Fresh, fresher, Amazon Fresh. Alle paar Wochen taucht irgendwo mal wieder eine Meldung auf, dass Amazon bald seinen Food- Lieferdienst in Deutschland startet. Aktueller Stand: Im September 2014 geht's los. Fresheste "Quelle": "Nach Insiderinformationen in der Bild-Zeitung". Geht's jetzt los? Also jetzt mal so richtig? Klar. Hier, hier und hier und fast überall sonst, wo es um E-Commerce geht, steht's ja schließlich geschrieben.

Aber steht's da wirklich? Ach nein, irgendwie dann doch nicht: Artikelüberschriften im Indikativ, in Anreißern und Texten wird dann aber doch lieber der Konjunktiv bemüht. Weil, es könnte ja sein, dass das ja doch dann nicht so schnell geht. Da sichert man sich mal besser ab. Gut so. Denn: Da wird auch vorerst nichts kommen. Jedenfalls nichts auf einer großen Bühne. Weder von Amazon noch von einem anderen großen Online-Player. 3 Gründe, warum der Medienhype um den Online-Lebensmittelhandel unbegründet ist.

Ausgangspunkt: Wünsch dir was - Wenn Medienmenschen und Analysten ihre eigenen Bedürfnisse auf ein Thema projizieren


Amazon, der ewige Innovationstreiber. Mittlerweile zwar ein Riesenkonzern, aber in punkto Neuheiten immer noch ganz vorn mit dabei. Wie machen die das bloß? Warum ersticken gerade die nicht an einer Konzern-Bürokratie? Das muss ein Superladen sein, richtig klasse. Jetzt E-Food. Dazu noch der magische Dash-Stick, wow.

Und, hey, eigentlich wär's auch mal ja schon ganz geil, wenn Amazon jetzt in Sachen "Lebensmittel" so richtig Gas geben würde: Das Neue, das dem Alten mal wieder ein bisschen Feuer unterm stationären Hintern macht. Bisschen alteingesessene Platzhirsche "disrupten", und so. Medienmenschen und Analysten lieben so etwas und Amazon Fresh scheint momentan in diesem Kontext so sowas wie die Lieblingsprojektionsfläche der Fachwelt zu sein, wenn es um die Zukunft des Online-Lebensmittelhandels geht: "Kommt bald. Wird alles verändern. Wegbereiter für den Online-Lebensmittelmarkt."

Amazon fresh: Kommt in Deutschland so schnell nicht in die Tüte?
Amazon fresh: Kommt in Deutschland so schnell nicht in die Tüte?
Und da eh ja jeder bestimmt an irgendeinem dieser supergeilen drögen heimischen Lebensmittel-Riesen etwas rumzumäkeln hat, und da die Idee natürlich Charme hat, dass man im Bezos'schen Gemischtwarenladen auch bald Fresh Food per "One Click" nach Hause geliefert bekommt, lässt man sich nur allzugern darauf ein und macht sich mit der Idee gemein: Willkommen im Medienrauschen. "Hey liebe Leser, was haltet ihr davon?" "Find' ich super, werd's mal probieren. Endlich nicht mehr in den Supermarkt müssen. Hurra."

Das Thema zieht also auch beim Leser. Das Problem: Ausgerechnet diese heißersehnte, und sich selbst -gefälligst bald- zu erfüllende, Prophezeiung hat es ganz besonders schwer, um in naher Zukunft in heimischen Gefilden tatsächlich Wirklichkeit werden zu können.

3 Gründe, warum der Hype um den Online-Lebensmittel unbegründet ist

1. Denkbar ungünstiges Marktumfeld: Die Rückkehr des Preiskampfs im deutschen Lebensmitteleinzelhandel

Rückkehr? Eigentlich ist doch im deutschen Lebensmitteleinzelhandel immer "Preiskampf", oder? Richtig. Blöd nur: Aktuell erfährt dieser eine neue Dimension. Getrieben vom seit Jahren angeschlagenen Branchenriesen Aldi, wird an der Preisschaube bei Gütern des täglichen Bedarfs gedreht wie schon lange nicht mehr. Aldi streicht Preise zusammen, wo es nur geht, Rewe will mit einer Billig-Eigenmarke alles und jeden unterbieten, und die größte deutsche Handelskette Lidl hatte sogar jüngst im Streit mit dem Coca Cola-Konzern, dessen wichtigstes Markenprodukt sich über Monate zum beliebtesten Zankapfel des jüngsten Discounter-Preiskriegs entwickelt hatte, "Coke" für kurze Zeit aus dem Sortiment genommen. Ein einmaliger Vorgang.

Geiz ist wieder geil im deutschen Lebensmitteleinzelhandel, und wenn es dem noch nicht ist, dann tun die Schwergewichte der Branche gerade alles, dass dem verbraucherseitig wieder so sein wird. Werblich wird der ganze Spaß zudem auch noch gerade aus allen Rohren angeheizt. So werden zum Beispiel auch wieder weniger große Belegungseinheiten für Beilagen und Anzeigenschaltungen gebucht, die eigentlich jahrelang zu klein schienen und die längst durch das Raster der Agenturen gefallen waren. Und wo einer anfängt, da ziehen alle anderen binnen kürzester Zeit nach...
Die ganze Branche läuft sich gerade in einem neuen Preiskampf-Hamsterrad warm, dessen Ende noch nicht in Sicht ist.

Und in dieses, momentan exorbitant hart umkämpfte, Marktumfeld sollen sich Amazon und Co im Herbst diesen Jahres mit einem Food-Lieferdienst wagen?
Mit welchen Preisen und zu welchen Lieferkosten soll das denn funktionieren? Und wo?

In Ballungsräumen. Aha.

Aufgabe: Finde in Deutschland einen Postleitzahlenbereich, der gleichzeitig "Ballung" und die benötigte "Kaufkraft" vorweisen kann. Schwierig. Ran an eine Verbraucherfront, die zur Zeit mit Sonderangeboten, allgemeinen Preissenkungen und Billigst-Eigenmarken zugekippt wird? Und die gerade unter dem Druck werblicher Maßnahmen steht, die diese Entwicklung weiter forcieren?

"Ich will trotzdem, ich will trotzdem, ich will trotzdem!" mag da der eine oder andere nun rufen. Das Problem: Egal, wie viele vereinzelte "Ich will's" man da letztlich versammelt bekommt, das reicht leider nicht, um einen zentral organisierten Lebensmittel-Versandhandel in einem solchen Marktumfeld rentabel in den allermeisten Postleitzahlengebieten auf die Straße zu bekommen. Außer ein paar Nerds, Medienmenschen, Analysten, und zahlungskräftigen Workaholics, die da persönlich Spaß daran hätten, liegt das Martpotenzial für einen solchen Dienst zur Zeit einfach bei "Null".

Und so "innovativ", dass man sehenden Auges Geld verbrennt, ist keiner. Auch nicht Amazon.
Zumal es in diesem Geschäft keinerlei Vorteile durch einen etwaigen Innovationsvorsprung gibt, auf dessen Basis man sich zukünftig Marktanteile sichern könnte: Food Delivery a la Amazon hat also momentan nicht einmal das Potenzial zur einer ernstzunehmenden Zukunftswette, geschweige denn zu einem profitablen Business-Modell.

Grafik 1: Verbraucher sehen E-Food weniger euphorisch: "Was glauben Sie, wie viel Prozent der nachfolgend genannten Waren und Services werden Sie in fünf Jahren über das Internet einkaufen bzw. nutzen?" - Lebensmittel sind weit abgeschlagen.
Grafik 1: Verbraucher sehen E-Food weniger euphorisch: "Was glauben Sie, wie viel Prozent der nachfolgend genannten Waren und Services werden Sie in fünf Jahren über das Internet einkaufen bzw. nutzen?" - Lebensmittel sind weit abgeschlagen.

2. Verweigerungshaltung des Lebensmitteleinzelhandels: Regionaler Lebensmittel-Versandhandel schlägt überregionalen

Aber, aber, wieso gibt's denn hier keine Innovation, die später von Nutzen sein könnte, und warum denn überhaupt "zentral" und "überregional"? Amazon wird sich doch bestimmt regionale Partner suchen, um diese Nummer gewuppt zu kriegen...

Ach ja? Wen denn? Warum sollte sich irgendein Lebensmittel-Einzelhändler die Schlange, den "Disruptor" Jeff Bezos an die Brust holen? Wegen Mehrumsätzen? Welchen denn? Quizfrage: Schon einmal hungrig und ohne Einkaufszettel zum Einkaufen gefahren und später zu Hause verdutzt in die Tüten und auf den Kassebon geschaut? Was man da alles wieder an unnötigen "Mitnahmeartikeln" eingepackt hat, ohne die eigentlich zu brauchen. Und ohne sich dabei dessen bewusst gewesen zu sein, woll? Zauberei. Nee, Werbepsychologie am PoS.

Grün ist die Hoffnung
Grün ist die Hoffnung
Und schonmal hungrig und ohne Einkaufszettel online Lebensmittel bestellt? Egal, ob zum Liefern, oder zum Abholen. Ja? Dann jetzt bitte mal die Höhe der jeweiligen Warenkörbe miteinander vergleichen. Siehe da, Warenkörbe im stationären Lebenseinzelhandel sind im Mittel immer höher als dieses online der Fall ist. Der Kunde, der den Eindrücken und Laufwegen im Lebensmittel-Ladengeschäft ausgesetzt ist, wird den höheren Warenkorb erwirtschaften: Wenn eine Händlerschaft noch in der Lage ist, Kunden zwar rational zu ködern, sie dann aber im Laden emotional abzuholen, dann sind das die Lebensmitteleinzelhändler. Kein Shop-Interface, egal wie ausgefuchst und dynamisch es daherkommt, kann da mithalten. Und nebenbei: Wie soll man den zwar weniger preis- dafür aber deutlich zeitsensibleren Online-Kunden eigentlich dazu bewegen, neben den Lebensmitteln, noch die margenstarken Handelswaren mit in seinen Warenkorb zu packen...?

Ergo: Bei jedem Warenkorb, den ein Kunde online bestellt, anstatt ihn in einem nach allen Regeln der Werbekunst ausgetüftelten Laden-Parcours zu befüllen, drohen den Lebensmittelhändlern Umsatzeinbußen. Denen kaum Kostenvorteile gegenüberstehen. Filialschließungen, da ja irgendwann weniger Fläche nötig wird? Risky: Denn wer will damit anfangen und nimmt das Risiko in Kauf, dass, falls "online" doch nicht klappt, sich an dieser Stelle nicht schon wieder einer der Wettbewerber breit gemacht hätte?

Fazit: Die Frage "online" oder "stationär" stellt sich für den Lebensmittelhandel gar nicht, es droht Umsatzverlust- oder bestenfalls Verschiebung. Und: Amazon hat dem Einzelhandel als möglicher Partner "in der Fläche" auch überhaupt nichts anzubieten. Innovationen? Selbst wenn man sich bei Amazon die hyper-modernste Supply Chain für verderbliche Güter ausdenken kann, regionale Lösungen in Eigenregie unter unter der eigenen Marke werden für die Händler immer attraktiver sein: Mit regionalen und lokalen Click&Collect-Angebote und DriveIn-Lösungen, die als Mehrwertdienste zur Kundenbindung aufgelegt werden und die auch in entsprechend kleinen und somit kostengünstigen Belegungseinheiten beworben werden können. Das ideale Umfeld, um Pilotprojekte aufzulegen und sich das Terrain relativ risikofrei in Eigenregie zu erobern.
Ohne Amazon als einen potenziellen Margenkiller, der sich erst als Problemlöser in der Wertschöpfungskette breit macht und später die Daumenschrauben anzieht, sobald er sich bei den Händlern unabdingbar gemacht hat.

Grafik 2: Wenn E-Food, dann favorisiert ein Großteil der Verbraucher Lösungen des etablierten Lebensmitteleinzelhandels.
Grafik 2: Wenn E-Food, dann favorisiert ein Großteil der Verbraucher Lösungen des etablierten Lebensmitteleinzelhandels.

3. Komplexität der Dienstleistung stellt hohe Anforderungen an Personal und Personal-Akquise: Kein Matchmaking am Arbeitsmarkt in Sicht

Wie in jeder anderen Branche gibt es auch in der Logistik "Königsdisziplinen": Sperrgüter, medizinische Proben, Gefahrgüter, verderbliche Waren. Jeweils kombiniert mit diversen Time Critical Service-Optionen. Dafür braucht es Könner. E-Food stallt da keine Ausnahme dar, im Gegenteil: Tourenplanung für E-Food-Heimlieferservices ist nicht nur rein handwerklich äußerst fordernd, sondern gewinnt zudem noch durch Verordnungen des europäischen Lebensmittelrechts an Komplexität.

Will sagen: Wer -wie Amazon laut Bild-Zeitung, angeblich im September starten möchte, der sollte sich zeitig nach passendem Personal umschauen, denn die wenigen Experten dieser logistischen Disziplin lungern bestimmt nicht gerade perspektivlos zu Hause rum und brüten über Motivationsschreiben.

An der der Personalfront passiert jedoch wenig: Weder bei Amazon selbst, noch bei den einschlägigen Personalvermittlern der Branche, wie zum Beispiel Hertzog & Partner, scheint man es dahingehend eilig zu haben. Die bekannten Personalvermittler suchen niemanden für derlei Aufgaben, weder für strategische noch operative Planungen, und Amazon hat global lediglich ein einziges halbwegs passendes Gesuch scharfgeschaltet (wobei unklar ist, ob es sich dabei tatsächlich um ein Gesuch für "Food" handelt und nicht etwa für "Cosmetics" handelt).

Fazit: E-Food kurz vor dem Durchbruch? Lediglich Schlagzeilen-Pingpong zwischen englischen und deutschen Boulevard-Medien

Letztlich landet man also wieder beim Ausgangspunkt: Medienmenschen wünschen sich was. Zwar sachlogisch in keiner Form zu begründen, werden in Sachen "baldiger E-Food-Durchbruch am Beispiel Amazon Fresh" einfach unkritisch die Meldungen zitiert, die zwischen britischen Boulevard-Blättern und der Bild-Zeitung in regelmäßigen Abständen hin- und hergeschubst werden: Amazon Fresh kommt bald nach Deutschland und dann geht's mal so richtig los. Na klar. Die Marktkausalitäten im Blick, erübrigt sich aus meiner Sicht eine Debatte über den Nachrichtenwert dieser Meldungen: "Amazon Fresh und Co", "Deutschland" und "September 2014" dabei ganz bestimmt nicht zueinanander finden.

Und bevor es in Deutschland los geht, sind eh erst noch die britischen Inseln dran: Internationalisierung Richtung Europa funktioniert bei Amazon immer nach dem gleichen Prinzip: Erst UK, dann Kontinentaleuropa (in UK machen sich jedoch stationär gerade die deutschen Discounter Aldi und Lidl breit und setzen den britischen Markt erfolgreich mit ihrer Preispolitik unter Druck: Auch auf den britischen Inseln ist das Marktumfeld für eine E-Food-Großoffensive momentan denkbar ungünstig). Eine Direktive aus der Konzernzentrale in Seattle. Ein bisschen Bürokratie gibt's also auch bei Amazon. Das ist nicht immer der richtige Weg für eine erfolgreiche Expansion (vergl. Wettlauf zwischen Javari und Zalando in Europa), aber man verfährt eben so.

"Insiderinformationen" zufolge, hängt das wohl mit dem gemeinsamen Sprachraum zusammen. Da könnte was dran sein.

Grafik 1: Statista
Grafik 2: Statista