Der Premierminister hat also die Königin belogen. So hat es der Londoner Supreme Court natürlich nicht gesagt. Aber darauf läuft sein Urteil hinaus. Als Boris Johnson die Queen bat, das Unterhaus für fünf Wochen in die Ferien zu schicken, ging es ihm eben nicht um die Vorbereitung seines Regierungsprogramms und dessen Bekanntgabe in einer Queen’s Speech, wie er gegenüber dem Buckingham Palace argumentierte. Johnson wollte das Parlament daran hindern, ihm beim Brexit weiter in die Parade zu fahren. Deshalb sollten die Sitzungen des Unterhauses bis zum 14. Oktober ausgesetzt werden. Elisabeth II. stimmte zu – vom Regierungschef getäuscht, wie nun höchstrichterlich festgestellt wurde. Das Gericht nannte die dem Parlament verordnete Zwangspause "rechtswidrig, nichtig und unwirksam".

Eigentlich bleibt Boris Johnson jetzt nur noch eines: den Rücktritt zu erklären, seine Siebensachen zu packen und 10 Downing Street auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Er hat sich nicht nur bis auf die Knochen blamiert. Er hat Großbritannien auch in eine veritable Verfassungskrise gestürzt.

Doch Johnson will von einem Rücktritt nichts wissen. Im Gegenteil, er greift das Urteil an: "Ich bin entschieden anderer Meinung." Erst hat er sich gegen das Parlament gestellt, jetzt widerspricht er dem obersten Gericht. Am Rande der UN-Vollversammlung in New York bekräftigte er, den "Willen des Volkes" durchsetzen zu wollen. Das ist Populismus pur. 

Johnson ohne Anstand

Normalerweise versucht das höchste britische Gericht, erst 2009 gegründet, sich nicht in den politischen Streit hineinziehen zu lassen. Das Vereinigte Königreich hat – anders als Deutschland oder die Vereinigten Staaten – keine geschriebene Verfassung. Gesetze, Traditionen und Konventionen regeln das Miteinander der staatlichen Institutionen. Damit dies funktioniert, müssen sich alle Beteiligten an die Spielregeln halten, was wiederum ein Mindestmaß an politischem Anstand voraussetzt. 

Den aber sucht man bei Boris Johnson vergeblich. Schon als Journalist log er wie gedruckt, und so hält er es auch als Politiker. Ein Spieler, der die Macht will. Und sonst gar nichts. Der frühere konservative Premier John Major wollte es nicht länger ertragen und unterstützte die Klage vor dem Supreme Court mit einer schriftlichen Erklärung: Johnsons Drängen auf eine Zwangspause für das Parlament sei "wesentlich motiviert" von dem Wunsch, das Unterhaus an einer weiteren Debatte über den Brexit zu hindern. Nach der Verkündung des Urteils verlangte Major von Johnson eine Entschuldigung: Kein Premierminister dürfe die Monarchin oder das Parlament je wieder so behandeln.

Wie es mit dem Brexit weitergehen soll, darüber haben Großbritanniens höchste Richter unter Vorsitz von Baroness Brenda Hale nicht entschieden. Das war auch nicht ihre Aufgabe. Darüber muss nun wieder im Unterhaus gestritten werden – und man mag sich das Tollhaus gar nicht vorstellen, das wir in den kommenden Tagen erleben werden. John Bercow, der rauflustige Speaker des Unterhauses, rief die Abgeordneten schon für den heutigen Mittwoch wieder zusammen.

Desolate Labour Party

Ungewissheit über den Brexit besteht auch deshalb, weil die Labour Party nicht weiß, was sie will. Auf dem Parteitag in Brighton zeigt sie sich in desolater Verfassung. Die Mehrheit der Mitglieder möchte sich klar zu einem Verbleib in der Europäischen Union bekennen. Aber Parteichef Jeremy Corbyn verweigert sich dem Drängen und brachte den Parteitag auf seine Linie. Corbyn strebt baldige Neuwahlen an. Danach soll eine Labour-Regierung in Brüssel einen besseren Deal aushandeln als dies Theresa May und Boris Johnson vermochten. Anschließend möchte er die Briten in einem zweiten Referendum vor die Alternative stellen: Brexit auf der Basis des neu ausgehandelten Deals – oder Verbleib in der EU.

Labours Lavieren ist eine Schande. Diese stolze alte, internationalistische Partei hätte sich schon vor Jahren an die Spitze der Remain-Bewegung setzen müssen. Stattdessen hat Corbyn endlos taktiert, mit dem Ergebnis, dass er bei den Briten unbeliebter ist als jeder andere Labour-Vorsitzende seit dem Zweiten Weltkrieg. Das muss man in dieser Situation erst einmal schaffen.

Die drei Versager

So ruhen die Hoffnungen der Europafreunde in Großbritannien einstweilen allein auf den Liberaldemokraten. Die haben sich in ihrem Bekenntnis zu Europa nie irremachen lassen. Bei den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament wurden sie für ihre klare Haltung belohnt. In den Umfragen liegen sie jetzt nur noch knapp hinter Labour.

Ob Boris Johnson die Chuzpe hat, bei Neuwahlen noch einmal anzutreten? Zuzutrauen ist es ihm. Gegen alle Kritik, die auf ihn einstürzt, zeigt er sich bisher gänzlich schmerzfrei. Und wer weiß, die vom Brexit vergiftete Stimmung im Land ist so aufgewühlt, dass niemand seinen Sieg ausschließen kann.

Schwer zu klären, wo hier die Tragödie endet und die Farce beginnt. Aber alle drei großen Versager der britischen Politik – David Cameron, Boris Johnson und Jeremy Corbyn – können von sich sagen, dabei gewesen und schuld daran zu sein.