Organspende:Eine Niere aus dem Internet

Weniger Sachsen-Anhalter warten auf Organspende

8000 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für eine Nierentransplantation. Doch insgesamt sind 100 000 Personen auf regelmäßige Blutwäsche per Dialyse angewiesen

(Foto: dpa)
  • Ein Dokumentarfilm porträtiert Menschen, die wegen der sonst lebensbedrohlich langen Wartezeit auf Facebook nach einer Spenderniere suchen.
  • Die Protagonisten kommen aus den Niederlanden, in Deutschland wäre ein solcher Aufruf verboten.
  • Hierzulande erklären sich in Umfragen zwar 80 Prozent zur Spende bereit. Einen Organspendeausweise haben aber nur etwas mehr als 30 Prozent.

Von Werner Bartens

"Ich habe Angst, dass ich beim Warten sterbe", sagt Lammert Hoomma. Er ist erst 40 Jahre alt, sieht aber älter aus. Der Nierenkranke reinigt sein Blut nachts mittels Bauchfell-Dialyse. Er wartet auf ein Spenderorgan, aber das kann noch Jahre dauern. Bis es so weit ist? "Ich versuche ein starker Papa zu sein für meine kleine Tochter", sagt Hoomma. "Und ich suche auf Facebook einen Spender."

Camilla Corporal hatte die Hoffnung fast aufgegeben. Die 49-Jährige ist ebenfalls schwer nierenkrank. Ihre Angehörigen waren für eine Transplantation nicht geeignet, dann hat auch Camilla auf Facebook geschrieben, dass sie eine Niere braucht und Lebendspender sucht. Ein halbes Jahr lang hat sie gezögert; es ist nicht leicht, sich als hilfsbedürftiges Opfer zu präsentieren. "An einem Sonntag habe ich den Aufruf gepostet, bis Mittwoch wurde er 55 000-mal geteilt", sagt sie.

Die beiden niederländischen Patienten sind Protagonisten des Dokumentarfilms "Bitte eine Niere! Organspende via Facebook", den Arte an diesem Montag zeigt. Am Freitagabend wurde die Dokumentation vorab in Berlin präsentiert. Eine anschließende Diskussion machte das Dilemma deutlich zwischen ethischen Ansprüchen, drohenden Abgründen des Organhandels und der Not der Kranken, von denen in Holland jetzt einige mithilfe der sozialen Netzwerke versuchen, einen Menschen zu finden, der ihnen eine Niere spendet und sich dafür unters Messer legt.

"Als wir in Holland 2005 mit anonymen Spendern angefangen haben, war ich skeptisch: Wer macht so was? Sich für einen Fremden operieren lassen?", sagt Stefan Berger, deutscher Nierenexperte, der in den Niederlanden als Arzt arbeitet. "Aber als ich die ersten anonymen Spender vor mir hatte, war das so schlüssig, die wollten einfach Gutes tun." Die Suche per Facebook sei jetzt ziemlich neu, da müsse man noch Erfahrungen sammeln. In Deutschland ist sie verboten.

Der liberalere Umgang mit der Organspende macht das Leben für Nierenkranke in den Niederlanden besser, ist Berger überzeugt. Der Anteil der Lebendspender sei deutlich höher. Zudem beträgt die durchschnittliche Wartezeit für ein postmortales Organ in den Niederlanden knapp drei Jahre, in Deutschland sind es sieben bis acht Jahre. "Diese Zeit muss man erst mal überleben", sagt der Arzt. "Viele sterben bis dahin."

Bei der Diskussionsveranstaltung kam Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, zu einem eindeutigen Fazit: "Wir Ärzte setzen uns für die Widerspruchslösung ein", sagte er Freitagabend in Berlin. "Nicht die Ärzte sind das Problem, sondern man müsste die Gesetze ändern." Die Bereitschaft zur Organspende geht in Deutschland seit Jahren zurück. 2017 war mit 797 postmortalen Organspendern, von denen 2765 Organe verpflanzt wurden, der vorläufige Tiefpunkt erreicht.

Ärztepräsident Montgomery fordert eine Widerspruchslöung für Deutschland

Nach Ansicht vieler Experten würde die Widerspruchslösung, die beispielsweise in Österreich gilt, mehr Kranken zu neuen Organen verhelfen: Menschen müssen sich aktiv gegen eine Organspende im Falle ihres Hirntods aussprechen. In Deutschland gilt bislang die Zustimmungslösung: Nur wer sich zu Lebzeiten aktiv dafür entscheidet, dem werden im Falle eines Hirntods Organe entnommen - auf die allein in Deutschland mehr als 10 000 Menschen dringend warten.

Ärztekammerpräsident Montgomery ist "neidisch auf die Kollegen in Holland, zumindest auf ihre Ergebnisse". Als Arzt müsse man aber die restriktiven Regeln zur Transplantation in Deutschland befolgen. In den Koalitionsverhandlungen sei eine Gesetzesänderung bisher kein Thema. In Deutschland erklären sich in Umfragen zwar 80 Prozent der Menschen zur Spende bereit - theoretisch. In der Praxis haben aber nur etwas mehr als 30 Prozent einen Organspenderausweis.

Ärzte, Funktionäre, Patientenvertreter, sie alle wollen helfen. Nur über den optimalen Weg gibt es Uneinigkeit. Und darüber, welche ethischen Werte wie zu gewichten sind. "Wenn es einen Fernseher für den Spender gibt, was ist denn schon dabei", sagt Stefan Berger. "Genau das ist die schiefe Ebene, auf die wir nicht geraten dürfen", fährt Ärztepräsident Montgomery dazwischen. "Dann können sich nur noch die Reichen ein Organ leisten - dann haben wir tatsächlich eine Zweiklassenmedizin!" Allerdings sind auch bei der Lebendspende innerhalb der Familie, die in Deutschland zulässig ist, Deals nicht auszuschließen. Wenn etwa der Onkel sagt, ich mache das nur für dich, wenn ...

Deals müsste man ausschließen, auch unter Verwandten

Wichtig sei es, das Vertrauen der Menschen in die Medizin zurückzugewinnen. "Der Organspende-Skandal war ein gefundenes Fressen für alle, die schon immer ihre Unsicherheit begründen wollten", sagt Gudrun Ziegler vom Forum Organtransplantation. "Und jetzt sind die Vorbehalte und Vorurteile gegenüber einer Spende nur schwer aus den Köpfen zu bekommen." Dass sich die Zahl der Organspenden in Deutschland von Tiefstwert zu Tiefstwert hangelt, hat allerdings nicht nur mit der zurückhaltenden Bevölkerung zu tun, wendet Montgomery ein. "Viele Kliniken melden keine potenziellen Spender, Transplantationsbeauftragte finden zu wenig Beachtung und eine Organentnahme rechnet sich schlicht nicht für Krankenhäuser. "Das muss besser vergütet werden", so der Kammerpräsident. "Und dann muss es auch mal heißen, macht den OP frei für eine Organentnahme oder wir brauchen jetzt ein Intensiv-Bett!"

Die Gruppe der Nierenkranken ist die größte unter allen Patienten, die auf ein Organ warten. Darunter fallen jedoch nicht nur jene 8000 Menschen, die auf der Warteliste stehen. Insgesamt sind 100 000 Menschen in Deutschland auf regelmäßige Blutwäsche per Dialyse angewiesen.

Und die Patienten aus dem Film? Bei Camilla Corporal war eine 62-Jährige, die sich nach dem Facebook-Aufruf zur Spende bereit erklärt hatte, letztlich doch nicht geeignet. Dann hat Camilla plötzlich eine postmortale Spende bekommen, alles musste schnell gehen. Heute treibt sie wieder Sport und ist zuversichtlich. Bei Lammert Hoomma meldete sich eine Facebook-Bekannte, er hat jetzt eine Niere von ihr. Er hat nur einen Wunsch mit seiner neuen Niere: Er will wieder einen Spaziergang mit seiner Tochter Margit machen, das war zuvor unmöglich.

An diesem Montag zeigt der TV-Sender Arte um 19.40 Uhr den Beitrag: "Bitte eine Niere! Organspende via Facebook".

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