Warum wir so erschöpft sind
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Warum wir so erschöpft sind

Tagträume und andere Rezepte zum Überleben

Vor Kurzem las ich im Interview mit dem Neurowissenschaftler Daniel Levitin, dass ein erwachsener Mensch heute fünfmal mehr Informationen aufnimmt, als noch vor 30 Jahren (Flow Nr. 12, S. 59). Ob in der Freizeit oder auf der Arbeit, die Dichte, die Schlagfrequenz an Informationen ist enorm angewachsen. Nicht verwunderlich, dass sich ein allgemeiner Erschöpfungszustand breit macht, den viele dann gern damit verbringen, ihr Hirn noch mehr zuzumüllen, mit dem was das Internet so bietet. Denn größer als die Erschöpfung ist nur noch unser sogenanntes FOMO (fear of missing out), die Angst, etwas zu verpassen. Ich setze dem zunehmend das JOMO entgegen: joy of missing out. Das ist dann in Unterhaltungen immer wieder lustig, wenn Freunde sagen: "Was, davon hast du nichts gehört? Das war doch überall auf Facebook!" Ich freue mich dann heimlich an meiner Unwissenheit.

Ich hatte mal einen Coach im Unternehmen, der sich auf Themen wie Stress und Burn Out konzentrierte. Er schloss mich mit Kabeln an seinen Computer an, der dann meine Stresslevel visualisierte. Wir machten ein paar Experimente, um meine Level durch tückische Fragen hochzutreiben und mit Durchatmen wieder abzubauen. So naheliegend es klingt, so sehr vernachlässigen wir es täglich: Das bewusste Atmen ist eine der Tätigkeiten, die uns schnell helfen können, Stress abzubauen. Seine Diagnose des heutigen Arbeitsumfeldes war klar: Das kann nur im Stress enden, wenn man nicht auf sich aufpasst.

Mythos Multitasking

Wir setzen uns heute mit unseren sexy-shiny Apple Laptops und iPads sehr schnell selbst unter Druck. Denn der Computer ist die Maschine, die uns wirkliches Multitasking vormacht: Der Prozessor arbeitet simultan und in höllischer Geschwindigkeit zahllose Algorithmen durch. Durch die vielen gleichzeitig geöffneten Fenster, Ordner und Kanäle, verleitet uns der Computer, es ihm gleich zu machen und ständig an mehreren Fronten simultan zu arbeiten. Wir rechnen in einem Spreadsheet etwas durch, befüllen eine Präsentation, unterbrechen das und beantworten eine E-Mail und checken irgendwie gleichzeitig den Facebook-Stream, während uns jemand im Slack-Channel anspricht. Natürlich vibriert dann auch noch das Telefon, ein Kollege aus dem Großraumbüro spricht dich von der Seite an und aus dem Augenwinkel sehen wir, wie die nächsten E-Mails reinkommen, während der Kalender anzeigt, dass ein Meeting in fünf Minuten losgeht.

Wir merken dann, wir können gar nicht "multitasken", das Gehirn kann lediglich sequenziell Informationen verarbeiten. Das heißt, wenn wir denken, wir machen Multitasking, dann unterbrechen wir einfach nur immer wieder unsere Arbeit, zerstückeln eigentlich zusammenhängende Tätigkeiten und bekommen das frustrierende Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen und eigentlich gar nichts zu erreichen. Stress pur! Dadurch dass wir immer wieder die verschiedenen Fäden aufnehmen, und uns wieder reinarbeiten müssen, schaffen wir tatsächlich weniger, als wenn wir konzentriert eine Sache nach der anderen machen würden. Hinzu kommt, dass wir beim Multitasking-Versuch viel mehr Energie verbrennen, als wenn wir ruhig und kontinuierlich an einer Sache arbeiten. Es gibt auch Berufe, die Simultanarbeiten erfordern, wie zum Beispiel Dolmetscher oder Fluglotsen. Hier sind die Pausenbestimmungen sehr streng, denn dieses Arbeiten ist besonders erschöpfend. Uns im Büro zwingt eigentlich keiner, aber wir machen es trotzdem, nur ohne die Pausen.

Spazieren gehen und Träumen

Durchatmen! Das hilft. Außerdem gehe ich jetzt regelmäßig einmal am Tag raus aus dem Büro und laufe über einen Friedhof oder am alten Berliner Mauerstreifen entlang und versuche einfach zu atmen, wahrzunehmen und meine Gedanken wandern zu lassen. Der Coach und ich haben das als für mich passende Taktik identifiziert. Seit dem Tag baue ich meine Spaziergänge auch an anderen Stellen aus. Zum Beispiel schiebe ich mein Fahrrad, mit dem ich jeden Morgen zur Arbeit fahre, an bestimmten Stellen, die entweder sehr schön sind (an der Panke entlang oder durch den Park) oder die bergauf anstrengend sind. Und ich versuche mir abzugewöhnen, hinter einander weg und ohne Pause zu arbeiten. Es geht mir viel besser, wenn ich wirkliche Pausen mache, wo ich meinen Füßen und meinen Gedanken erlaube zu wandern.

"Die beste Art der Pause ist die, wo du tagträumen kannst. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass das Tagträumen wie ein neuronaler Reset-Button wirkt. Das Gehirn fährt runter und erholt sich dadurch." (Daniel Levitin, Flow Nr. 12, S. 60)

Tagträumen ist, wenn die Gedanken anfangen zu wandern, der Blick geht in die Weite und die Gedanken, die wir haben, sind nur lose miteinander verknüpft. In der Hinsicht, ist es wirklich wie das Träumen im Schlaf. Ich sehe das auch bei meinem zweijährigen Sohn, der das ganz oft und spontan einfach in unser Miteinander einbaut: Gerade plappert und lacht er noch und plötzlich ist er völlig abwesend und starrt auf einer Brezel rumkauend in die Weite.

"Dein Gehirn ist dann in stand-by, ein genau entgegengesetzter Zustand zu dem der Konzentration. Das ist solch ein tief natürlicher Zustand, dass Marcus Raichle, der diesen Zustand entdeckt hat, ihn die Standardeinstellung des Gehirns nennt. Das erklärt auch, warum wir uns nach dem Tagträumen so erholt fühlen." (Daniel Levitin, Flow Nr. 12, S. 60)

Kinder holen sich solche Spontanerholung ohne jegliche Hemmungen. Neben dem Starren aus dem Fenster (was auch mir immer wieder mal in Meetings passiert) oder dem Spazierengehen, hilft natürlich auch ein 15 minütiges Nickerchen am Nachmittag. Daniel Levitin meint, dass wir uns durch solch ein Nickerchen so sehr erholen, wie ansonsten nur durch 90 Minuten Nachtschlaf. Manche Arbeitgeber haben deshalb auch sogenannte "Nap Rooms" eingerichtet, abgedunkelt und mit Betten, die separate Vorhänge haben. Ich denke, dass ist eine gute Idee: Wir sollten mehr auf der Arbeit schlafen, denn es zeigt sich, dass sogenannte Knowledge Worker ohnehin höchstens 4 Stunden pro Tag qualitativ guten Output liefern können. Vor allem ist aber wichtig, dass wir uns echte Pausen gönnen, dass wir unseren Gedanken freien Lauf lassen, in die Weite blicken und unserem Gehirn erlauben, sich zu erholen.

Was übrigens nicht als Pause zählt, ist das Checken der Status-Updates auf Facebook und LinkedIn oder das Lesen von News-Websites. Denn anders als beim Lesen von Literatur, füttern uns diese Medien wieder sequenzielle Informationshäppchen, die wir analytisch verarbeiten müssen. Das Lesen von Literatur hingegen oder das Musikhören, lädt unsere Fantasie ein, aktiv zu werden und das wiederum funktioniert hervorragend mit der oben genannten Standardeinstellung des Gehirns.

Urs Christian Maurer-Dietrich

Ich moderiere kooperative Schulraumentwicklungsprozesse und Architekturwettbewerbe

5y

..viele zunehmend wichtiger werdende Gedanken! Danke! Ich habe zwei kleine Ergänzungen aus persönlicher Erfahrung: 1. Ohne Skizzenbuch würde ich die Informationsflut und die Menge fremder Geschichten, welche täglich an mich herangetragen werden, nicht bewältigen. Dieses Skizzenbuch (ich nenne es nicht Tagebuch, weil es mir nicht darum geht, jeden Tag kurz zu protokollieren, was ich äusserlich gemacht habe) hilft mir über Ereignisse und Begegnungen bei irgend einer Gelegenheit - im Tram, im Zug, in einem Kaffee - kurz nachzuspüren, und etwas kürzer oder länger nachzudenken. Kürzlich wurde ich im Zug von einem Musiker angesprochen als ein Exot, der noch von Hand schreibt. Offenbar komponiert er digital, mit Tastendrücken.         Ja, meine Handschrift gehört eng zu mir und davon möchte ich mich nicht scheiden lassen. Ich nenne es auch "Skizzenbuch", weil ich mir angewöhnt habe Orte, Gegenstände, Landschaften und Menschen zu skizzieren. Dabei geht es mir nicht um Kunstwerke für die Nachwelt, sondern um den Prozess der eigenen Wahrnehmung. Der raum- und kunstschaffende Architekt Le Corbusier hat immer wieder in einer etwas anderen Formulierung ausgedrückt, dass er nur das wirklich gesehen habe, was er auch skizziert habe. Man muss üben zu sehen, was man sieht oder schöner in seiner Originalpoesie: "Il faut savoir voire ce que l'on voit." 2. Seit vielen Jahren gehe ich wo immer ich auch gerade bin, 1 x pro Woche früh morgens joggen, z.Z. ist es der Samstag Morgen so um die 5 oder 6 h herum, bei jedem Wette, im Sommer 2 h früher. In diesem inneren Zustand zwischen Schlaf und Wachsein, in der Dämmerung, kommen mir wirklich gute Ideen oder werden mir von einer höheren Instanz aus Aufgaben zugewiesen, welche ich - ja nur ich - ganz persönlich - anpacken soll. Manchmal fallen mir auch kreative Gedanken und Ideen zu Fragen oder Aufgabenstellungen zu, welche ich mit mir herumgetragen, in den Schlaf mitgenommen habe.

...sehr interessant..schön, es gibt immer mehr bewußte menschen....ich finde auch dass wir in erster linie zu uns selbst finden müssen...das viele tun und shoppen und reisen sind oft eine flucht vor sich selbst...wir stopfen unsere wunden mit dingen und beziehungen die uns nur mehr schwächen...die wirkliche kraft ist in uns und in der natur...singen tanzen loslassen akzeptieren zufriedenheit viel in der natur und mit guten menschen zusammen sein macht mich glücklich... die seele ist für mich im ganzen körper nicht nur im kopf...wenn sie als kind verletzt wird wandert sie mehr und mehr zum kopf...der spielt uns dann streiche...leider...das ist nur mein gefühl...ein teil davon schließt sich ein und wenn man sie später wieder hervorholt ist es viel arbeit und viel liebe und erfahrungen gehören dazu, sie zu befreien von  allen ängsten...

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Einer meiner Vorgesetzten möchte einen Ruheraum einrichten. Mit angenehmer Musik. Ich habe ihn gefragt: Muss die Musik sein? Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ich einen sehr spezifischen Musikgeschmack habe. Ich möchte keine Musik, die die Anderen auflegen. Er bleibt aber dabei, die Musik einzuführen. Privat habe ich mich sogar vom Fitnesszentrum verabschiedet. Denn die dort gespielte Musik ist auch nicht mein Geschmack. Das Abo muss ich trotzdem noch lange bezahlen. Muss man sich das alles eigentlich gefallen lassen? Wer darf entscheiden was mir gut tut und was für mich inspirierend ist?

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Katharina Peter

Controlling/Reporting/Accounting

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Körper Geist Seele sollte eine Einheit bilden 

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Cornelia Katinka Lütge

People + Communication I Team ibak driving change through sustainability

5y

Gerne gelesen und hoch erfreut, dass das Thema so viele LeserInnen und Kommentare fand. Die Bewusstheit für notwendige Selbstfürsorge und Selbstbestimmtheit nimmt zu. Viele trudeln eben nicht nur im digitalen Strom z. B. voran, sondern „spüren“, was es bewirkt. Und reagieren.

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