Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) galten lange als Gimmick im Handel. Eine ganze Reihe neuer Anwendungen zeigt nun das Anwendungspotenzial in E-Commerce und Retail. Doch können die Lösungen ihre Versprechungen halten?

Laut einer Studie von Goldman Sachs soll die AR/VR-Branche bis zum Jahr 2025 zu einem 85-Milliarden-Dollar-Markt anwachsen. Dabei wird sich der Löwenanteil sicher auf Gaming und Video konzentrieren, doch ein dicker Batzen wird dabei auch im Handel bewegt. Das Ziel: den Laden buchstäblich auf die Couch bringen, die Produkte im Laden erlebbarer machen. Kaum ein großer Player mischt da inzwischen nicht mit.

Eine der jüngsten Ankündigungen kommt von Zara, Modekette des weltgrößten Bekleidungshändlers Inditex.  In einer zweiwöchigen Testphase in 120 Flaggschiffläden werden Augmented-Reality-Displays erprobt. Per Smartphone können sich Kunden die Kleidung an der Stange oder im Schaufenster von einem virtuellen Modell anzeigen lassen. Manch einem erspart das womöglich den Gang in die Umkleidekabine. Nette Spielerei: Bei der Abholung der Online-Bestellung in einer Zara-Filiale kann ein Code auf dem Karton gescannt werden, der dann das Model im passenden Look auf das Smartphone holt.

Macy’s will nach Pilotprojekten in einigen Flagship-Stores noch in diesem Sommer in mehr als 50 Filialen Virtual Reality einsetzen, die Kunden per Datenbrille zeigt, wie die Möbel im Laden im eigenen Zuhause aussehen. Nach der ersten Planung am Tablet können Kunden den Raum mit einer Datenbrille in VR "betreten".

Macy's VR Furniture from MacysMediaRelations on Vimeo.

Der Vorteil: Macy’s kann so eine größere Auswahl an Möbeln präsentieren, ohne Platz für die Präsentation zu verschwenden. Küchenplanung in VR kennt man länger auch schon von Media-Saturn.

Fast schon Routine sind dagegen AR und VR im Beauty-Segment, die sich online und offline nutzen lassen  Die Make-up-Genius-App von L'Oréal macht beispielsweise das Smartphone zum Spiegel, hilft Looks und Make-up-Farben auszuprobieren oder neue Frisuren auf den eigenen Kopf zu projizieren (“Style My Hair”).
Der Kosmetikhersteller hat zudem gerade erst den Dienstleister Modiface übernommen, der schon seit einigen Jahren auf Beauty-AR-Apps spezialisiert ist und unter anderem Anwendungen für Sephora und Estée Lauder entwickelt hat. Auch Chinas Handelsriese JD.com hat kürzlich für die „AR Styling Station" neue AR / VR-Makeup-Funktionen eingeführt, mit denen Kunden Kosmetika auf ihren eigenen Gesichtern testen können.

JD.com AR Styling Station

Auch online sollen die Erlebnis-Dimensionen verschmelzen.

Otto bietet nun für seinen Möbel-Spezialshop yourhome eine Augmented-Reality-Anwendung für Android-Smartphones. Ausgewählte Möbel lassen sich damit virtuell und maßstabsgetreu im Raum platzieren.

Baumarkthändler Lowe's bietet sein Augmented Reality-Feature "View in Your Space" inzwischen für iOS- und Android-Nutzer an, die sich die aktuelle Kollektion damit in der heimischen Umgebung aus allen Blickwinkeln anzeigen lassen können.  Das soll jene Kunden aktivieren, denen es daheim an Vorstellungskraft fehlt.

Online-Möbelhändler Wayfair bietet ebenfalls eine Augmented-Reality-Funktion, um virtuelle Möbel in Wohnbereichen zu platzieren.

Modehändler Gap geht sogar noch einen Schritt weiter und bietet mit der App „Dressing Room“ die Option, daheim einen virtuellen Avatar von sich selbst zu erstellen, den man dann wie eine Anziehpuppe nutzen kann. Allerdings wurde die App zuletzt nicht mehr weiter entwickelt.

Wette auf die Zukunft

Gerade  für den Möbelhandel sind AR und VR eine der ganz großen Wetten auf die Zukunft, um das Markenerlebnis zu steigern.

Möbelhändler Cairo bietet jetzt im Web ein hochauflösendes und "behgehbares" 3D-Modell des Design-Stores in Nürnberg an, das mit dem Webshop cairo.de vernetzt ist. Möglich ist der virtuelle Spaziergang unter 3d.cairo.de. Die Steuerung erinnert an Google Street View. Einzelne Möbel aus dem Laden lassen sich per Mausklick im Webshop aufrufen. Der virtuelle Rundgang ist auch mit VR-Brille möglich.

Ikea, das manch einer gerne zum digitalen Nachzügler stilisiert, vermittelt das Gefühl, durch einen Ikea-Store zu stolzieren, bereits seit vergangenem Jahr. Cairo, das mit seiner Lösung zeigt, dass auch ein Mittelständler digitalen Ehrgeiz haben darf,  und Ikea vertrauen dabei auf den Dienstleister Matterport.

Ikea hat in Sachen VR und AR zuletzt sowieso nicht die Beine hochgelegt. In ausgewählten Ikea-Einrichtungshäusern können Kunden mit der Oculus Rift in einem 3D-Showroom interaktiv durch Wohnungen wandeln (Agentur: Demodern) und der um Augmented Reality erweiterte Katalog bietet inzwischen eine ansehnliche Lösung für die virtuelle Möbelplanung in den eigenen vier Wänden.

IKEA - Virtual Reality Showroom

Ikea VR-App in der U-Bahn


Die Möbelhändler sind ihren Versuchen aber nicht alleine. Saturn schickte Ende 2017 seine Kunden zum Einkauf in die virtuellen. Es war vor allem eine Demo in den Läden. Für Besitzer einer VR-Brille von Oculus oder HTC gab es  die "Virtual Saturn"-App aber auch im Oculus Store und im Viveport zum Download.

Virtual Saturn


In Chinas zeigte Alibaba mit Buy + eine immersive Erfahrung, die es den Nutzern ermöglichte, ein virtuelles Einkaufszentrum zu erkunden und in Geschäften wie Macy's einzukaufen.

VR-Shopping Buy+

Angstgegner Amazon

Warum aber machen Händler und Hersteller derzeit Tempo? Der Grund heißt Amazon.
Schon vor einem Jahr hieß es in der „New York Times“ Amazon könnte nicht bloß neue Stores für Mode oder Möbel eröffnen, sondern diese womöglich gleich mit AR oder VR aufwerten.  

Und dann zeigt Amazon auch noch ohne davon allzu viel Aufhebens zu machen, wie elegant und ubiquitär sich AR für die Produktpräsentation in der App nutzen lässt. Seit dem Debut vor rund einem Jahr hat Amazon das Produktangebot ausgeweitet, im Februar erst die AR-Funktion für Android bereitgestellt und bietet in der virtuellen Realität haufenweise Möbel, Elektronikprodukte, Spielzeug und Haushaltsgeräte.

Amazon AR View Home


Doch ob ein 3D-Modell auf dem Display des Smartphones dann wirklich Zweifel beseitigt und zum Klick in den Warenkorb verleitet? Unklar. Noch sind die Fallzahlen viel zu gering, um valide Kennzahlen zuliefern.

Das gilt erst Recht auch für die 3D-Modelle eines Ladens im Web. Sicher kann es inspirierend sein, durch einen VR-Laden zu spazieren. Doch fehlt es dem Online-Kunden an all den Bequemlichkeiten, die er aus dem Webshop gewohnt ist: Filter, Navigationsleisten, Preissortierung, Bewertungen und Spezifikationen. Die gibt es erst einen Klick später. Das kann heute für Nutzer ein weiter Weg sein. Vielleicht zu weit. Gerade auch mit Blick auf VR-Shopping fehlt es zudem noch an billigen, leichten Headsets, die wirklich Spaß machen und „unter“ denen sich der Nutzer auch bei einem Einkauf wohl fühlt.

Es fehlt noch an Tiefe

Jeder Test von VR und AR vermittelt zwar das Gefühl, ein cooles Spielzeug zu nutzen, ohne uns aber all die Informationen für den eher rational geprägten Online-Einkauf zu liefern, wie wir es inzwischen gewohnt sind. Erst wenn AR und VR den Datenschatz nutzen, der mich sonst begleitet, hilft mir die Technik eine gute Wahl zu treffen. Denn ich will nicht durch einen Ikea laufen – auch nicht virtuell. Ich will nicht virtuell und per App ein Adidas-Shirt anprobieren, ohne zu wissen, wie die Erfahrungen anderer Nutzer sind. Das ist die Dimension, um die 3D erweitert werden muss.

Die aktuellen Lösungen aber sind dafür noch nicht ausgelegt. Bei ihnen geht es derzeit noch allein um eine Erweiterung der visuellen Möglichkeiten. Das ist online sicherlich hilfreicher als im Laden. Dort wirken neue Technologien wie Hologramme und VR zwar verlockend, um ein wenig Aufregung ins Einkaufserlebnis zu bringen. Am Ende aber zählen in der Mode Passform, Haptik -  bei Kleinmöbeln Anmutung und Bequemlichkeit.  Zwar lassen sich manche Kundenbedenken („Passt das wirklich zu unserem Wohnzimmer?“) so leichter lösen, doch hilfreich ist die Technik eher bei kostspieligeren Investitionen wie der Couch oder der Küche.

VR und AR haben somit zwar inzwischen ganz sicher die Evolutionsstufe eines Gimmicks hinter sich gelassen und können zu „Wow“-Effekten führen. Aber: „Wow“-Effekte ermüden ganz schnell. Bevor man online also in AR und VR investiert, sollte man lieber schauen, ob die Usability im Webshop schon perfekt ist. Im Laden sollte man sicher sein, dass die vernetzten Omnichannel-Prozesse reibungslos laufen. Sonst dient die künstliche Realität nur dazu, um die wirklichen Probleme zu überdecken. Davon lassen sich Kunden aber selten blenden. Bei Saturn hat man denn auch schon ein bisschen weiter gedacht. In der dortigen VR-Welt, die auch noch ihre Umständlichkeiten hat, kann man sich auch einen Einkaufsberater kommen lassen, virtuell - versteht sich.

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