Prokrastination Keine Angst vorm Aufschieben

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Wer prokrastiniert, ist selten faul, sondern sehr aktiv

Wer nun aber denkt, dass jeder aufschiebende Arbeitnehmer für seine Faulheit und damit sein Unglück selbst verantwortlich ist, dem sei zunächst gesagt: Jemand, der prokrastiniert, ist selten faul, sondern sehr aktiv – bloß ist seine Tatkraft letztlich fehlgeleitet. Dazu kommt im Arbeitsleben eine wichtige Einschränkung: Selten definiert man die eigene Tätigkeit selbst, meistens kommen die Aufträge von oben.

Und die sind mitunter zu vage und allgemein formuliert. „Wer den Weg zum Ziel nicht kennt, schiebt die Aufgabe deshalb öfter weg“, sagt Johannes Hoppe. Der Psychologe erforscht diesen fremdgesteuerten Teil des Prokrastinierens an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er kennt viele Fälle von Betroffenen, die sich in eine Abwärtsspirale begeben und sich einbilden, nicht gut genug zu sein – und dadurch das Problem verstärken. „Man gibt sich selbst die Schuld“, sagt Hoppe, „obwohl auch die Führungskraft verantwortlich ist.“

In einer kürzlich veröffentlichten Studie entdeckte der Psychologe einen Ausweg. Hoppe riet Studenten und deren Betreuern, bei anstehenden Abschlussarbeiten gemeinsam konkrete Ziele und Fristen festzulegen – und das reduzierte die Aufschieberitis. „So können auch Vorgesetzte ihre Mitarbeiter unterstützen“, sagt Hoppe.

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Doch in manchen Fällen kann es sogar ratsam sein, Dinge bewusst zu vertagen. In einer Arbeitswelt, in der hinter jeder erledigten Aufgabe immer gleich die nächste wartet und jede beantwortete Mail von zwei neuen ersetzt wird, ist Aufschieben eine wichtige Form des Priorisierens. Prokrastination kann außerdem eine Auszeit verschaffen, um den mentalen Akku wieder aufzuladen.

Mehr noch: Wer eine kreative Aufgabe aufschiebt, kommt derweil auf ganz neue Ideen. Davon ist zum Beispiel der US-Finanzprofessor und Autor Frank Partnoy von der Universität von San Diego überzeugt. In seinem Buch „Wait“ plädiert er dafür, Entscheidungen so lange wie möglich hinauszuzögern, weil man dann im Optimalfall mehr Informationen zur Verfügung hat. Und natürlich kann eine nahende Abgabefrist den entscheidenden Energieschub liefern, um die Aufgabe konzentriert anzugehen.

Bei allen Vorteilen des Vertagens ist es aber wichtig zu merken, wann Verhalten schädliche Formen annimmt – denn Prokrastinieren kann auch zur Qual werden. Der amerikanische Autor Andrew Santella widmet sich der Vielschichtigkeit des Phänomens in seinem kürzlich erschienenen Buch „Soon“. Auf der Suche nach einer Rechtfertigung für seinen eigenen Hang zum Hinauszögern beschäftigte er sich mit Menschen, die trotz (oder gerade wegen) dieser Eigenschaft Großes erreichten: Leonardo da Vinci, Charles Darwin, Georg Christoph Lichtenberg oder Frank Lloyd Wright.

Santella glaubt: Prokrastination ist in Wahrheit der Versuch, die Zeit zu manipulieren, indem man Aktivitäten von einer konkreten Gegenwart in eine abstrakte Zukunft verschiebt. Er sieht die Neigung zum Verdaddeln als „eine der größten Gaben, die der menschliche Geist zu bieten hat“.

Dennoch ist er sich darüber im Klaren, dass jede dieser Zeitreisen einmal enden muss. „Was für ein Traum es doch wäre, wenn man zweimal existieren könnte“, schreibt er, „sodass man zu jeder Zeit beides wählen könnte: fleißig und faul, Draufgänger und Prokrastinierer.“

Diesen Widerspruch so leicht aufzulösen wird genau das bleiben: ein Traum.

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