Ein riesiger brauner Bulle, das verzottelte Fell hängt in Fetzen, steht auf einem Deich der deutschen Seite der Oder. Es ist kein entlaufener Zuchtbulle, kein Mastbulle, es ist überhaupt kein Stall- oder Wiesentier. Es handelt sich um einen Wisent.
Ein Spaziergänger entdeckt das Tier. Er ist erschreckt vom ungewöhnlichen, ja furchteinflößende Anblick. Er ruft die Polizei. Die Nacht steht bevor, der ebenfalls alarmierte Veterinär kommt nicht rechtzeitig. So werden örtliche Jäger beauftragt, das Tier zu erschießen. So weit, so korrekt handelten hier alle Beteiligten. Doch der Vorfall wird zu einem Politikum. Hass auf Deutsche, Anzeige des Jägers, ja, Hysterie ist die Folge.
Zum Verständnis: Der Wisent ist ein Wildtier, das es in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr gibt. Es wurde in ganz Europa nahezu ausgerottet. Nach dem ersten Weltkrieg gelang es, diese Tiere in Ostpolen wieder auszuwildern. Nur hier lebt eine größere Population in freier Wildbahn.
Das Wappentier polnischer Firmen
Das vor einigen Tagen an der deutschen Oder erlegte Tier hatte die Oder überquert. Wie, ist unbekannt. Der Schuss des Jägers brachte polnische Tierfreunde in Rage. Sie machen ihrer Empörung Luft. Auch antideutsche Töne werden laut.
Der Wisent ist neben dem weißen Adler eine Art zweites Wappentier Polens und erscheint im Logo mancher Firmen. Selbst die liberale „Gazeta Wyborcza“ nahm sich jetzt des abgeschossenen Wisents an. „Ich weiß nicht, was trauriger ist“, schrieb Korrespondent Kamil Sialkowski aus der Grenzregion, „die Nachricht vom Tod dieses Tiers oder die Welle antideutschen Hasses.“
Der getötete Wisent hat eine Vorgeschichte. Er war zum Lieblingstier der Einwohner in Landsberg (Gorzow) geworden. Immer wieder war er im Stadtgebiet aufgetaucht, ohne jedoch einen Menschen zu gefährden. Ein Vorgänger von ihm war 2015 bei einem Zusammenstoß mit einem Skoda Fabia ums Leben gekommen; das Auto war schrottreif, der Wisent erlag im Wald seinen Verletzungen.
Was will er in Deutschland?
Wenig später hatte die Stadt einen neuen Wisent. Die Einwohner nannten ihn den „Wanderwisent“ oder, in Anlehnung an den polnischen Namen der Stadt, „Go-Zubr“ (zubr heißt Wisent). Immer wieder wurde er fotografiert und seine Bewegungen kommentiert. Als er sich einmal der Oder näherte, fragten die örtlichen Medien: „Will er nach Deutschland?“
Der Ausflug nach Westen, bei dem er vermutlich keine Brücke benutzte, sondern die Oder durchschwamm, endete für ihn tödlich. Nachdem der Wisent im Städtchen Lebus bei Frankfurt an der Oder aufgetaucht war, läuteten bei allen deutschen Behörden die Alarmglocken. Da ein Tierarzt mit Betäubungsgewehr nicht schnell genug aufzutreiben war, entschied das Ordnungsamt „zum Schutz der Bevölkerung“ auf Abschuss. Zwei Jäger erlegten den Wisent.
Daraufhin brachen sich in Polen Wut und Trauer Bahn, bis hinauf ins Parlament. Dessen Vizepräsident Joachim Brudzinski, einer der engsten Vertrauten von Parteichef Jaroslaw Kaczynski, twitterte: „Der Bursche wollte in Deutschland ein Weibchen suchen, aber die Deutschen haben ihn einfach erschossen. Vielleicht werden sich außer den deutschen Ökologen auch die Feministinnen zu Wort melden?“
„Deutschen liegt das Morden im Blut“
Andere Twitter-Nutzer schrieben, „in einem zivilisierten Land wie Polen“ habe der Wisent friedlich gelebt, aber in Deutschland sei er gleich abgeknallt worden. Auch politisch bedenkliche Reaktionen tauchten in den sozialen Medien auf. Die Deutschen hätten „das Morden im Blut“, hieß es da. „Wenn sie doch auch mit islamischen Terroristen so schnell handeln würden“, schrieb ein weiterer Nutzer. „Den Wisent haben sie erschossen, aber mit den Flüchtlingen werden sie nicht fertig“, meinte ein anderer.
Inzwischen hat der WWF Deutschland Anzeige gegen den Lebuser Amtsdirektor gestellt. Der Abschuss eines streng geschützten Tiers, das seit fast 300 Jahren zum ersten Mal in Deutschland gesichtet worden sei, sei eine Straftat, teilte der WWF mit.
Das Amt Lebus hat den angeordneten Abschuss eines freilaufenden Wisents in Ostbrandenburg verteidigt. Amtsdirektor Heiko Friedemann sagte am Freitag: „Ich hab da kein Abwägungsermessen, sondern Leib und Leben geht vor.“
Großwild in polnischen Städten
Anders als in Deutschland ist der Anblick von Großwild in Großstädten in Polen nichts Ungewöhnliches. Im Land lebt eine Population von mehreren Tausend Elchen. Fast jeden Winter kommt es vor, dass ein junger Elch sich in einen Vorort von Warschau verirrt. Allerdings reagieren die Elche auf Menschen ängstlicher als Wisente und lassen sich auch nicht so gern fotografieren. In den Karpaten im Süden kommt es gelegentlich zu Begegnungen von Menschen mit Bären.
Der Wisent von Landsberg ist als Menschenfreund und sogenannter Kulturfolger, der sich menschlichen Siedlungen nähert, eine Ausnahmeerscheinung. Die Wisente waren nach dem Ersten Weltkrieg in freier Wildbahn weltweit ausgerottet. In deutschen Landen wurde der letzte Wisent schon im 18. Jahrhundert erlegt. Allerdings gelang es in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Ostpolen, die Art im Bialowieza-Urwald in einem Zuchtgehege zu retten und ihren Bestand so zu vermehren, dass die Wisente später ausgewildert werden konnten.
Heute leben etwa 1500 Wisente in Polen frei in fünf Regionen, vor allem bei Bialowieza, im Bieszczady-Gebirge, in den Masuren und im Netzebruch im Westen Polens. Von dort dürfte auch der „Go-Zubr“ nach Landsberg zugewandert sein. Der Wisent wird bis zu 2,70 Meter lang und 1,95 Meter hoch; ein Bulle kann eine Tonne schwer werden. Weitere wilde Vorkommen gibt es heute offenbar im Kaukasus und in der Tschernobyl-Sperrzone in der Ukraine.
Landwirte gegen Wisente
Der Abschuss des Wisents an der Oder erinnert an den jüngsten Wisent-Streit in Polen. Dort hatte der umstrittene Umweltminister Jan Szyszko, ein leidenschaftlicher Jäger, in diesem Jahr die Abschussbestimmungen für Wisente gelockert. Nach Protesten von Umweltschützern wurde der Abschuss gestoppt. Gegen Szyszko selbst wird gerade ermittelt, weil er Besitzer eines Luchsfells ist. Luchse sind, wie Wölfe, Bären und andere Tiere, in Polen geschützt.
Im deutschen Rothaargebirge unternahm der Waldbesitzer Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg 2013 einen Versuch der Auswilderung. Vor allem waren es Landwirte, die gegen die Wisente protestierten. Eine Behörde verhängte über die Tiere ein Waldbetretungsverbot. Am Ende befasste sich im Mai das Oberlandesgericht Hamm mit dem Fall, die Fortsetzung vor dem Bundesgerichtshof ist nicht ausgeschlossen.
Hinweis: In einer früheren Version haben wir die Jäger als Förster bezeichnet. Wir bitten diese Verwechslung zu entschuldigen.