walter, Ehrenspielführer in seinem letzten großen Turnier, müssen "Jus" vom Platz führen.

Nach dem Revanchefoul kippt die Stimmung im Stadion endgültig. Eine Welle des Hasses schlägt über Juskowiak zusammen. "Das Stadion hatte sein Opfer - wie im alten Rom", notierte der "Abendblatt"-Reporter. Auch Radiolegende Herbert Zimmermann, vier Jahre zuvor mit seinen gelungenen Hörbildern noch Botschafter des "Wunders von Bern", wird für die vielen Hörer in der Heimat nun zum Hiob.

Rote Karte für die Schwedenplatte

Als sich Fritz Walter eine Viertelstunde vor Schluss nach einem harten Einsteigen von Sigvard Parling so schwer verletzt, dass er fortan nur noch humpelnd als Statist auf Rechtsaußen mitwirken kann - Auswechselungen kennt das Reglement noch nicht -, macht auch Zimmermann Anleihen in der antiken Geschichte: "Das wird ja ein Cannae hier!" In der Tat: Die Schweden nutzen die numerische Überlegenheit und kommen durch Gunnar Gren (81.) und Hamrin (88.) zu ihren Siegtreffern - der amtierende Weltmeister ist entthront, Schweden steht im Finale.

Auf dem Platz ist das Halbfinale zu Ende - doch außerhalb des Stadions beginnt jetzt die dritte Halbzeit. DFB-Präsident Peco Bauwens, der schon nach dem WM-Triumph 1954 mit Naziphrasen unangenehm aufgefallen war, dröhnt: "Was hier passiert ist, grenzt an Volksverhetzung. Nie mehr werden wir dieses Land betreten, nie mehr werden wir gegen Schweden spielen!"

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Die deutsche Delegation schlägt die Einladung zum Finale Schweden-Brasilien wie auch zum Siegerbankett aus. Den 5:2-Triumph der Südamerikaner mit ihrem 17-jährigen Ausnahmetalent Pelé verfolgen Mannschaft und Betreuer auf dem Heimweg in Dänemark im Fernsehen.

Auch in Deutschland schlagen die Wellen der Empörung hoch - und nicht immer bleibt es bei verbalen Tiraden. Beim internationalen Reitturnier in Aachen reißen Unbekannte die schwedische Flagge vom Mast. Schwedischen Touristen werden die Autoreifen zerstochen, an Tankstellen und Reparaturwerkstätten werden sie abgewiesen oder nur unwillig bedient.

Bei der Kieler Woche empfängt das Publikum eine schwedische Kinderkapelle mit Pfuirufen, und Höltjes Gesellschaftshaus in Verden an der Aller teilt mit, ein Konzert des Lars-Lindström-Sextetts könne nicht stattfinden - "auf Grund der Vorfälle bei den Weltmeisterschaften möchten wir einen Abend mit einer schwedischen Tanzkapelle zur Zeit nicht wagen".

"Überhitzt und überpatriotisch"

In Restaurants in Hamburg verschwinden die beliebten "Schwedenplatten" von den Speisekarten, auch das Paprikagulasch wird gestrichen - wegen des vermeintlich parteiischen Schiedsrichters Zsolt. Auf der Reeperbahn malen Liebesmädchen "Schweden unerwünscht" auf Pappschilder, und weil ein Bierlokal auf der Großen Freiheit annonciert: "Für Deutsche eine Flasche Bier eine Mark, für Schweden fünf Mark", schaltet sich die Preisbildungsstelle ein.

Ebenso verlieren manche Kommentatoren jedes Maß. "Das offizielle Schweden hat hämisch genießend zugelassen, dass rund 40.000 Repräsentanten dieses mittelmäßigen Volkes, das sich nie über nationale oder völkische Durchschnittsleistungen erhoben hat, den Hass über uns auskübelte, der nur aus Minderwertigkeitskomplexen kommt", schäumt die "Saar-Zeitung" aus Saarlouis. "Es ist der Hass eines Volkes, dem man das Schnapstrinken verbieten muss, weil es sonst zu einem Volk von maßlosen Säufern wird."

Andere Blätter mahnen zur Besonnenheit. "Die Deutschen haben sich als ausgezeichnete Verlierer gezeigt, und sie hatten Besseres verdient als ein Publikum, das überhitzt und überpatriotisch war", merkt selbstkritisch "Stockholms Tidene" an: "Offizielle Sprechchor-Dirigenten im Innenraum - das ist kein guter Ton und kein Fairplay."

"Abendblatt"-Korrespondent Rudolf Weschinsky betreibt Ursachenforschung mit einem schwedischen Kollegen, der einräumt: "Wir sind euch Deutsche noch gar nicht wieder gewöhnt. Plötzlich wart ihr wieder da. Und wie wart ihr wieder da - mit Wohlstand und Geld. Es ging wohl etwas plötzlich - gestern haben wir noch Schwedenspeisung bei euch gemacht, und am anderen Morgen kommt ihr schon mit großen Autos."

Nach Göteborg herrscht zwischen beiden Staaten lange Eiszeit - erst 1963 tritt Deutschlands Nationalelf wieder zu einem Freundschaftsspiel in Stockholm an.

"Man fliegt nicht vom Platz"

Und Erich Juskowiak? Seine Kurzschlusshandlung verfolgt den ehemaligen deutschen Nationalspieler für den Rest seines Lebens. Trainer Sepp Herberger hat nach dem Spiel nur kalte Verachtung für seinen Defensivmann übrig: "Es war nicht seine Aufgabe, seinen Gegner für ein Foul zu bestrafen", diktiert er stattdessen den Journalisten in die Blöcke. "Vier Jahre Arbeit für die Katz." Zwar intervenierte Herbergers Gattin Eva unmittelbar nach dem Spiel per Telefon zugunsten Juskowiaks - doch der "Chef" ließ sich nicht erweichen. "Jus, Sie werden nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft spielen", teilte der Coach Juskowiak kurz und bündig mit. "Man fliegt nicht vom Platz."

Später begnadigt Herberger den Unglücksraben, sechs Mal darf Juskowiak noch für Deutschland auflaufen - doch der Karriereknick ist offensichtlich. Auch das letzte Spiel für seine Düsseldorfer Fortuna endet wenig rühmlich: Nach einem Disput mit Zuschauern verlässt er bei einem Spiel gegen den VfB Bottrop kurz vor dem Abpfiff einfach den Platz und kehrt nicht mehr zurück. Der tragische Tag von Göteborg wird für ihn 1982 noch einmal lebendig, als die Zeitschrift "Hörzu" ein Versöhnungstreffen mit "Kurre" Hamrin, seinem Gegenspieler von 1958, arrangiert.

Doch Juskowiak bleibt ein gebrochener Mann. Ein Jahr später erliegt er im Alter von 56 Jahren am Steuer seines Wagens in seiner Garage in Düsseldorf einem Herzinfarkt.