Mein Weg aus der Depression: Wut

© Rico Grimm

Psyche und Gesundheit

Mein Weg aus der Depression: Wut

Wie ich mich mit einem Klinik-Macho anlegte, im Blümchensessel einer smarten Therapeutin landete und in der Gruppentherapie Strategien lernte, die mein Leben für immer veränderten.

Profilbild von Martin Gommel mit Silke Jäger

Wer eine Depression hat, braucht Therapie, das scheint offensichtlich. Deshalb kann man mit Recht die Frage stellen, warum ich erst nach Jahrzehnten auf diese Idee gekommen bin – und vorher erst noch lange mit Dingen wie Nahrungsergänzungsmitteln oder Meditation herumexperimentiert habe. Der Grund ist einfach: Ich hatte 30 Jahre lang nicht die geringste Ahnung, dass das, was ich fühlte, den Namen Depression trägt. Genau deshalb war es für mich so befreiend, als ich vor acht Jahren die Diagnose bekam: Seither kann ich endlich professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

So habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gelernt, wie wichtig meine Wut ist, diese feurige Emotion, die ich 30 Jahre lang unterdrückt habe. Ein Arzt, bei dem ich mir bis heute nicht sicher bin, ob er genial oder einfach grobschlächtig ist, hat mir geholfen, diese Wut zu nutzen: als Gegengift gegen meine Depressionen.

Ich verpetze den Chefarzt

Zunächst einmal ist Wut eines der Anzeichen dafür, dass eine Depression vorliegen kann. Besonders bei depressiven Jugendlichen kommen impulsive Gefühlsausbrüche und Aggressionen vor. Über ein Drittel der 250 Menschen mit einer schweren Depression, die in dieser Studie untersucht wurden, hatten mit Wutausbrüchen zu kämpfen. Experten glauben, dass häufig unbearbeitete Konflikte eine Rolle spielen, wenn ein Mensch depressiv wird. Vor allem dann, wenn man nicht weiß, wie man mit den Gefühlen umgehen soll, die mit Konflikten einhergehen, kann Wut entstehen. Sie deckelt sozusagen andere Gefühle, mit denen man noch größere Schwierigkeiten hat.

Chef-Visite. Es war mein erster Klinikaufenthalt in der Psychiatrie und nach zwei Wochen, in denen ich medikamentös ruhiggestellt worden war, saß ich innerlich zerbrochen auf Station 201 vor dem Arztzimmer und hatte wieder einmal Suiziddgedanken. „Der Nächste bitte!“

Ich raffte mich auf und trottete in ein enges Zimmer, in dem ein Mann mit Hipsterbart und weißem Kittel thronte, umgeben von fünf Frauen. Erwartungsvolles Anstarren allerseits. „Herr Gommel, wie geht es Ihnen?“ schallte eine Männerstimme mit viel Bass. Scheiße, dachte ich, siehst du das nicht? „Naja. Geht so”, sagte ich und bemühte mich, die Tränen zu unterdrücken. Nicht schon wieder weinen. Nicht jetzt.

Der Chefarzt, nennen wir ihn Doktor Prowoka, lehnte sich zurück, verschränkte beide Hände hinter dem Kopf und nervte weiter. „Herr Gommel, Sie sind hier nicht im Urlaub, dass das klar ist.“ Wenn ihr wollt, dass ich mich umbringe, dann habt ihr mich bald soweit, dachte ich und blickte auf den Boden. „Auf Wiedersehen!“ verabschiedete mich der Chefarzt, sprang auf und streckte mir seine grobkantige Hand entgegen. Auf Wiedersehen, Arschloch, dachte ich.

Später hatte ich meine erste Therapiestunde und erzählte einer sehr jungen Psychologin, die wohl gerade aus dem Studium gehüpft und voller Tatendrang war, von meiner inneren Leere und dem Drang, mich aus dem Leben zu verabschieden. Dann verpetzte ich Doktor Prowoka und seinen bescheuerten Urlaubs-Spruch. „Ich kann Sie verstehen, Herr Gommel. Nutzen sie die Wut, solange sie klein ist“, antwortete sie mit friedlicher Zen-Stimme. „Warten Sie nicht, wenn sie spüren, dass sie etwas wütend macht. Ihre Wut ist gut und macht sie handlungsfähig. Sagen Sie, wenn Sie etwas nervt und handeln Sie.“

Das war neu für mich. Neu, wie ein noch nie dagewesenes Smartphone, das man zum ersten Mal auspackt und verwundert betastet. Ein revolutionärer Gedanke, denn Wut war für mich bis zu diesem Tag eine schädliche Emotion gewesen, die ich aus meinem Leben verbannen musste.

Wut als Kompass

Wütend zu sein und damit nichts anfangen zu können, für mich als Jugendlicher war das eins. Der große Sven siegte immer, das tägliche Mobbing in der Schule und der Stress mit meinen Eltern hatten mich zu einem aufgebrachten Teenager ohne Handlungsoptionen gemacht. Das Ergebnis: Ohnmachtsgefühle, die zu Depressionen wurden.

Wut kann aber auch ein guter Kompass sein. Sie ist ein sicheres Zeichen dafür, dass Toleranzgrenzen überschritten sind. Wenn man seine Wut ständig runterschluckt, heißt das, dass man dauernd über seine Grenzen geht und sich überfordert. Das setzt körperliche Stressreaktionen in Gang. Andauernder Stress wiederum ist ein Faktor, der Depressionen begünstigen kann.

Deshalb ist ein Ziel der Psychotherapie, Gefühle, die bei Konflikten entstehen, besser wahrzunehmen und sie zuzulassen. Am besten, bevor man wütend wird oder am Anfang der Wutkaskade. Depressionspatienten fällt dies häufig schwer, weil genau diese Gefühle und Konflikte Nährboden für große Selbstwertzweifel darstellen und es extrem schmerzhaft sein kann, sich diesen Zweifeln zu stellen.

In der vierten Woche beschließe ich vor der Visite, mir keine weitere Schikane von Doktor Prowoka gefallen zu lassen. Dem Chef-Macho werde ich es zeigen! Als ich aufgerufen werde, stampfe ich kampfbereit durch die Tür, und … „Herr Gommel! Sie sehen heute aber gut aus!“ Doktor Prowoka streckt mir seine Hand entgegen und ist die Freundlichkeit in Person. Mit den Komplimenten des Klinik-Hengstes im Ohr, ging ich vollkommen verdattert aus der Visite.

Wie bitte?! Ich versuchte, eins und eins zusammen zu zählen. Hatte Doktor Prowoka sich verändert – oder etwa ich? Hatte er meine Entschlossenheit gesehen und mich deshalb so freundlich begrüßt? Außerdem: War der Macho vielleicht gar keiner? Setzte Doktor Prowoka die Provokationen bewusst als therapeutische Methode ein, damit ich über mich selbst hinauswuchs? Falls ja, war das ein schlaues Bürschchen, dachte ich.

Rausgefunden habe ich es nie, aber heute weiß ich, dass ein Ziel von Therapie ist, Schwierigkeiten nicht nur zu besprechen, sondern sie auch erfahrbar zu machen. Die Therapeuten sind dafür häufig ein gutes Übungsfeld. So können Patienten neue Verhaltensweisen in einem sicheren Setting ausprobieren.

Ich jedenfalls fühlte mich stark. Wolverine-stark. Heute war es mir gelungen, einem scheinbar übermächtigen Chefarzt die Stirn zu bieten und vielleicht sogar seinen Trick zu durchschauen. Meine depressiven Gefühle schrumpften in sich zusammen. Dieser Tag war ein Meilenstein in meinem Leben: Seitdem höre ich in mich hinein, achte auf meine Wut und drücke sie in Worten (und manchmal in meiner Körperhaltung) aus. 1:0 für mich.

Zeit für Therapie, Baby

Fast jeden Tag beginne ich mit Meditation.

Fast jeden Tag beginne ich mit Meditation. Rico Grimm

Zwei Jahre später sollte ich lernen, Freundschaften zu beenden, die mich depressiv machten. Beziehungen, egal ob eng oder lose, Liebe oder Freundschaft oder beides, haben auf meine Psyche einen sehr starken Einfluss und können Depressionen verstärken. Das Ende einer Freundschaft, lernte ich, konnte ein entscheidender Faktor für meine psychische Stabilität sein.

Viele Depressionspatienten sind unsicher, wie sie Beziehungen gestalten können. Diese Unsicherheit entsteht häufig aus frühen Verlusterfahrungen, die sie nicht bearbeitet haben. Sie können dann Angst vor Nähe entwickeln oder fühlen sich abhängig von der Anerkennung anderer. Wenn Konflikte entstehen, verwechseln sie oft Ursache und Folge. Sie denken, dass ihre Traurigkeit, Wut und Angst die Probleme hervorgerufen hat, statt wahrzunehmen, dass diese Gefühle aus den Konflikten entstehen. Häufig geben sie sich dann selbst die Schuld, wenn es in Beziehungen knirscht und kriselt. Das wiederum kann Depressionen befeuern.

Menschen mit Depressionen können in der Psychotherapie Strategien lernen, wie sie mit Problemen und Konflikten anders umgehen können, damit sie ihre frühgelernte, problematische „Lösung“, die Selbstbeschuldigung, nicht unbewusst dauernd wiederholen müssen. Sie können dadurch auch mehr Abstand zu den schwierigen Gefühlen bekommen. Das eröffnet ihnen mehr Handlungsmöglichkeiten.

Das runde Wohnzimmer war wunderschön gestaltet; Bücher stapelten sich in Vitrinen und Schränken, mindestens hundert Jahre alt und so wertvoll, dass ich mich nicht traute, sie anzufassen. Zwei Sessel mit Blümchenstickereien schmückten den Raum, einer ganz vorne, und der andere am anderen Ende des Raumes. Zeit für Therapie, Baby.

Sie kam herein und setzte sich in einen der Blümchensessel. Eine Psychologin Mitte 50, lange, blonde Locken und tadellos gebügelte Bluse. Ihre Haltung erinnerte mich an eine Laterne, die schnurgerade in den Himmel ragte. Sie war dominant und direkt. Nennen wir sie Therapeutin Smart.

„Hallo“, sagte ich im anderen Blümchensessel, schlug mein Notizbuch erwartungsvoll auf und knipste den Kugelschreiber an. „Hallo“, kam es trocken zurück, sonst nichts. Keine Frage, keine Vorstellung, kein Gedankenpingpong. Die Stimmung war von Anfang an gespannt und sie machte – ohne Worte – sofort klar: Erstens, hier herrscht professionelle Distanz, das wird keine Kuscheltherapie. Zweitens, Sie, Herr Gommel, reden. Ich eher nicht.

So lernte ich, nicht darauf zu warten, dass sie sich mitfühlend nach meinem Befinden erkundigte, sondern gleich selbst für mich zu sprechen. Das hatte den großen Vorteil, dass ich mich Stunde für Stunde dabei ertappte, beim Reden gerade die Lösung für eines meiner Probleme gefunden zu haben. Und Therapeutin Smart? Nickte.

Mit Freunden Schluss machen

Ein Ziel der Psychotherapie ist, dass depressive Menschen ihre inneren Konflikte besser kennenlernen und ihr Verhalten besser verstehen. Dafür kann freies Sprechen sehr hilfreich sein, weil man inneres Erleben, die Gefühle und Ängste wahrnehmen und aussprechen kann. Es kommt vor, dass Konflikte in die Therapiesituation übertragen werden, so dass die Therapeuten Partner werden, mit denen man üben kann, diese zu klären.

Nur zwei Mal machte sie eine Ausnahme. Das erste Mal hatte ich ihr von einem Freund berichtet, der mich bei Verabredungen entweder sitzenließ oder zu spät kam – ohne sich zu entschuldigen. Ich hatte ihn immer wieder darauf hingewiesen und ihn gebeten, damit aufzuhören. Ohne Erfolg. Seit Jahren. Ich erzählte der Psychologin meinen Plan: Ich wollte meinem Freund noch mal eine Chance geben, ihn fragen, warum er sich so verhielt und ihm dann zeigen, dass mich sein Verhalten ärgerte. Meine Wut zeigen und so, wie ich es gelernt hatte.

Meine Therapeutin sagte nur einen Satz: „Meinen Sie wirklich, dass sich Ihr Freund jemals ändern wird?“ Ich stockte und musste nachdenken. „Nein“, antwortete ich. „Das heißt … eigentlich muss ich die Freundschaft mit ihm beenden?“ Sie nickte. Und ich hatte die Lösung gefunden. Oder doch sie?

Dann erinnerte ich mich an meine Kindheit, an den Handballverein und die vermeintlichen Freunde, die mich nach jedem Training in der Dusche auslachten. Schon damals hätte ich die Reißleine ziehen, den Handballverein wechseln oder eine andere Sportart finden müssen, um mich selbst zu schützen. Auf die Idee war ich aber gar nicht gekommen.

Erst in der Therapie, im Alter von 32 Jahren, entdeckte ich eine für mich bis dahin völlig undenkbare Möglichkeit: Ich konnte mich von Menschen trennen, die mir schadeten und mich nicht ernst nahmen. Ich musste nicht um des lieben Friedens willen leiden. So begann ich, sehr genau auszuwählen, welchen Menschen ich vertraute – und welchen eben nicht. Eine Freundschaft mit mir, das war auf einmal etwas Wertvolles – weil ich wertvoll war. Ab sofort galt das auch für Liebesbeziehungen, die ich bisher immer stets bis zum bitteren Ende ausgehalten hatte. Damit war jetzt Schluss.

Sieht aus wie Freizeit, ist aber Arbeit.

Sieht aus wie Freizeit, ist aber Arbeit. Rico Grimm

Drei Monate später. Eine Bekannte, keine enge Freundin, hat mir einen bitterbösen Brief geschickt, in dem sie schreibt, dass sie mich eigentlich für einen guten Menschen gehalten hat – sich aber offenbar getäuscht hat. Und ich? Begann, an mir selbst zu zweifeln.

Therapeutin Smart sagte dazu wieder nur einen Satz: „Was hat das mit Ihnen zu tun, wenn eine Freundin meint, dass Sie kein guter Mensch sind?“ Wieder stockte ich. „Eigentlich … nichts“, antwortete ich. „Ja?“, hakte sie nach. „Ja. Denn ich weiß, wer ich bin, und selbst, wenn sie das Gegenteil behauptet, dann ist das nicht wichtig. Das ist keine konkrete Kritik, sondern eine Meinung, und die kann sie ja haben.” Frau Smart war zufrieden.

In den Wochen darauf lernte ich, dass eigentlich nichts, was im Zwischenmenschlichen passiert, persönlich gemeint ist, da jeder Mensch in seiner eigenen Realität lebt und sie auf andere projiziert. Diese Erkenntnis war eine große Erleichterung und half mir, Beleidigungen und destruktives Verhalten nicht mehr persönlich zu nehmen.

Thomas, Fräulein Sexy und die Gruppentherapie

Den wichtigsten Grund dafür, dass ich heute frei von Depressionen bin, sehe ich darin, dass ich vor zwei Jahren an einem zwölfwöchigen, umfangreichen Therapie-Programm in der Psychiatrie teilgenommen habe. In dieser Zeit änderte sich meine Art, mich auszudrücken und aufzutreten, von Grund auf. Nie hätte ich gedacht, dass Gruppentherapie, Rollenspiele und ein analytischer Kreis auf mein Wohlbefinden einen derart radikalen Einfluss haben könnten.

Das Programm ist unter der Abkürzung CBASP bekannt. Das bedeutet Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy. Klingt lang und kompliziert. Es ist, um es vorsichtig zu sagen, ein umfangreiches Verfahren, um Menschen mit chronischer Depression zu helfen. CBASP ist eine Mischung unterschiedlicher psychologischer Therapie-Modelle und es ist eines der wenigen, die auch tatsächlich Wirkung zeigen.

Das Modell basiert auf der Annahme, dass Depressionspatienten für Konsequenzen und Feedback aus ihrer Umgebung nicht erreichbar sind, weil sie diese nur schwer wahrnehmen können. Sie verharren in krankheitsnährenden Erklärungsmustern, wie zum Beispiel, dass sie Folge und Ursache von Konflikten verwechseln. Deshalb ist ein wichtiges Ziel dieses Modells, dass Patienten lernen, Situationen zu analysieren und Zusammenhänge wahrzunehmen und selbst auf ihre Korrektheit zu überprüfen.

In sogenannten Meta-Analysen aus den Jahren 2012 und 2014, bei denen man mithilfe eines statistischen Verfahrens die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenfasst, zeigte sich, dass die Wirksamkeit von CBASP mit der von Psychopharmaka vergleichbar ist. Allerdings kann das bei Patienten mit einer Diagnose wie der meinen, der Dysthymie, anders sein. Dazu gibt es noch Forschungsbedarf, denn bisher sind nur wenige psychotherapeutische Verfahren in guten Studien an Dysthymie-Patienten getestet worden. Für Patienten wie mich ist die medikamentöse Therapie zwar das Fundament, aber ich kann aus Erfahrung sagen, dass mir CBASP den Durchbruch gebracht hat.

Bitte recht freundlich-dominant

Grundlage des CBASP-Programmes ist der Kiesler-Kreis. Dieser war es, der meine Mimik, Körperhaltung und Sprachmelodie komplett auf den Kopf gestellt hat. Der Kreis erklärt, wie Menschen, die depressiv sind, kommunizieren – und wie Menschen, die nicht depressiv sind.

Auf den ersten Blick sieht der Kreis etwas verwirrend aus, aber das Prinzip, das er erklärt, ist ganz einfach und auch dann relevant, wenn man keine Depressionsdiagnose in der Tasche hat: Weil er Muster aufzeigt, mit denen Menschen kommunizieren und nach denen sie sich verhalten.

So sieht der Kreis aus:

Die Mittelachse von oben nach unten ist der wichtigste Teil des Kreises: Sie zeigt, dass dominantes Verhalten von Person X, nennen wir sie Anna, bei Person Y, nennen wir sie Otto, unterwürfiges Verhalten auslöst. Das heißt: Spricht Anna klar, selbstsicher und beharrlich Otto an (egal wann, egal wo), wird Otto wahrscheinlich unterwürfig reagieren. Andersherum gilt dasselbe Prinzip: Wenn Otto auf Anna zugeht, sich dabei hilflos zeigt und sich selbst klein macht, wird Anna automatisch selbstsicher und somit dominant reagieren. Eigentlich ganz einfach, oder?

Ganz anders verhält sich die horizontale Achse. Denn sie gibt es nicht. Wie bitte? Ganz einfach: Verhält sich Anna feindselig, also kühl, unfreundlich oder ablehnend, wird Otto sich exakt genauso verhalten. Genau so funktioniert es umgekehrt: Baut Person Anna Nähe auf, spricht freundlich, wertschätzend und zugewandt, wird Otto sich auch so benehmen.

Menschen, die unter Depressionen leiden, liegen im Kiesler-Kreis meist im unteren und im linken Bereich (von freundlich-unterwürfig bis feindselig-dominant) und lernen im Rahmen des Programmes, sich nach oben rechts zu bewegen (von dominant bis freundlich-nah).

Die Feuerprobe

In der Klinik mussten alle CBASP-Teilnehmer zur Gruppentherapie. Das klang in meinen Ohren ein bisschen wie Gruppen-Sex, und genau das ist es auch. Gruppensex. Nur eben in der Klinik. Und mit einem Therapeuten.

Spaß beiseite. Der traurige Thomas meldet sich. Er hatte ein Date und wollte darüber sprechen, denn das Date ging komplett schief. Der Therapeut, nennen wir ihn Herrn Buch, hakt nach: „Was haben Sie zu ihrem Date gesagt? Wie hat sie reagiert?“

Thomas war mit der Frau, nennen wir sie Fräulein Sexy, eine halbe Stunde spazieren gegangen. An der U-Bahnhaltestelle angekommen, schwiegen beide verunsichert. Die Stimmung sei total komisch gewesen, berichtet Thomas. Er habe dann leise gesagt: „Das ist jetzt aber komisch, ich weiß auch nicht so recht.” Daraufhin verabschiedete sich Fräulein Sexy. Hinterher sei Thomas sehr traurig gewesen, denn er mochte Fräulein Sexy eigentlich sehr. In der Gruppe bricht er in Tränen aus. Ich fühle mit.

Der Therapeut macht auf einem großen Flipchart Notizen. Dann hält er das Ergebnis fest (Frl. Sexy verabschiedet sich, Thomas ist unglücklich). „Stichwort Kopfkino: Was ging in Ihren Gedanken vor sich?“, fragt Herr Buch.

„Sie mag mich sicher nicht. Eigentlich hätte ich Lust, mit ihr etwas trinken zu gehen, aber sie findet mich bestimmt komisch“, sagt Thomas. Flipchartkritzelgeräusche.

Nebenbei gesagt: In einer großen Runde über die eigenen Schwächen und Peinlichkeiten zu berichten, ist ziemlich mutig.

Im nächsten Schritt stellen wir fest, wo sich Thomas beim Date im Kiesler-Kreis befand: Feindseilig-unterwürfig. Thomas nickte. Herr Buch: „Wie hättest du dich eigentlich gerne verhalten?“ Thomas tippte mit dem Finger auf seine Lippen. „Eigentlich wäre freundlich-nah das richtige gewesen. Aber das ging nicht. Irgendwie.“

„Kopfkino, Thomas.“ – „Ja, das muss sich ändern, oder?“ Der Therapeut streicht die bisherigen Kopfkino-Sätze durch und setzte mit dem Rotstift an. „Welche Gedanken brauchst du, damit es besser läuft?“ Thomas lächelt: „Schreiben Sie: Ich schaffe das! Und dann noch … no risk, no fun!“

Dann kommt die Feuerprobe. Thomas musste sein Date nachspielen – und zwar freundlich-nah. Hier und jetzt, vor der Gruppe. Er wird rot. Ich kann sehen, wie viel Überwindung ihn das kostet. Patientin Petra spielt stellvertretend Fräulein Sexy.

„GO, THOMAS, GO!“

Erst steht Thomas da und blickt nach unten. Ein trostloses Bild. Er hebt den Blick, zieht die Schultern zurück und sieht sein Date an. „Und was machen wir jetzt? Was willst du?“, fragt er. Stille. Sie reagiert nicht und schaut auch auf den Boden.

„CUT!“

Herr Buch fragt Petra, wie sie sich jetzt fühlt. „Naja, ein bisschen komisch ist das schon.“ Patientin Gerda meldet sich: „Der Anfang war gut, du hast dich aufgerichtet und nicht mehr traurig geguckt, aber das, was du gesagt hast, das war blöd, das war … unterwürfig.”

„GO!“

Thomas ruckelte sich zurecht, hebt seinen Blick, schaut Petra an und sagt nett, aber bestimmt: „Ich fand den Abend bisher toll! Ich würde gerne mit dir noch was trinken gehen. Bist du dabei?“ und zwinkert Fräulein Sexy zu. Die reagiert sofort: „Klar! Gerne! Wohin?“ Alle Patienten klatschen und lachen, Thomas am allermeisten. Uff.

In den kommenden zwölf Wochen übe ich mit den anderen Patienten freundlich-nahes und dominantes Verhalten, bis ich selbst aus den schwierigsten Situationen mühelos herauskomme. Bis heute denke ich im Kiesler-Kreis. Es ist wie eine Schablone, die ich bei Bedarf über Besprechungen, Treffen mit Freunden oder auch über Krisengespräche lege – und mein Verhalten in der Situation dann binnen Sekunden ändere.

Klatschen für Doktor Bammer

Zu Beginn der Zwölf-Wochen-Therapie hatte ich immer wieder Phasen, in denen ich am Boden zerstört und traurig war – ohne zu wissen, woher diese Gefühle kamen. Ich zog mich auf mein Zimmer zurück und wollte nur noch schlafen, schlafen, schlafen. Denn im Schlaf hatte ich keine Depressionen, dafür Ruhe und auf eine Art: Frieden. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann war diese Flucht in den Schlaf ähnlich wie eine Flucht in den Tod – nur, dass ich nicht starb, sondern jeden Tag wieder erwachte. An einem dieser Nachmittage schleppte ich mich zur Arzt-Visite und klagte über meine Verzweiflung.

Der Stationsarzt, Doktor Bammer, ein großer Typ Mitte 30 mit gestylter Frisur, hatte mir in aller Ruhe zugehört, als er plötzlich aufstand und mich aufforderte: „Und jetzt klatschen sie über dem Kopf in die Hände und drehen sich im Kreis!“ Auf keinen Fall, Doktor Bammer, dachte ich elend. „Aufstehen, Herr Trauertropfen, jetzt!“ Ich hatte keine Wahl, richtete mich langsam auf und klatschte trotz meines Kummers wie ein Depp in die Hände. Sechzig lange Sekunden stand ich also mit einem durchgeknallten Psychiater im Besprechungsraum, klatschend, drehend, schließlich johlend. Nicht, dass das Spaß gemacht hätte. Die Sekunden fühlten sich an wie Minuten und wollten nicht enden.

Als sich Doktor Bammer setzte, fiel ich erlöst in den Stuhl. „Wie geht es Ihnen?“ Erst jetzt fiel mir auf, dass ich zwar keine Erleuchtung erlebt, aber die Gefühle der Trauer mindesten um die Hälfte an Intensität verloren hatten. „Besser“, antwortete ich. „Machen Sie das! Immer wieder! Sie werden sehen, wie sich das auf Ihr Wohlbefinden auswirkt.“

Ich bin nicht sicher, auf welchem Konzept Doktor Bammers Methode beruhte, aber es könnte die Körperpsychotherapie nach Wilhelm Reich sein. Bei dieser Therapie geht man davon aus, dass Körperhaltung, Gestik und Mimik nicht nur Ausdruck von Gefühlen sind, sondern auch auf sie zurückwirken. Indem man sich den körperlichen Ausdruck bewusst macht und gezielt ändert, kann man diesem Modell zufolge auch das psychische Erleben erfahren und verändern. So bekommt man ein Instrument in die Hand, mit dem man direkt Einfluss auf seine Stimmung und Wahrnehmung nehmen kann.

Ich gebe zu, dass ich diese Übung konkret so nie wieder gemacht habe. Sie ist einfach zu schwer, wenn es mir schlecht geht. Und trotzdem habe ich das Prinzip verstanden: Meine Psyche reagiert auf meinen Körper, nicht nur umgekehrt. Wenn ich also merke, dass ich aus irgendeinem Grund schlecht gelaunt bin und seit Stunden eine Hackfresse ziehe, zwinge ich mich, mindestens eine Minute zu lächeln und warte ab. In den meisten Fällen hebt das meine Stimmung um gefühlte zehn Prozent an und hilft mir, mich von der Situation zu lösen. In seltenen Fällen fange ich sogar lauthals zu lachen an, weil ich meine Weltuntergangsstimmung so komisch finde.

Wie ich heute lebe

Ernährung ist wichtiger geworden.

Ernährung ist wichtiger geworden. Rico Grimm

Die Therapien haben mich verändert. Ich bin offener, ehrlicher, direkter geworden. Wütend bin ich nur noch selten. Ich lache mehr und gehe freundlicher auf Menschen zu. Kollegen geben mir das Feedback, dass ich in Besprechungen einen klaren Standpunkt vertrete, an dem man sich reiben kann. Traurig bin ich eigentlich nie, und ich beginne langsam zu vergessen, wie sich Depressionen anfühlen. Beziehungen beende ich, wenn ich zu sehr darunter leide. Deshalb bin ich heute Single und habe weniger Freunde als zuvor. Doch ich bin glücklich. Und für meine zwei besten Freunde würde ich die Hand ins Feuer legen.

Beziehungen, in denen man sich wohlfühlt, wirken sich auch auf die Gesundheit aus. Und darauf, wie glücklich man insgesamt ist. Das haben Forscher herausgefunden, die über 75 Jahre lang Menschen befragt haben, wie es ihnen geht. Demnach kommt es nicht darauf an, dass man viele Freunde hat, sondern darauf, dass man zu seinen Freunden eine gute Beziehung pflegt. Wer sich glücklich fühlen möchte, sollte seine Prioritäten überprüfen und die Beziehungen zu Freunden, zur Familie und im Umfeld in den Mittelpunkt rücken.

Die wichtigste und längste Beziehung im Leben pflegt man bekanntlich zu sich selbst. Deshalb habe ich mir Rituale zugelegt, die mir das Gefühl geben, dass ich wertvoll bin.

Meinen Alltag habe ich in den vergangenen neun Monaten auf den Kopf gestellt. Alte Gewohnheiten habe ich über Bord geworfen, um Depressionen keine Chance zu geben, sich wieder einzuschleichen. Um 5.30 Uhr klingelt der Wecker, dann meditiere ich 40 Minuten. Es folgen bewusstes Atmen, lautes Vorlesen und Muskelentspannung. Dann trainiere ich eine Dreiviertelstunde mit meinem eigenen Körpergewicht. Liegestütze, Klimmzüge, Kniebeugen, Bankdrücken, Sit-Ups. Abkühlen mit Yin-Yoga, dann Kaffee. Frischer Kaffee. Ich liebe diesen Geruch. Dann Rührei mit Gemüse zum Frühstück.

Ein Lebensstil, bei dem regelmäßig Yoga und Meditation praktiziert werden, kann nach einer aktuellen Studie dazu beitragen, dass sich Menschen mit schweren Depressionen besser fühlen. Interessant ist, dass sich dies auch auf der molekularbiologischen Ebene zeigt: Die Biomarker, die mit einer Depression in Verbindung gebracht werden, gingen im Laufe der zwölfwöchigen Untersuchungsperiode der Studie zurück. Betrachtet wurden dabei 58 Patienten, die nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen unterteilt wurden. Die eine Gruppe praktizierte drei Monate lang Yoga und Meditation, die andere nicht.

Sport hat ja insgesamt den Ruf, Depressionen lindern zu können. Allerdings ist die wissenschaftliche Beweislage dazu nicht ganz einheitlich. Was man nachweisen konnte, ist, dass körperliches Training zumindest einen kleinen Effekt bei der Linderung von Depressionen hat. Allerdings ist nicht ganz klar, ob sich der gemessene Erfolg auch langfristig hält. Die meisten Studien sind so konzipiert, dass man nicht zweifelsfrei sagen kann, ob sich die verbesserte Stimmungslage über die gesamte Dauer des Bewegungsprogramms und darüber hinaus halten konnte. Trotzdem sind Bewegungsprogramme in der Gruppe ein fester Bestandteil in der Therapie von leichten bis mittelschweren Depressionen.

Süßes ist schlecht für die Psyche

Künstlichem Zucker habe ich den Krieg erklärt, er ist mein persönlicher Erzfeind. Obst ist erlaubt, Cola Zero das höchste der Gefühle. Keine Schokolade, keine verdammten Haribos, keine Cola. Und vor allem: Keine Berliner. Zu Kriegsbeginn war das harter Entzug. Ein unkonzentrierter Martin, fahrig und ein bisschen orientierungslos. Jetzt: Kein Mittagstief mehr, gesteigerte Konzentrationsfähigkeit und immer wieder Glücksgefühle.

Die schädliche Wirkung von Zucker auf die Psyche wurde 2017 von einer Londoner Studie bestätigt. In der Langzeitbeobachtung von 8.000 Männern, die seit den 1980er Jahren regelmäßig zu Gesundheit, Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten befragt wurden, zeigte sich, dass Männer, die über mehrere Jahre viel Zucker zu sich nehmen (mehr als 67 Gramm pro Tag), ein um 23 Prozent höheres Risiko haben, in den folgenden fünf Jahren an Depressionen zu erkranken, als Männer, die weniger als 39,5 Gramm Zucker konsumieren. Dabei wurden die Daten so bereinigt, dass ausgeschlossen war, dass die Männer nur deshalb so viel Zucker aßen, weil sie bereits depressiv waren.

Wenn ich abends von der Arbeit komme, koche ich mir etwas Leckeres und kümmere mich intensiv um einen Bereich meines Zimmers. Miste aus. Staube ab, räume alle Schränke ein und aus. So schlafe ich in einem ordentlichen Zimmer ein und wache in einem aufgeräumten Zimmer auf. Auch das fühlt sich gut an, denn die äußere Ordnung hat auch etwas mit meiner inneren Ordnung zu tun. Netflix gucke ich selten, dafür lese wieder mehr. Manchmal sogar im Gehen durch Berlin.

Auch hier ist die Wissenschaft ist auf meiner Seite: Sie ermutigt mich, so viel wie möglich zu lesen (wenn auch vielleicht nicht gerade auf der Straße). Forscher der Universität in Yale wollen nämlich herausgefunden haben, dass Menschen, die mindestens dreieinhalb Stunden pro Woche lesen, länger leben. Länger zu leben, ist das eine, aber mir ist vor allem wichtig, glücklicher zu leben.

Ich bin heute ein anderer Mensch, auch wenn ich noch Martin heiße. Meine Krankheit hat nicht gewonnen, sondern ich.

Rico Grimm


  • Dieses Video erklärt Depressionen gut:

https://www.youtube.com/watch?v=1UiA32Qv4yE

  • Hier findest du bei Depressionen Hilfe (auf die Anmerkung rechts klicken)

Im Krautreporter Podcast „Verstehe die Zusammenhänge“ spricht Martin Gommel mit Julia Seeliger über seine Serie:

Nachdem Martin Gommel drei Folgen über seine Depressionen auf Krautreporter veröffentlicht hat, führt Julia Seeliger mit ihm ein sehr persönliches Gespräch über die Krankheit, die Darstellung depressiver Menschen in den Medien und auch über den Kiesler-Kreis, den Martin in Kliniken gelernt hat und heute noch anwendet.


Wissenschaftliche Redaktion: Silke Jäger. Redaktion: Theresa Bäuerlein: Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel. Fotos: Rico Grimm.

Mein Weg aus der Depression: Wut

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