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Zukunft der Arbeit Keine Angst, die Maschinen kommen!

Computer, Roboter, künstliche Intelligenz: Forscher der Universität Oxford fürchten, dass rund die Hälfte aller Jobs künftig wegfallen und von Maschinen übernommen werden könnte. Was ist dran an dieser Horrorvision?
Foto: ISAAC LAWRENCE/ AFP

Für einen, dem Wissenschaftler attestieren, ziemlich bald ziemlich überflüssig zu sein, blickt Sebastian Meier* überraschend optimistisch in die Zukunft. Er ist Mitte dreißig, hat ein Kind, Nummer zwei ist unterwegs. Vor zehn Jahren hat er eine Ausbildung bei einem großen Versicherungskonzern gemacht, seitdem arbeitet er in der Kundenberatung, immer für den gleichen Arbeitgeber.

Morgens legt Meier ein Headset an, lauscht den Problemen und dem Unmut von Kunden oder tippt Antworten auf mal mehr, mal weniger pampig verfasste E-Mails. Meier sagt, er denke sich gern in die Lage der Anrufer hinein: Lässt da jemand - womöglich zu Recht - Dampf ab? Hat die Versicherung einen Fehler gemacht? Dann erträgt Meier ein paar Minuten Schimpftirade und bietet einen Kompromiss an. Oder: Der ältere Herr in der Leitung hat gerade seine Frau verloren und ist mit einer Zahlung in Verzug geraten. Meier räumt dem Anrufer mit ein paar Klicks zwei Wochen zusätzlich Zeit ein.

Klar, der Stress ist gestiegen in den vergangenen Jahren: Meier muss heute mehr Gespräche führen, in kürzerer Zeit, mit weniger Kollegen als noch vor ein paar Jahren. Sein Job mache ihm trotzdem noch immer Spaß, sagt er. Er weiß, dass er ein Talent hat im Umgang mit den Kunden. Das ist auch der Grund, warum er gut schlafen kann. Meistens jedenfalls.

Algorithmen statt Sachbearbeiter

Denn seine Branche - das Geschäft mit Versicherungen - steht vor dem womöglich am tiefsten greifenden technologischen Umbruch ihrer Jahrhunderte alten Geschichte. Die Digitalisierung und die Fortschritte bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI) verändern den Sektor: Statt wie früher Postkarten mit dem aktuellen Kilometerstand ihrer Autos an die Kfz-Versicherung zu schicken, erledigen viele Versicherte das heute per App. Nach einem Unfall laden sie Handy-Fotos der Schäden hoch, binnen weniger Augenblicke kann die Versicherung im Bilde sein. Computer-Algorithmen analysieren die eingegangenen Daten. Sie können im Prinzip innerhalb von Sekunden entscheiden, ob die Versicherung für den Schaden aufkommt oder nicht. Sachbearbeiter schauen nur noch auf die komplizierteren Fälle.

Die Zurich Insurance Group setzt etwa bei der Bearbeitung von Glasschäden Roboter ein. Der Computer archiviert Dokumente und veranlasst selbstständig Überweisungen, ohne dass Menschen eingreifen. Von jährlich rund 40.000 kaputten Autoscheiben muss die Hälfte von keinem Mitarbeiter mehr bearbeitet werden. In Deutschland baut die Allianz 700 Arbeitsplätze ab. Die Signal Iduna will bis zu 100 Millionen Euro in Versicherungsstartups investieren, die neues Know-how einbringen, aber kaum Mitarbeiter.

In der Versicherungsbranche lässt sich bereits heute eine Entwicklung beobachten, die bald die ganze Wirtschaft erfassen wird. Die Digitalisierung hat das Potenzial, Arbeitswelt und Gesellschaft radikal umzuwälzen: Droht Massenarbeitslosigkeit, weil Maschinen in der Lage sein werden, nicht mehr wie früher nur Routineaufgaben zu übernehmen, sondern dem Menschen bald auch das Denken und Kommunizieren abnehmen?

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Fotostrecke: Diese Jobs sind durch Maschinen gefährdet

Foto: Peter Endig/ picture alliance / dpa

Laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey könnten bei Versicherungen schon innerhalb der kommenden zehn Jahre bis zu 40 Prozent aller Stellen wegfallen . Forscher der Universität Oxford kamen in einer aufsehenerregenden Studie sogar zu dem Schluss, dass über alle Sektoren hinweg 47 Prozent aller Berufe von Computern ersetzt werden können (die englische Studie finden Sie hier ). Die Untersuchung der Wirtschaftswissenschaftler Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne wurde von vielen Medien aufgegriffen. Sucht man im Internet nach dem Titel, liefert Google mehr als 10.000 Treffer, ein enormer Wert für eine wissenschaftliche Arbeit. Laut Frey und Osborne sieht es für viele Versicherungsjobs besonders schlecht aus: Ihre "Computerisierbarkeit" schätzen die Oxford-Ökonomen auf 92 bis 98 Prozent.

Gewerkschaften bereiten sich vor

Die Computerisierung hat Vorteile. Den Firmen spart sie Personalkosten, für die Kunden wird es bequemer, schneller - und in vielen Fällen auch günstiger. Wer braucht da noch menschliche Mitarbeiter? Steuern die entwickelten Industriegesellschaften auf ein "Ende der Arbeit" zu? Bricht das Zeitalter der Roboter an - und für die Menschheit eine Art Maschinenwinter?

Der Trend hat heute bereits spürbare Auswirkungen. Derzeit streitet die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di mit den Versicherungskonzernen über den Abschluss eines "Zukunftstarifvertrags Digitalisierung" für die rund 200.000 Beschäftigten der Branche in Deutschland (hier geht es zu einem Ver.di-Entwurf des Tarifvertrags ). Es geht um 4,5 Prozent mehr Lohn, aber nicht nur: Ver.di fordert, den Strukturwandel abzufedern. Die Konzerne sollen sich zu einem Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen verpflichten und in einen "Qualifizierungsfonds" einzahlen. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten in der Branche liegt bei 45 Jahren, die Mitarbeiter sollen mit Weiterbildung fit gemacht werden für neue, anspruchsvollere Tätigkeiten der Zukunft.

Die Tarifverhandlungen wurden Anfang Juni ergebnislos abgebrochen. Die Arbeitgeber bieten ein deutlich geringeres Lohnplus. Vor allem zweifeln sie öffentlich an der Notwendigkeit eines "Zukunftstarifvertrags". Die Gewerkschaften hätten schon 1981 behauptet, der Siegeszug der EDV werde 40 Prozent aller Jobs kosten, kritisiert Michael Niebler, Chef des Arbeitgeberverbands Versicherungen. Tatsächlich "lag die Beschäftigung Ende letzten Jahres mit 207.200 immer noch deutlich über dem Wert von Anfang der Achtzigerjahre".

Nicht weniger Jobs, sondern mehr

Wer hat recht? Die Antwort auf diese Frage fällt auch deshalb so schwer, weil niemand in die Zukunft blicken kann. Die Meinungen unter Wirtschaftswissenschaftlern gehen auseinander. Ein Lager hält die Entwicklungen auf dem Gebiet künstlicher Intelligenz für so gravierend, dass Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht mehr gelten würden. Die Menschheit steht demnach kurz vor dem revolutionären Fortschritt, sich selbst überflüssig zu machen - zumindest in weiten Teilen der Wirtschaft.

Roboter werden bald Roboter beaufsichtigen, die andere Roboter herstellen, das ist die Vision. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller teilt diese Auffassung. Er plädiert deshalb für die Einführung einer Robotersteuer. Die Einnahmen sollen die Not derer lindern, die ohne Arbeit bleiben (hier geht's zu Shillers Plädoyer: Why robots should be taxed if they take peoples jobs ).

Doch es gibt auch Widerspruch. Er kommt von Ökonomen, die weiter davon überzeugt sind, dass die bisherige Entwicklung durchaus Rückschlüsse erlaube auf das, was in der Zukunft auf die Gesellschaft zukommen wird, Roboter hin oder her. Der Forscher Terry Gregory vom Mannheimer Forschungsinstitut ZEW gehört zu dieser Gruppe. Seine Arbeiten zeigen, dass Digitalisierung in der Vergangenheit nicht zu weniger Arbeit geführt hat - sondern sogar zu mehr Jobs. Und: Es gebe auch wenig Belege dafür, dass sich das in der Zukunft ändern werde.

Gregory hat sich die Untersuchung der Oxford-Ökonomen genauer angesehen und ist auf ein zentrales Problem gestoßen. "Frey und Osborne werfen alle Jobs einer Berufsklasse in eine Schublade und stufen sie dann gleichermaßen als automatisierbar ein", sagt Gregory. Daher rühre auch der extrem hohe Anteil von 47 Prozent automatisierbaren Arbeitsplätzen. In Wahrheit sei aber die Vielfalt der Tätigkeiten innerhalb eines einzelnen Berufs enorm. Bauarbeiter - im Modell von Frey und Osborne eigentlich leicht zu ersetzen - "haben sich tatsächlich schon heute in der Regel auf Tätigkeiten fokussiert, die nicht von Maschinen übernommen werden könnten", sagt Gregory.

Berufe seien künstliche Zusammenfassungen von teilweise sehr unterschiedlichen Tätigkeiten, um Ausbildungsgänge zu gestalten. Dahinter verbergen sich aber sehr unterschiedliche Profile. Ein Beispiel sind Buchhalter: Frey und Osborne kommen zu dem Schluss, dass ihre Jobs zu 94 Prozent von Computern übernommen werden könnten. Tatsächlich machen Routineaufgaben bei vielen Buchhaltern heute aber nur noch einen kleinen Teil der Arbeitszeit aus. Den Schwerpunkt bilden meist komplexere Aufgaben, Abstimmungen im Team, die Kommunikation mit anderen Unternehmensbereichen.

ZEW-Forscher Gregory hat gemeinsam mit zwei weiteren Forschern im Auftrag der Industrieländerorganisation OECD eine eigene Analyse des "Automatisierungsrisikos von Jobs" erstellt (die Studie finden Sie hier ). Der Unterschied: Die Untersuchung geht nicht davon aus, dass ganze Berufsbilder durch Computer obsolet werden, sondern sukzessive einzelne Tätigkeiten automatisiert werden. Das Ergebnis ist erstaunlich: Demnach ist nicht jeder zweite Job bedroht, sondern nur neun Prozent. Das ist ein Durchschnitt über alle OECD-Länder. Für Deutschland kommt Gregory auf zwölf Prozent. Der etwas höhere Wert komme vermutlich daher, dass Deutschland im internationalen Vergleich besonders viele Industriearbeitsplätze hat.

Am Telefon meldet sich Kollege Computer

Dass "Kollege Computer" in der Vergangenheit eher einzelne Tätigkeiten übernommen hat statt komplette Stellen, hat Versicherungsberater Sebastian Meier ebenfalls erlebt. Seine Kunden lösen heute einfache Probleme leichter online. Sie mailen eine neue Anschrift oder eine geänderte Kontoverbindung. Anrufer haben seit einiger Zeit auch zunächst einen Computer an der Strippe: Eine Telefonschaltung fragt zunächst vollautomatisch die Versichertennummer ab. Das bringt 10 bis 15 Sekunden pro Anrufer und zwischen 16 und 25 Minuten Zeitersparnis pro Mitarbeiter und Tag.

"Die Gespräche sind komplexer geworden", sagt Meier. Damit die Mitarbeiter im Call Center den Anrufern zügig helfen können, hat der Versicherungskonzern eine umfangreiche Datenbank zusammengestellt, auf die die Telefonisten zugreifen können. Hat Sebastian Meier Angst, dass die Versicherten eines Tages auch direkt Zugriff bekommen könnten auf die Datenbank, per Smartphone-App oder mit einem Chatroboter?

Meier schüttelt den Kopf. Dann sagt er: "Wir betreiben ja eine Versicherung." Er meint: Die Anrufer, die er an der Strippe hat, suchen Verlässlichkeit, eine Aussage, bei der sie sicher sein können: Sie trifft auf meinen Fall zu. Meier vergleicht das mit einem Kind, das zum ersten Mal Fieber habe. "Alle Eltern googeln, was die Symptome bedeuten könnten. Wenn sie dann rausgefunden haben, dass es entweder ein Schnupfen ist oder eine tödliche Seuche machen sie sich auf den Weg zum Arzt."

Alle zwei Jahre verdoppelt sich die Leistung von Computern

Orientierung geben, Erfahrungen teilen - Sebastian Meier hofft, dass diese Wettbewerbsvorteile reichen werden, um seinen Job noch lange machen zu können. "Gern bis zur Rente", sagt er. Aber natürlich ist auch ihm nicht entgangen, dass die technischen Neuerungen der vergangenen Jahre Jobs gekostet haben. Die Zahl der Kollegen in der Kundenbetreuung ist kleiner geworden.

Vernichtet der technische Wandel also doch Arbeitsplätze - nur vielleicht in etwas geringerem Ausmaß, als befürchtet? "Nicht zwangsläufig", sagt Forscher Gregory. Der Einsatz moderner Technologien setze eine Kaskade von Prozessen in Firmen und Branchen in Gang. Stellenabbau sei nur ein Teil davon. Unternehmen würden profitabler, produzierten mehr - und stellten mehr Personal an anderen Stellen ein, wo es nicht so leicht zu ersetzen ist.

Das ZEW hat diese Effekte auf die Nachfrage nach Arbeitskräften in Europa geschätzt. Technische Neuerungen haben von 1999 bis 2010 demnach europaweit 9,6 Millionen Arbeitsplätze gekostet. Auf der anderen Seite habe der technologische Wandel in der gleichen Zeit viele neue Jobs geschaffen: 21 Millionen, um genau zu sein. "Menschliche Arbeit liefert sich kein Wettrennen mit der Technik", sagt Gregory. "Beide laufen Hand in Hand".

Das würde erklären, warum weder Deutschland noch Europa die Arbeitsplätze ausgegangen sind - obwohl sich die Rechengeschwindigkeit von Computern seit 1971 im Schnitt alle zwei Jahre verdoppelt. In Deutschland liegt die Zahl der Beschäftigten mit 44 Millionen Menschen so hoch wie nie zuvor. Auch EU-weit ist der Anteil der Erwachsenen in Lohn und Arbeit nicht gefallen, sondern seit 2005 von 63 Prozent auf 67 Prozent gestiegen.

Ohne Probleme ist die Entwicklung dennoch nicht: Denn vor allem Arbeitsplätze mit mittleren Qualifikationsanforderungen fallen weg. Die neuen Jobs hingegen entstehen entweder für Spitzenkräfte - oder für Geringqualifizierte. Der Einsatz von 3D-Druckern ist ein Beispiel: "Der wird von einem Ingenieur programmiert, kann dann aber von einer ungelernten Kraft bedient werden", sagt Ökonom Gregory. Klassische Industriefacharbeiter bleiben auf der Strecke. In Deutschland sind laut OECD so seit 1995 acht Prozent der Arbeitsplätze mittlere Qualifikation weggefallen, während die Nachfrage nach niedrig und hoch qualifizierten Kräften gestiegen ist.

Und wenn Gregory sich doch irrt - und die Vergangenheit kein Muster für die Zukunft mehr ist, weil künstliche Intelligenz Arbeit und Fortschritt endgültig vom Menschen abkoppelt?

Der Forscher kramt auf seinem Schreibtisch einen Artikel hervor und beginnt vorzulesen. "Lediglich der Zeitpunkt ist umstritten. Die Experten sind in zwei Lager gespalten. Die einen behaupten, dass die Flut schnell ansteigt und in 20 Jahren 80 Prozent der Arbeitsplätze vernichtet. Die anderen sind der Ansicht, dieses Ergebnis werde erst später erreicht", steht da.

Der Artikel stammt aus der SPIEGEL-Ausgabe vom 17. April 1979. Die Angst vor dem Ende der Arbeit ist nicht neu, will Gregory damit sagen. "Die Schreckenszenarien haben sich noch kein einziges Mal bewahrheitet."

*Sebastian Meier heißt in Wahrheit nicht Sebastian Meier. Er hat für das Gespräch um die Änderung seines Namens gebeten.