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Wie Staatsanwälte mit Konzernen um Bußgelder feilschen

Wirtschaftsskandale gibt es in Deutschland reichlich. Doch ihre Aufarbeitung durch die Justiz ist eingeschränkt, weil sie gegen Unternehmen nur Bußgelder verhängen kann. CORRECTIV liegen Unterlagen und geheime Tonbänder zu einem der größten deutschen Schmiergeldskandale vor, die zeigen, welche Blüten das treibt: Münchner Staatsanwälte ließen ein Unternehmen offenbar am Bußgeldentscheid mitwirken – auch um damit den Ruf des Konzerns zu schützen.

von Henrike Freytag , Frederik Richter

Ferrostaal_Muenchen

Wirecard. Cum-Ex. Der Diesel-Abgasskandal. Die Liste der Wirtschaftsskandale in Deutschland ist lang. Doch ob die Justiz die Skandale ausreichend aufarbeitet, lässt sich in vielen Fällen nicht überprüfen. Denn Deutschland ist eines der wenigen Länder ohne ein Unternehmensstrafrecht: Staatsanwälte können deswegen nur gegen einzelne Manager und nicht gegen Firmen ermitteln. Sie greifen oft genug zu wackeligen Hilfskonstruktionen und müssen auch milliardenschweren Betrug als Ordnungswidrigkeit behandeln – die sieht eine Höchststrafe von 10 Millionen Euro vor.

Es gibt schon lange Forderungen nach einem Unternehmensstrafrecht, mit dem Firmen direkt bestraft werden können. Damit könnte eine bisherige Praxis erschwert werden, bei der Staatsanwälte mit den betroffenen Konzernen um Bußgeldhöhen feilschen müssen. Sie müssen die Interessen des Unternehmens mit denen der Opfer von Straftaten sowie dem öffentlichen Interesse an Strafverfolgung in Einklang bringen – ein Interessenkonflikt, der sich derzeit oft genug hinter den Kulissen abspielt. Die Umsetzung eines Unternehmensstrafrechts scheitert aber am Widerstand der Wirtschaft.

Unterlagen aus einem Schmiergeldskandal der Firma Ferrostaal, die CORRECTIV vorliegen, zeigen, dass die Justiz Geldstrafen gemeinsam mit dem betroffenen Unternehmen wie auf dem Basar ausgehandelt hat. Dabei hat sie darauf geachtet, den Konzern finanziell nicht übermäßig zu schädigen. Eine Firmen-Anwältin rannte mit ihrem Vorschlag, bestimmte Länder außen vor zu lassen, um das dortige Geschäft zu schützen, bei der Staatsanwaltschaft offene Türen ein.

Von 2009 bis 2011 ermittelte die Staatsanwaltschaft München in der Schmiergeldaffäre des Essener Industriekonzerns Ferrostaal. Das Unternehmen verkauft deutsche Industrieprodukte in alle Welt. Ende 2011 verurteilte das Landgericht München zwei seiner Manager wegen Bestechung bei U-Boot-Geschäften. Ferrostaal kooperierte mit den Ermittlern und half, die Affäre im eigenen Haus aufzuklären. Der Konzern führte daraufhin ein robustes internes System ein, um Bestechung fortan zu vermeiden. Seit der 2011 abgeschlossenen Aufarbeitung des Skandals sind auch keine Unregelmäßigkeiten mehr bekannt geworden.

Während der Ermittlungen hielten die vom Konzern beauftragten Anwältinnen und Anwälte die Aufsichtsräte des Konzerns über die neuesten Ergebnisse der Ermittler und den Fortgang der Gespräche über die zu erwartende Strafe auf dem Laufenden. Der Kontakt zwischen dem Konzern und den Staatsanwälten war in diesem Fall besonders eng, weil private Anwaltskanzleien und Buchprüfer auf Kosten von Ferrostaal der Staatsanwaltschaft halfen, den Konzern zu durchleuchten.

In den Gesprächen ging es immer wieder auch um die zu erwartende Strafe. Am Ende zahlte Ferrostaal knapp 150 Millionen Euro. Die Strafe setzte sich wie folgt zusammen:  Ein Bußgeld in Höhe von 10 Millionen Euro auf Grundlage des Ordnungswidrigkeitenrechts. Dazu beschloss das Landgericht eine  Gewinnabschöpfung aus den laut Gericht München kriminellen U-Boot-Geschäften in Höhe von 139 Millionen Euro.

„Ein Ferienrabatt.“

Am Ende wussten viele der Beteiligten nicht mehr, wie das Ergebnis eigentlich zustande gekommen war. Sie waren einfach froh, dass es eine Einigung gab. Während der zwei Jahre andauernden Ermittlungen schwankte die im Raum stehende Gewinnabschöpfung zwischen 120 Millionen und 278 Millionen Euro. Auch die Staatsanwaltschaft verlor zwischendurch den Überblick: „Auf Frage erklärten die anwesenden Staatsanwälte, wie der Betrag von Euro 195 Millionen sich zusammensetze, sei ihnen nicht bekannt“, heißt es in einer Notiz über ein Gespräch mit den Ermittlern aus dem November 2011.

CORRECTIV liegen auch geheime Tonbandaufnahmen der Aufsichtsratssitzungen von Ferrostaal aus der Zeit der Aufklärung des Skandals vor. Als einer der Aufsichtsräte einmal das aktuell diskutierte Strafmaß nicht nachvollziehen konnte, drückte er es so aus: „Vielleicht ist es ein Sommerrabatt. Ein Ferienrabatt.“

Die Unklarheiten bestanden bis zum Ende, als das Gericht die Strafzahlung verhängte. Laut einem Teilnehmer einer Aufsichtsratssitzung habe der leitende Oberstaatsanwalt gesagt, er verstehe „diese ganze Rechnerei“ nicht. Aber er werde nicht im Weg stehen, wenn sich der Konzern mit dem Gericht einig sei. Die Aussage des Staatsanwalts liegt nicht direkt vor. Es gibt jedoch keinen Grund zur Annahme, dass der Anwalt des Konzern sie seinem Mandanten gegenüber verfälscht wieder gab und sie entspricht dem Tenor, den eine Vielzahl von Gesprächsprotokollen und mündlichen Vorträgen ergeben.

Die Staatsanwaltschaft München sagt auf Anfrage, die Berechnung der Strafe ergebe sich aus dem Urteil des Landgericht München und sei nachvollziehbar. Ob die zitierten Aussagen so gefallen seien, sei nicht mehr nachzuvollziehen. Kaum eine Justizbehörde hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten so viele Wirtschaftsskandale aufgeklärt wie die Münchner Ermittler. Angefangen von den Schmiergeldskandalen bei Siemens, MAN und Ferrostaal bis hin zu den aktuellen Ermittlungen rund um Wirecard.

Bis heute hat sich die Rechtsgrundlage für die Aufarbeitung von Unternehmensskandalen nicht wesentlich geändert. „Die Generalnorm, nach der Unternehmen für die Straftaten ihrer Mitarbeiter sanktioniert werden, ist der Paragraph 30 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und der ist 60 Jahre alt“, sagt Michael Kubiciel, Professor für Strafrechtswissenschaft an der Universität Augsburg.

Die Unterlagen und Tonbandaufnahmen zum Fall Ferrostaal legen nahe, dass der Konzern bei der eigenen Strafe mitreden konnte. So schilderte ein Aufsichtsrat im Herbst 2011, wie der Konzern bei der Justiz in München mit Verweis auf seine Finanzlage versuchte, die Strafe zu drücken. „Die letzte in München diskutierte Zahl für die Gewinnabschöpfung ist 178 Millionen. In der Zwischenzeit haben wir Zahlen (…) vorbereitet und präsentiert, wie wir überleben können und wir haben klar gemacht, dass wir uns eine Gewinnabschöpfung und Bußgeld in der Höhe von 150 oder 180 Millionen Euro nicht leisten können.“

Nach weiteren Gesprächen „sind wir bei einer Zahl von 139 Millionen Euro angekommen, zu zahlen in drei Raten. Wir sind optimistisch, dass dies noch weiter nach unten verhandelt werden kann.“

Der Belastung für den Konzern bewusst

Dies gelang letztlich nicht. Es ist das gute Recht eines Konzerns, aus Sicht seiner Eigentümer sogar eine Pflicht, sich vor Gericht für eine möglichst geringe Strafe einzusetzen. Und die Staatsanwaltschaft schien darum bemüht, Ferrostaal nicht zu viel zuzumuten. Ein Staatsanwalt „erklärte ausdrücklich, dass man sich der Belastung des Ermittlungsverfahrens für das Unternehmen bewusst sei. Es gehe der Staatsanwaltschaft nicht darum, ein Unternehmen wie die Ferrostaal zu zerstören.“

So heißt es in einer Notiz über ein Gespräch mit der Staatsanwaltschaft München. Auch hier verweist die Behörde auf Anfrage auf das Gericht. So sei es dem vorsitzenden Richter wichtig gewesen, dass das Bußgeld nicht existenzvernichtend sei. Das Gericht habe zudem die erheblichen Kosten von Ferrostaal für die interne Aufklärung berücksichtigt. Tatsächlich erreichten diese einen zweistelligen Millionenbetrag.

Doch können Staatsanwälte die finanzielle Lage eines Unternehmens überhaupt einschätzen? Ein Kommentar auf einer der Aufsichtsratssitzungen legt nahe, dass zumindest das Landgericht München die Vorträge von Ferrostaal kritischer sah. So habe es die Firmenvertreter damit konfrontiert, dass auf Grundlage von öffentlich verfügbaren Informationen der Meinung sei, dass sich der Konzern „in einer viel besseren finanziellen Situation“ befinde als vom Unternehmen dargestellt.

Auf andere Weise lösen

Nicht nur bei der Höhe stimmten sich die Ermittler mit den Anwältinnen und Anwälten des Konzerns ab. Sie besprachen auch gemeinsam, welche Aspekte des Schmiergeldskandal im Bußgeldbescheid berücksichtigt sein sollten. „Die Gesprächsteilnehmer erörterten ausführlich, wie die Gestaltung des Bußgeldbescheides und der dazugehörigen Akte aussehen werde, und kamen zu folgender Einigung“, heißt es in einer Gesprächsnotiz.

Dabei ging es offenbar darum, das Geschäft von Ferrostaal in bestimmten Ländern außen vor zu lassen, um negative Folgen für den Konzern zu vermeiden. „Die ursprüngliche Idee von (Staatsanwalt) Herr Nötzel war es, ein Bußgeld für Algerien, Libyen und (unhörbar) zu initiieren“, trug eine Rechtsanwältin von Ferrostaal auf einer Sitzung im September 2011 vor.

Dann jedoch habe sie mit einem Justizvertreter besprochen, „ob wir es nicht auf andere Weise lösen können, weil (Ferrostaal) derzeit in Algerien (aktiv) ist, das operative Geschäft dort läuft noch, daher wäre es nicht gut, in dem Fall zu einem Bußgeld zu greifen, und bei den anderen Fällen in Libyen … das wird zu Anschuldigungen führen.“

Und weiter: „Mit dem Vorschlag, das Bußgeld … zu beschränken, bin ich eine offene Tür bei ihm eingerannt.“

Rechtsgespräche im Vorfeld

Die Staatsanwaltschaft München sagt dazu: Man habe sich auf einen anderen Bestechungsfall konzentriert, weil dort die Ermittlungen weiter gediehen waren. Es sei bei großen Ermittlungen nicht immer möglich, jeden Aspekt restlos aufzuklären. Die Interessen von Ferrostaal seien nicht ausschlaggebend für die Entscheidung gewesen.

Bei größeren Wirtschaftsskandalen sind Gespräche über die zu erwartende Strafe nicht unüblich. „Bußgeldbescheide werden doch in der Regel im Rahmen von Rechtsgesprächen im Vorfeld zwischen Verteidigung, Staatsanwalt und Gericht ausgehandelt“, sagte Thomas Kutschaty im Gespräch mit CORRECTIV im Rahmen der Recherchen für das Buch „Geheimsache Korruption“.

Der SPD-Politiker aus Essen versuchte während seiner Zeit als NRW-Justizminister ein Unternehmensstrafrecht einzuführen. Kutschaty hält die juristischen Verfahrensabläufe von Bußgeldverfahren in vielerlei Hinsicht für unangemessen zur Sanktionierung von Unternehmensskandalen. Der Politiker ist auch der Meinung, dass Bußgeldbescheide in Höhe von maximal zehn Millionen Euro zu niedrig seien, um große Wirtschaftsskandale zu sanktionieren. „Das ist nicht die ausreichende Reaktion eines Staats auf das, was da getan worden ist an Unrecht.“

Ablehnung durch die Wirtschaft

Die große Koalition nahm sich schon 2013 vor, die Einführung eines Unternehmensstrafrechts zu prüfen. Viele Jahre lang geschah nichts. Das Justizministerium brachte dieses Jahr einen Gesetzentwurf auf den Weg. Es soll unter anderem den Strafrahmen erhöhen. Dann soll die Justiz bei großen Konzernen Strafen von bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes verhängen können – statt wie bisher nur Bußgelder von bis zu 10 Millionen Euro. Das Feilschen um Gewinnabschöpfung von illegalen Geschäften könnte dann der Vergangenheit angehören. Im September entbrannte in der großen Koalition jedoch erneut Streit darum. Mehrere Bundesländer wollen das Gesetz im Bundesrat verhindern.

Besonders der Wirtschaftsflügel der CDU lehnt das Gesetz ab. Die großen Wirtschaftsverbände wehren sich mit Argumenten wie angeblich höheren Kosten und Bürokratieaufwand, der während der Corona-Zeit nicht zumutbar sei. Einige argumentieren gar, die Auffassung von Konzernen als natürliche Personen, gegen die ermittelt werden kann, breche mit der deutschen Rechtstradition und sei verfassungswidrig.

Professor Kubiciel sagt, ein Unternehmensstrafrecht böte Konzernen auch Vorteile. Sie könnten sich besser verteidigen. Und die Sanktionierung von Straftaten könnte in Verbindung mit der Vermögensabschöpfung, die das Strafgesetzbuch bereits erlaubt, strukturierter erfolgen.

Geheim dank Bußgeld

Ohne ein Unternehmensstrafrecht dürften Einblicke in die Arbeit der Justiz, wie sie die Ferrostaal-Tonbänder bieten, eine Seltenheit bleiben. Zwar können Journalistinnen und Journalisten Prozesse beobachten und Anwälte wie Ermittler treffen. Doch grundsätzlich muss die Justiz über Ordnungswidrigkeiten – anders als bei Strafsachen – keine Auskunft erteilen.

Das kennt Angela Reitmaier zur Genüge. Die Juristin beobachtet für Transparency International, ob sich Deutschland an internationale Abkommen zur Korruptionsbekämpfung hält. Reitmaier würde gern nachlesen, auf welche Weise deutsche Konzerne im Ausland bestechen. Sie könnte sich mit Kolleginnen und Kollegen vor Ort in Verbindung setzen und gemeinsam als Zivilgesellschaft einen Beitrag zur Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen leisten. Doch die Bußgeldbescheide gegen Konzerne – bei denen Ermittler wie oben geschildert schon einmal im Interesse einer Firma Details weglassen –  sind unter Verschluss.

Im Gespräch mit CORRECTIV nennt Reitmaier als Beispiel den Bußgeldbescheid in Höhe von einer Milliarde Euro, den die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen den Volkswagen-Konzern im Zuge des Dieselskandals verhängte. „Das größte Bußgeld, das in Deutschland je gegen einen Konzern verhängt wurde, und die Bevölkerung kann den Bußgeldbescheid nicht lesen“, sagt Reitmaier.

Der Fall Ferrostaal zeigt übrigens, dass ein Unternehmensstrafrecht auch für Konzerne Vorteile hat. Eine klare Berechnungsgrundlage macht Strafen berechenbarer – und sie können sich darauf verlassen, dass ein Urteil auch wirklich aus Sicht der Justiz einen Strich unter die Vergangenheit zieht.

Aus den Tonbandaufnahmen geht hervor, dass ein Teil der Vereinbarung zwischen Ferrostaal und der Münchner Justiz  nur mündlich festgehalten war: Die Ermittler sagten demnach zu, dass mit dem Bußgeldbescheid die kriminelle Vergangenheit des Konzerns aus Sicht der Justiz erledigt sei. Schriftlich konnten sie dieses Versprechen nicht geben, falls doch noch neue Erkenntnisse auftauchen würden – wozu es auch nicht kam.

Der damalige Aufsichtsrat von Ferrostaal, bemüht um saubere Geschäfte, stand damit vor einem ganz eigenen Problem: Im Sinne guter Unternehmensführung schließt man keine Vereinbarungen, in diesem Fall 150 Millionen Euro schwer, von denen Teile nur mündlich festgehalten sind.

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Illustration: Mohamed Anwar/jbr