WM-Kommentar :
Isländer, wir brauchen euch!

Ein Kommentar von Christian Eichler
Lesezeit: 2 Min.
Ein neues Gesicht, das der WM gut tut: Die Isländer spielen jetzt auch mit.
Die Folklore, die die Inselkicker mit dem Wikinger-Flair begleitet, wirkt manchmal etwas übertrieben. Doch die Isländer tun der WM gut. Auch weil sie noch eine andere Lebensrealität kennen als die des Balles.

Liebe Isländer, wir brauchen euch bei der WM. Die kleinste Nation, die je mitspielte, ein Volk von der Einwohnerzahl Bielefelds – und zugleich eine wahre Fußballgröße, die sich nicht in Marktanteilen und Umsatzzahlen messen lässt. Gegen den Größenwahn des Fußballs und der Funktionäre, die die WM immer weiter aufblasen, um sie noch besser verhökern zu können, helfen Menschen, die mit kleinen Mitteln und großem Herzen Märchen fabrizieren – auch wenn der Trainer der Isländer, Heimir Hallgrimsson, behauptet, das, was sie bei der EM 2016 hinzauberten, mit dem Sieg über England und dem Erreichen des Viertelfinals, sei alles andere als ein Märchen gewesen. Nämlich nur ehrliche Arbeit.

Sie leisten, das ist das Schöne, diese Arbeit nicht nur auf dem Fußballplatz. Bevor jemand fragen konnte, verkündete der Trainer gleich zu Beginn seiner ersten Pressekonferenz in Russland, dass er „immer noch Zahnarzt“ sei und es „auch bleiben“ werde. Als wisse er, dass das entsprechende Wortspiel nahezu unvermeidlich ist, gelang es ihm doch zwei Tage später, dem hohen Favoriten Argentinien und Superstar Lionel Messi den Zahn zu ziehen. An diesem Freitag geht es gegen Nigeria (17.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Fußball-WM und im ZDF)

Torwart Hannes Halldórsson hat sich neben dem Fußball auch als Filmregisseur einen Namen gemacht. So drehte er 2012 das Musikvideo von Islands Beitrag zum Eurovision Song Contest, einer EM, bei der Island übrigens schon lange vor der im Fußball mit zwei zweiten Plätzen Furore machte. Das Drehbuch zu seinem großen Moment schrieb Halldórsson, indem er Messis Elfmeterverhalten zuvor ausgiebig studierte – und dann im ersten Spiel in die richtige Ecke sprang.

Und auch dem Rechtsverteidiger Birkir Saevasson wäre Fußball allein viel zu wenig. Sein zweites Standbein ist der Job in einer Fabrik in Reykjavík, für die er bis kurz vor der Abreise nach Russland noch Salzsäcke befüllte und ausfuhr. „Ich kann nicht nur dasitzen und nichts tun, das ist langweilig und macht faul“, sagte er. „Ich wollte nicht faul werden vor der WM.“ Sehr fleißig spitzelte er dann Messi kurz vor Schluss in bester Position den Ball weg und rettete das 1:1 – eine nordische Geistesgegenwart, die auch den Torschützen Alfred Finnbogasson auszeichnete. Dieser erklärte sie mit dem schönen Satz: „Wenn man nicht denkt, passieren gute Dinge.“

Die Folklore, die die Inselkicker mit dem Wikinger-Flair begleitet, wirkt gewiss manchmal auch etwas bemüht und übertrieben. Doch in Zeiten, da der Fußball sich immer wichtiger nimmt, gibt es ein legitimes Bedürfnis nach Fußballern, die sich und ihr Spiel nicht zu wichtig nehmen. Auch weil sie noch etwas anderes gelernt haben, eine andere Lebensrealität kennen als die des Balles. Im deutschen Kader übrigens gibt es, seit der Zimmermann Miroslav Klose 2014 zurücktrat, erstmals bei einer WM keinen Spieler mehr, der noch einen Beruf erlernt hat.