Supercomputer Watson : Im Krankenhaus fällt die Wunderwaffe durch
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Das Computersystem Watson soll Patientendaten analysieren. Bild: dpa
Der Supercomputer Watson von IBM wurde schon als Heilsbringer im Kampf gegen Krebs und andere schwere Krankheiten angepriesen. Viel gebracht hat die Künstliche Intelligenz bisher allerdings nicht.
Es sah aus wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Der Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg (DKFZ) und der für Deutschland zuständige Geschäftsführer des IBM-Konzerns schüttelten sich die Hände, schauten zuversichtlich in die Kameras. Das Bündnis von Spitzenmedizin und Hightech, das sie gerade besiegelt hatten, sollte den Kampf gegen den Krebs voranbringen, das Leiden der Patienten lindern, ihr Leben verlängern.
Beide Disziplinen brachten dafür nach eigener Überzeugung das Beste mit, was sie zu bieten hatten: das DKFZ die drei Vorzeigeprojekte, für die es in einem internationalen Forschungsverbund Hirn-, Prostata- und Lymphgewebetumoren so eingehend wie nie zuvor untersucht. IBM einen Superrechner namens Watson, als Inbegriff der Künstlichen Intelligenz bekannt. Er sollte das Erbgut von jeweils 500 Patienten pro Projekt nach den für ihre Krankheit entscheidenden Mutationen durchforsten und in den Weiten der medizinischen Forschung nach geeigneten Therapien dafür suchen. Man habe in dem amerikanischen Konzern den „idealen Partner“ gefunden, um die „Schätze aus dem Datendschungel“ zu heben, frohlockte der DKFZ-Chef.
Das war auf der Computermesse Cebit in Hannover, anno 2011. Herausgekommen ist: nichts. Es habe zwar viele Sitzungen mit den Leuten von IBM gegeben, heißt es aus Heidelberg, aber nur ein einziges konkretes, inhaltlich allerdings sehr überschaubares Pilotprojekt zur Übertragung großer Datenmengen. Über die Pilotphase ist dieses jedoch nie herausgekommen. Der Eindruck auf Seiten der Forscher: IBM sah die Vereinbarung vor allem als eine Vertriebsmöglichkeit für seine Produkte. Die aber passten nicht zum tatsächlichen medizinischen Bedarf. Der heutige DKFZ-Stiftungsvorstand Michael Baumann, dessen Vorgänger sich noch so viel davon versprochen hatte, die Watson-Technologie für die Entwicklung maßgeschneiderter Krebsbehandlungen zu nutzen, beschränkt sich nach außen auf eine nüchterne Tatsachenbeschreibung: „Der Rahmenvertrag ist ausgelaufen, ohne dass Geld an IBM geflossen ist.“
Häufige Fehlanalyse von Daten
Die Schmach von Heidelberg ist für IBM und seine vermeintliche medizinische Wunderwaffe Watson kein Einzelfall. Im Gegenteil, zuletzt hagelte es gleich reihenweise Rückschläge. Die Krankenhauskette Rhön-Klinikum etwa wollte mit IBM im großen Stil Patientenakten und Arztbriefe digital erfassen. Watson sollte aus diesen Daten Vorschläge zur weiteren Behandlung herausfiltern. Die Zusammenarbeit wurde im vergangenen Jahr jedoch beendet, bevor sie richtig begonnen hatte. Die hinter vorgehaltener Hand vorgebrachten Berichte aus der Abteilung des Marburger Universitätsklinikums, in der Watson getestet worden war, hören sich nach „Pleiten, Pech und Pannen“ an. Die Technik sei jedenfalls nicht brauchbar für den Krankenhausalltag gewesen.
Von IBM heißt es, man habe aus den abgebrochenen Allianzen und Projekten viel gelernt und glaube nach wie vor an den Erfolg von Watson im Gesundheitswesen. „In Pilotprojekten probieren eben beide Seiten etwas aus“, sagt eine Sprecherin. Auf Einzelfälle wolle man nicht eingehen. Aber mehr als 150 Krankenhäuser auf der Welt setzten das System heute ein, die Datenanalyse sei noch schneller und präziser geworden als in der Vergangenheit, mehr als 100.000 Patienten seien schon mit Watsons Hilfe behandelt worden.
Die Krebsstation des größten dänischen Krankenhauses in Kopenhagen indes verzichtet inzwischen auf Watson. Dort berichteten Ärzte im vergangenen Jahr, das System habe in mehreren Fällen die Behandlung mit Medikamenten empfohlen, die für die Patienten nach ihrer Ansicht gefährlich gewesen wären. Jeder dritte Vorschlag des Computers sei daneben gewesen.
Das Jahrhundertprojekt
Was läuft da schief? Warum fällt Watson in der Medizin ein ums andere Mal durch? Das Computerprogramm – übrigens nach Thomas John Watson, einem äußerst erfolgreichen früheren Konzernlenker von IBM, benannt und nicht nach dem Kompagnon von Meisterdetektiv Sherlock Holmes – kam 2011 groß raus, als es in der amerikanischen Fernsehshow „Jeopardy“ die Quizfragen besser zu beantworten wusste als zwei menschliche Kandidaten. Damit wurde der breiten Öffentlichkeit schlagartig klar, wie weit die Entwicklung selbstlernender Systeme fortgeschritten war – und was künftig noch davon zu erwarten sein dürfte. IBM hat den Jeopardy-Coup nach Kräften für sich genutzt, eine große Werbekampagne gestartet und die Watson-Technik für viele unterschiedliche Anwendungsgebiete verfeinert. Inzwischen gibt es Bildungssoftware und Marketinganalysen auf Watson-Basis, aber auch Programme für die Personalabteilung und für die Geldanlage, Übersetzungshilfen und Spracherkennung. Ein Roboter mit Watson-Intelligenz fliegt demnächst sogar mit ins All, um dem deutschen Astronauten Alexander Gerst und seinen Kollegen auf der Internationalen Raumstation ISS mit seinen Kameras und Sensoren, Datensammlungen und Speichermöglichkeiten zur Seite zu stehen.
Die Gesundheitssparte von Watson gibt es trotzdem noch. Als ein Jahrhundertprojekt hat die IBM-Konzernchefin Ginni Rometty das Vorhaben einmal bezeichnet, vergleichbar nur mit der Mondlandung. „Am Ende soll jeder Arzt am Tabletcomputer in Echtzeit erfahren, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Therapie für einen bestimmten Patienten erfolgreich sein wird“, kündigte eine deutsche IBM-Managerin vor fünf Jahren in der F.A.Z. an. „Damals bekam ich angesichts der Versprechungen schon Komplexe“, berichtet ein niedergelassener Krebsmediziner aus München. Grob vereinfacht, sah die Vision so aus: Man füttert das Programm beispielsweise mit Genom-Analysen und Computertomographie-Aufnahmen, lässt die Algorithmen ihre Arbeit machen – und dann spuckt Watson das passende Medikament aus. Damit das gelingt, hat IBM die Software jahrelang nicht irgendwo mit Daten zu 13 verschiedenen Krebsarten gefüttert, sondern an einem der angesehensten Krebszentren der Welt, dem Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York.
„Ich habe mir Watson dort ansehen können“, sagt der deutsche Krebsmediziner Michael Hallek von der Uniklinik Köln. Watson komme in den üblichen Fällen zwar meistens zum selben Schluss wie eine mit Ärzten aus Fleisch und Blut besetzte Tumorkonferenz, die in großen Krankenhäusern die Entscheidungen über die Behandlung von Krebspatienten trifft. Mehr aber auch nicht. Das Computerhirn habe keine zusätzlichen Ideen geliefert, die Mediziner nie auf dem falschen Fuß erwischt. „Das hätte man alles auch in jeder anderen Forschungsdatenbank oder in einem Lehrbuch nachschlagen können“, sagt Hallek.
Das entscheidende Problem sei aber, dass Watson an einem amerikanischen Oberklasse-Krankenhaus trainiert worden sei und seine Vorschläge auf der Basis der dort eingespeisten Daten treffe. Denn darum geht es bei der Künstlichen Intelligenz ja immer: um Mustererkennung, den Abgleich eines speziellen Falls mit den in der Datenbank abgelegten Referenzfällen – und um die Anwendung der dafür vorgegebenen Maßnahmen. „Diese Patienten sind aber nicht repräsentativ für den Rest der Welt“, sagt Michael Hallek. „Und viele Leitlinien für die medizinische Behandlung sind in Amerika anders als etwa in Europa, sie driften leider immer stärker auseinander.“ So seien amerikanische Ärzte eher dazu geneigt, teure neue Medikamente zu verordnen, als ihre europäischen Kollegen, weil sie daran – ganz legal – mitverdienen könnten. „Deshalb braucht Watson für den Einsatz in Europa noch viele zusätzliche Daten.“
Ernüchtert spricht auch Stephan Holzinger, der Vorstandsvorsitzende der privaten Krankenhauskette Rhön-Klinikum, über seine Erfahrungen mit Watson. Im Rhön-Klinikum ging es nicht speziell um die Krebsmedizin, sondern um die Digitalisierung von Patienten- und Behandlungsdaten insgesamt. Das soll auf Dauer Kosten sparen und die Behandlung verbessern. Wenn alle Untersuchungsergebnisse – bei manchen Patienten sind das zwei oder drei Aktenordner – mit einem Klick komplett verfügbar sind, müsste das die Entscheidungsfindung der Ärzte doch enorm verbessern, dachte man. Doch dann habe sich, sagt Holzinger, „die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit als so groß erwiesen, dass wir rasch unternehmerisch handeln mussten“ – nach anderthalb Jahren wurde die Zusammenarbeit beendet.
Eine Million Euro oder mehr dürfte der Irrtum Rhön gekostet haben, schätzen Fachleute. Statt mit IBM sucht die Krankenhauskette nun mit einer kleinen österreichischen Softwarefirma nach der richtigen Lösung. Eine Lehre aus dem fehlgeschlagenen Versuch ist laut Holzinger, dass man die Zügel jetzt viel stärker selbst in der Hand halte und sich nicht auf vorgefertigte Bausteine einlasse. „Wir sind jetzt spürbar schneller und kostengünstiger unterwegs“, sagt der Krankenhaus-Chef.
Noch längst nicht so weit
Ein Drittel aller Daten, die rund um die Welt erhoben werden, sind nach der Einschätzung von Computerfachleuten Gesundheitsdaten: Blutwerte, Röntgenaufnahmen, Fieberkurven. Eigentlich alles wie gemacht für den Einsatz von selbstlernenden Maschinen, die solche Daten schneller und zuverlässiger als Menschen verarbeiten können. Erst recht, seit die Entschlüsselung des Erbguts die Datenmenge in der Medizin vervielfacht hat. Rund 2000 Gigabyte Speicherplatz belegt die Auswertung eines einzigen menschlichen Genoms – so viel Speicherkapazität haben die meisten handelsüblichen Laptops nicht. Die wenigen Stellen zu finden, an denen sich gesundes Gewebe von Tumorgewebe unterscheidet, gleicht da der sprichwörtlichen Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Ohne die Hilfe von Computern und superschnellen Datenbanken wäre das ein aussichtsloses Unterfangen.
Doch die Rückschläge von Watson zeigen, dass Medizin etwas anderes ist als Marktforschung und Kundenservice, um zwei erprobte Anwendungsbereiche von Künstlicher Intelligenz zu nennen. Man kann Robotern heute gut beibringen, Leute am Telefon oder per Mail auszufragen. Aber wenn es um Krankheit und Gesundheit geht, dann genügen exakte Daten und elegante Algorithmen allein offensichtlich nicht. Da sind erstens die Patienten, die zu unterschiedlich sind für eine starre Mustererkennung. Da sind zweitens die Mediziner, die Diagnose und Therapie nicht aus der Hand geben wollen. Und da sind drittens Tugenden wie Intuition und Kreativität, die sich aus den Daten schlecht ableiten lassen, aus dem ärztlichen Alltag aber nicht wegzudenken sind. „Auch in Zukunft wird es auf die Erfahrung und die Intuition der Ärzte ankommen“, prognostiziert der Kölner Onkologe Michael Hallek. „Auf den Einsatz der eigenen Sinne bei der Diagnose, auf das Hören, Riechen, Sehen und Fühlen.“
Auch andere Großkonzerne setzen prinzipiell darauf, dass ähnliche Anwendungen im Krankenhaus eine Zukunft haben. Aber sie hüten sich davor, große Erwartungen zu schüren. Der deutsche Softwarekonzern SAP konzentriert sich auf sein Kerngeschäft mit schnellen Datenbanken, die für den Einsatz in der Klinik perfektioniert werden sollen. Und der Schweizer Pharmahersteller Roche bietet den Krankenhäusern erst einmal seine Dienste bei der Digitalisierung ihrer Daten an. Eines Tages könnten diese Daten auch einmal standortübergreifend ausgewertet werden, stellt Konzernchef Severin Schwan in Aussicht, und dann könnten sich daraus auch Therapieempfehlungen ergeben. Aber noch sei man längst nicht so weit.