DIESER VERDAMMTE LÄRM!

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Kinder und Bildung

DIESER VERDAMMTE LÄRM!

Kürzlich habe ich als Vertretungslehrer gearbeitet und muss nun etwas schreiben, was mir als Schüler noch ziemlich peinlich gewesen wäre: Eine öffentliche Verteidigung der Lehrkräfte.

Profilbild von Bent Freiwald
Bildungsreporter

Du kommst an deinen Arbeitsplatz, auf dem Flur wartet schon der erste Kollege: „Paul hat mir ein Bein gestellt“, meckert er, „und jetzt tut mein Arm weh!” Du wimmelst ihn ab, gehst in dein Büro, wo schon die anderen 30 Mitarbeiter warten. „Was machen wir heute?”, fragt dich dein Praktikant. „Lass mich doch erstmal ankommen“, antwortest du.

Weiter hinten zerren sich zwei deiner Kolleginnen durch den Raum, treten, rufen: „Arschfotzengesicht!“ „Alder, das nimmst du zurück, du Bitch!“ Du denkst: „Was wollen die? Ich versteh kein Wort.“ Und ausgerechnet der Kollege, der heute eine wichtige Präsentation halten sollte, hat all seine Sachen (natürlich aus Versehen) zuhause vergessen.

Übertrieben? Mitnichten.
Etwas zugespitzt? Vielleicht.
Für Lehrer? Alltag.

Meine Schulzeit als Kind war so, naja. Als Kind zweier Schulleiter (ich weiß, das ist krass) hatte ich trotzdem immer etwas Mitleid mit den Lehrern. Zehn Jahre später stehe ich dann vor einer Klasse, für mich als Student: Ferienjob als Vertretungslehrer (dank Lehrermangel). Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein, drei Monate lang. Und ziemlich schnell wird mir klar: Wenn ich auch nur die Hälfte dieser Zeit schaffe, schreibe ich mir selbst eine Eins ins Zeugnis.

„Es wäre einfach mal schön, wenn uns nicht alle für Idioten halten würden“, hat mir eine Lehrerin geschrieben, als ich unsere KR-Mitglieder nach Erfahrungen in der Schule gefragt habe.

Wir werden nicht zu einem guten Koch, nur, weil wir jeden Abend im Restaurant essen. Logisch. Und trotzdem meinen wir, Lehrer:innen ihren Job erklären zu können, nur, weil wir selbst mal Schüler:in waren. Was für ein Trugschluss.

Nach meiner ersten Woche als Vertretungslehrer war ich mir nahezu sicher: Ich bin genau eine Kinderstimme vom Burnout entfernt. Auch ein Trugschluss, aber ein wichtiger. Denn er hat mir gezeigt, wie anstrengend der Job als Lehrkraft ist, und zwar nicht Eine-Runde-durch-den-Park-laufen-anstrengend, sondern eher Marathon-und-danach-Seilspringen-anstrengend.

Nach drei Monaten des Lehrerseins ist es Zeit für eine Verteidigung.

So oft kommt es nicht vor, dass euch jemand in Schutz nimmt, liebe Lehrer:innen, also lehnt euch zurück und genießt den Moment. Und alle anderen: Ihr habt ja keine Ahnung! Deshalb kommen hier zehn Gründe, warum der Job als Lehrer:in so hart ist.

Hinsetzen. Mitschreiben. Das ist klausurrelevant.

1. DIESER VERDAMMTE LÄRM

Wer sich mal vormittags auf einen Schulhof der benachbarten Schule stellt, der wird, erstens, komisch angeguckt und zweitens, schnell merken, wie VERDAMMT LAUT Kinder sein können. Das weiß auch jeder, der welche zuhause hat. 30 davon in einen zu kleinen Raum zu stecken, macht die Sache NICHT BESSER.

Und wer soll es ihnen verübeln? Kinder haben Energie, und die will raus, meistens mitten im Unterricht.

Können sie die Energie nicht einfach im Sportunterricht rauslassen? Nein, können sie nicht, sie können sie nur auch im Sportunterricht rauslassen. Und das immer zum Übel des Sportkolleg:innen, der durch 30 schreiende, hochrote Köpfe hindurch versucht zu erklären, dass Brennball doch eigentlich ganz anders gespielt wird (ja, ich habe Sport unterrichtet).

Natürlich warten Schüler:innen nicht, bis jemand anderes ausgeredet hat. Der Lehrer hat mich nicht gehört? Dann war ich wohl zu leise. Ich probiere es nochmal, dieses Mal in GANZ LAUT.

„Ruhe bitte!“, ist wahrscheinlich einer der Top-10-Sätze in der Schule, und er ist nicht nur Ausdruck einer Aufforderung. Hier spricht die Sehnsucht der Lehrer:innen nach ein paar Minuten Stillarbeit gleich mit.

Einfach mal Ruhe …

… bitte …

…!?

2. Acht Stunden auf der Bühne

Sich hinter dem Laptop verstecken und vor sich hinarbeiten, unbeobachtet, so wie ich in unserer (übrigens schön ruhigen) KR-Redaktion, ist für Lehrer:innen nicht drin.

Sie stehen auf einer Bühne, auf dem berühmten Präsentierteller, und das in jeder Stunde. 30 Kinderaugenpaare schauen sie (im besten Fall gleichzeitig) an. Und hat das Publikum sich gerade an sie gewöhnt, wartet die nächste Vorstellung – neuer Raum, neues Publikum, neues Theaterstück.

Hellwach sein und performen, sonst tanzen den Lehrer:innen die Zuschauer auf dem Kopf herum. Sie sind sogar noch dafür verantwortlich, dass sich ihr Publikum benimmt. Hin und her, quer durch den Raum, hier eine Frage beantworten, dort den Schüler mit der Fünf-Minuten-Aufmerksamkeitsspanne wieder zurückholen.

In den meisten Fällen wären die Schüler:innen nicht einmal freiwillig in diese Vorstellung gegangen, sie wurden gezwungen, so eine Zumutung!

Und ist die Klasse mal ruhig, ja, passen die Kinder gerade ausnahmsweise mal auf (es soll sie noch geben, die Wunder des Lebens), sollen sie auch noch zur Mitarbeit motiviert werden. Den ersten Kindern wird dann bewusst, dass das gar keine Theatervorstellung ist, sondern tatsächlich etwas von ihnen erwartet wird. Schon wieder so eine Zumutung.

Aber Lehrkräfte haben, wie bei einem Theaterstück, immer ein gut ausgedachtes Drehbuch dabei, von Anfang bis Ende der Stunde. Nur leider kommt bei der Aufführung immer etwas dazwischen, ärgerlich. Es läuft auf Impro-Theater hinaus.

3. Mentale Dauerverfügbarkeit

Ich kann mich gerade eh nicht so richtig konzentrieren, also schalte ich mal für ein paar Minuten ab. Was esse ich denn mal heute Mittag? Einfach mal zurücklehnen, die Gedanken schweifen lassen.

Mach das mal als Lehrer:in, das wird super.

Lehrkräfte stehen in ständiger Interaktion mit ihren Schüler:innen. Bis zu 200 Entscheidungen, so schätzt man, trifft eine Lehrkraft pro Unterrichtsstunde. Und jede einzelne Entscheidung hat ihre Konsequenzen: didaktisch, fachlich, pädagogisch, persönlich, nicht nur für die Lehrkraft selbst, sondern auch und vor allem für die Schüler:innen. Die allerschlimmste Entscheidung: „Nein, wir gucken heute keinen Film.“ Och, manno. Aber Herr Freiwald! Wieso denn nicht!? Da kann man doch auch was lernen! Und, Sie haben es doch versprochen!

Verliert eine Lehrkraft den Faden, muss sie gar in ihren Unterlagen nachgucken, nutzen die Kinder jedes noch so kleine Zeitfenster. Die Lautstärke steigert sich langsam, allgemeines Gebrabbel, die ersten Kinder stehen mitten im Raum, unterhalten sich jetzt lautstark, Tische und Stühle werden verrückt, Sitzkreise bilden sich.

4. Was sind Lehrer eigentlich nicht?

Lehrkräfte vermitteln Wissen, klar. Oder nein, Kompetenzen, das ist das neue, viel schönere Wort. Längst deckt der Job noch ganz andere Aufgabenfelder ab. Eine ehrliche Stellenausschreibung für Lehrer:innen sähe vielleicht so aus:

Suchen m/w Lehrer/in für 48 Std. in der Woche. Aufgabenbereiche u.a.: Kompetenzvermittlung, Erziehung, Krankenpflege, Streitschlichtung, Animation, Clownerie, Büroarbeit, Dokumentation, Training, Sozialarbeit, IT, Selbstverteidigung (meistens verbal). Und es wäre schön, wenn Sie sich darüber hinaus noch freiwillig engagieren könnten. Im Sport, in der Musik, in der Theater-AG, vielleicht in der Integration oder als Lotse.

5. Einmal erziehen, bitte!

Was ist gute Erziehung? Hier scheiden sich die Geister. Und manche Geister scheiden sich so lange, bis sie die Erziehung ihrer Kinder einfach ganz den Lehrer:innen überlassen.

Das bedeutet dann für den Lehrer oder die Lehrerin: Bevor es überhaupt fachlich wird (hatten sie ihr Fach nicht aus gutem Grund ausgesucht?), müssen die Kids erzogen werden.

Nicht alle, aber schon ein einziges Kind kann den gesamten Unterricht sprengen. Manche Kinder kommen in die Schule, wissen nicht, wie man sich die Schuhe bindet, einen Ranzen packt oder was das Wort Nein überhaupt bedeutet. Deswegen müssen Lehrkräfte ständig: ermahnen, belehren, hinweisen, zurechtweisen, nachfragen, aktivieren, motivieren, loben, erklären, erwidern. An manchen Tagen nimmt das den Großteil der Arbeit ein.

Und: Wer Kinder erzieht, baut eine emotionale Bindung zu ihnen auf. Und da lässt es einen sicher nicht kalt, wenn ein Kind – mal wieder – ohne Frühstück in die Schule kommt und auch sonst auf sich allein gestellt ist. Durch den Ausgang gehen und alle Sorgen in der Schule lassen, das sei „super schwer“, schrieb mir eine andere Lehrerin, „das sind Kinder, das sind Menschen, keine Zahlen oder Produkte.“

6. DIESER LÄRM, NOCHMAL

Ist es gerade schön ruhig um dich herum, während du diesen Text liest? Dann stell dich doch mal zum Lesen auf den Schulhof der nahegelegenen Schule und versuche, dich dabei zu KONZENTRIEREN. Dann wirst du, erstens, wieder komisch angeguckt, aber auch, zweitens, schnell merken: Ja, es ist berechtigt, dass dieser Punkt hier zweimal genannt wird.

Und jetzt, endlich, RUHE. BITTE! Sonst: Eintrag ins Klassenbuch! Sofort! Oder: Zur Schulleitung! Willst du das?

7. Immer mehr Aufgaben, immer weniger Zeit

Der Job als Lehrkraft hat sich verändert in den vergangenen Jahren. Wie? Was? Warum? Die unterrichten doch noch.

Ganz einfach: Die Gesellschaft hat sich verändert. Und das merkt man zuallererst in den Schulen. Digitalisierung, Inklusion, Integration – und die Lehrkräfte haben sich darauf einzustellen.

Natürlich gibt es Lehrer:innen, für die der Umgang mit I-Pad, Cloud und Kamera selbstverständlich ist. Die nehmen sich dann gerne einen der zwei funktionierenden Schulcomputer zur Hilfe.

Aber es gibt eben auch jene, die sich privat recht wenig dafür interessieren und einfach nicht die Kompetenz besitzen, ihren Schüler:innen das Neuland Internet zu erklären, geschweige denn, es sinnvoll in den Unterricht einzubinden.

Wie schnell und effektiv gesellschaftliche Veränderungen in den Schulen umgesetzt werden, hängt also nicht nur vom Lehrplan und von den Finanzmitteln des jeweiligen Bundeslandes ab. Sondern auch von jedem Lehrer und jeder Lehrerin persönlich.

Beispiel Inklusion: Frage 100 Lehrer:innen, wie gut sie auf die Inklusion vorbereitet wurden, und du erhältst 100-mal die gleiche Antwort. Gar nicht. Learning by doing oder zumindest by trying – das ist meistens die Antwort auf neue Anforderungen und Vorgaben aus dem Bildungsministerium. Und weil praktisch jede neue Landesregierung meint, das Bildungssystem sei genau die eine, nämlich ihre Reform von der Revolution entfernt, ändert sich das System alle paar Jahre.

Schreiben nach Gehör, Ganztagsunterricht, Gemeinschaftsschulen, G9, G8. Nee, doch wieder G9, ist doch besser. Oder nicht?

8. Pausen, nur ein schöner Traum

Pausen sind: Elternarbeit, Streit schlichten, Gespräche mit Kolleg:innen, Gespräche mit Schüler:innen, Gespräche mit der Schulleitung, Gespräche über das letzte Gespräch, kopieren oder Aufsicht auf dem Schulhof.

Aber Pausen sind fast nie: Pausen.

Kämpft sich eine Lehrkraft durch den Schulflur (Bitte nicht rennen! Warum ist das hier eigentlich so laut?) und kommt tatsächlich noch vor dem Klingeln zur nächsten Stunde im Lehrerzimmer an, wird körperliche Anwesenheit oft als kognitive Verfügbarkeit interpretiert.

Da reicht es manchmal gerade so für einen Schluck Kaffee und einen Bissen vom Brötchen, im Stehen. Falls sich nicht gerade der Stundenplan geändert hat oder zwei Streithähne vor dem Lehrerzimmer in eine Prügelei verwickelt sind.

9. Lehrersein ist ein Halbtagsjob? In deinem Kopf vielleicht!

Ist doch nur ein Halbtagsjob. Lehrer:innen haben vormittags recht und nachmittags frei. Klassiker. Und außerdem unverschämt viele Ferien! Pah! Womit verbringen Lehrkräfte ihre vielen freien Nachmittage eigentlich?

Den Unterricht für die kommenden Tage vorbereiten, Klassenarbeiten entwerfen, mit Eltern, Kolleg:innen oder dem Sozialamt sprechen. So stellen wir uns alle unsere Freizeit vor, oder?

Aber wenn ein Lehrer:innen mal alle Klassenstufen unterrichtet hat, muss er doch nichts Neues mehr vorbereiten!

Erstens, jede Klasse ist anders, Kinder verändern sich. Heute eine Deutschstunde zum Thema Hallo, I bims, dein Lehrer vong Beruf her: Was ist das für 1 Textart? Bestimmt der Renner. In zehn Jahren wirkt das mindestens geistig verwirrt.

Zweitens, wie viel ein Lehrer:innen korrigieren muss, hängt stark von der Schulform ab. Aber viele Lehrkrätfte verbringen ihre Wochenenden und Ferien tatsächlich mit dem Rotstift in der einen und dem Rotwein in der anderen Hand. Und dann sind da noch: die Konferenzen. Klassenkonferenz, Lehrerkonferenz, Schulkonferenz, Fachkonferenz, Zeugniskonferenz.

Rate mal, zu wie vielen der Konferenzen ein Lehrer mit 50-prozentiger Stundenzahl gehen muss. Genau, zu 100 Prozent. Darüber könnten sich Lehrer:innen ihre ganzen sechswöchigen Sommerferien lang aufregen.

10. Fehlende Wertschätzung

Okay, bisher bin ich meiner Ankündigung, Lehrer:innen endlich mal zu verteidigen, treu geblieben. Und ja, es stimmt. Wenn Lehrkräfte sich darüber beschweren, zu wenig Wertschätzung zu erfahren, haben sie recht.

Aber da muss ich den Ball zurückspielen. Wer bekommt für seinen Job schon die angemessene Wertschätzung? Deshalb folgt jetzt keine Pointe à la Bewundert die Lehrer:innen endlich für ihre Aufgaben! Das wäre zu einfach, das könnte man für jeden Job einfordern.  

Deshalb hier mein Vorschlag: Lehrkräfte sind die Packesel unserer Nation. Es ist eigentlich unmöglich, uns in sie hineinzuversetzen. Fangen wir also klein an und versuchen, den Wunsch unserer KR-Leserin hin und wieder ernst zu nehmen: Einfach mal nicht alle Lehrer:innen für Idioten halten.


Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel; Aufmacherfoto: skynesher/istock; Audio: Iris Hochberger.

DIESER VERDAMMTE LÄRM!

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