Berlin war Vorreiter, inzwischen schieben Radfahrer auch in anderen deutschen Städten, unter anderem in Bamberg, Darmstadt, Hamburg und Frankfurt, einen Bürgerentscheid für eine bessere Radverkehrspolitik an. Thijs Lucas hat einen solchen Radentscheid in Stuttgart mit initiiert – ausgerechnet in der Stadt von Daimler und Porsche mit einem grünen Oberbürgermeister. 

ZEIT ONLINE: Herr Lucas, der Grüne Fritz Kuhn ist seit 2013 Oberbürgermeister in Stuttgart. Da erwartet man, dass das Rathaus aus eigenem Antrieb genügend für einen guten Radverkehr in der Stadt macht. Sie haben trotzdem einen Bürgerentscheid für besseren Radverkehr angeschoben. Warum?

Thijs Lucas: Was Stuttgart für den Radverkehr macht, ist ungenügend angesichts der enormen Probleme, die in der Stadt seit den Neunzigerjahren bekannt sind: die vielen Staus, die schlechte Luft. Zwar wäre es falsch, zu behaupten, dass in den letzten Jahren nichts für Radfahrer passiert ist. Aber sehr vieles scheitert im Gemeinderat. Für unkonkrete Positionen à la "Wir wollen mehr Radverkehr" findet sich leicht eine Mehrheit, aber sobald es an konkrete Maßnahmen geht, ziehen viele die Köpfe ein.

ZEIT ONLINE: Wie zeigt sich das?

Lucas: Man will etwas machen, aber möglichst nichts am Status quo ändern: "Einen Radweg anlegen? Gute Idee … ach nee, dort würden dann ja Parkplätze wegfallen! Lasst uns lieber eine Alternative prüfen." Der Gemeinderat steht sich bei der Verkehrswende selbst im Weg. Zudem sitzen in der Verwaltung an wichtigen Stellen Leute, die Stadtplanung gelernt haben, als die autogerechte Stadt das Nonplusultra war. Die halten es schon für das Maximum, Radschutzstreifen auf die Straßen zu pinseln.

ZEIT ONLINE: Die Stadt selbst will den Anteil des Radverkehrs auf 20 Prozent steigern – momentan liegt er bei fünf bis sieben Prozent. Warum fahren in Stuttgart nicht mehr Menschen Rad?

Lucas: Das Problem sind, kurz gesagt, mangelnde Sicherheit für Radfahrer und die fehlende Radinfrastruktur.

ZEIT ONLINE: Mangelnde Sicherheit? Die Unfallstatistik sieht recht gut aus.

Lucas: Kein Wunder, denn hier fahren fast nur Leute Fahrrad, die das schon sehr lange machen und aufgrund ihrer Erfahrung Gefahren erkennen, weit bevor sie auftreten. Die Unerfahrenen trauen sich erst gar nicht aufs Fahrrad. Man sieht auch vergleichsweise wenige Kinder auf Rädern. Die ganze Stadt ist halt auf das Auto ausgelegt. Jede deutsche Großstadt hat zumindest eine schlechte Radinfrastruktur – Stuttgart hat nicht mal eine schlechte.

ZEIT ONLINE: Die Stadt schreibt, es gebe in Stuttgart 180 Kilometer Radweg.

Lucas: Diese Zahl verwundert uns sehr. Die Stadt konnte uns auch nicht erklären, worauf sich die Zahl bezieht. Jemand hat über Open Street Maps die vorhandene Radinfrastruktur in Stuttgart ausgerechnet: Echte Radwege gibt es im Umfang von etwa acht Kilometern. Es wurden zwar jede Menge Radschutzstreifen auf die Fahrbahn gemalt, aber das sind keine Radwege. Acht Kilometer in einer Stadt mit über 1.000 Kilometern Straßennetz, das ist ein Witz! Hinzu kommt, dass diese paar Radwege nicht vernetzt sind. Die fangen irgendwo an und enden plötzlich wieder.

ZEIT ONLINE: Geht es in Ihrem Bürgerbegehren also nur um Radwege?

Lucas: Die sind natürlich entscheidend. Wenn der Radanteil auf 20 Prozent steigen soll, muss die Stadt es schaffen, dass nicht mehr nur die Erfahrenen Rad fahren, sondern Jung und Alt, Kinder und Senioren in jeder Erfahrungsstufe. Dafür muss der Autoverkehr grundsätzlich auf 30 km/h gedrosselt und Durchgangsverkehr verringert werden. Dort, wo Tempo 30 nicht durchzusetzen ist, zum Beispiel auf Hauptstraßen, fordern wir vom Autoverkehr baulich getrennte Radwege, die wenigstens den Mindeststandard erfüllen. Außerdem müssen gefährliche Einmündungen und Kreuzungen durch Umbau entschärft werden. Stuttgart braucht auch Tausende neue Radabstellplätze. Aber es geht nicht allein um die Infrastruktur.