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Kolumne Aufstieg der Roboter-Hysterie

Radikale Zukunftsprognosen zu Künstlicher Intelligenz sind derzeit en vogue. Doch dabei ist Vorsicht geboten. Von Martin Kaelble

Martin Kaelble ist Capital-Redakteur und schreibt an dieser Stelle über Digitalisierung, Startups und die neue Wirtschaft.

„In naher Zukunft werden nur noch Maschinen industrielle Produktionsprozesse ausführen, geleitet von ein paar Dutzend Ingenieuren und ohne eine arbeitende Menschenhand.“ Eine radikale Prognose des deutschen Journalisten Heinrich Hauser, nach einem Recherche-Besuch der Technologie-Macht USA. Und eine These, die man derzeit oft hört.

Auch wenn es schwer danach klingt, das Silicon Valley hat Hauser dabei allerdings gar nicht gemeint. Er hat es nie gesehen. Denn Hauser ist seit 70 Jahren tot. Sein Reisebericht stammt aus den 20er-Jahren und seine Prognose galt vornehmlich dem, was er damals in den amerikanischen Ford-Werken gesehen hatte.

Hauser war nicht der einzige Journalist, der in den 20er-Jahren zur Besichtigung der technologischen Zukunft nach Amerika pilgerte. Auch andere wie der berühmte Reporter Egon Erwin Kisch taten es ihm gleich. Und Hausers Zitat ist nicht das einzige Déjà vu, das man beim Stöbern in diesen Reiseberichten findet.

erstaunliche Parallelen zum digitalen Zeitalter

Es war die Zeit der anbrechenden Moderne. Viele Menschen waren verunsichert. Durch die radikalen Veränderungen, durch neue Technologien. Man suchte nach Vorbildern, die einem den Weg in die ungewisse Zukunft zeigten, in Zeiten des rasanten Umbruchs. Deutsche Vordenker suchten damals im Westen wie im Osten. Man fuhr nach Amerika ebenso wie in die Sowjetunion.

Es finden sich erstaunliche Parallelen zum digitalen Zeitalter. Allein die Mischung aus Begeisterung und Kritik, aus Euphorie und Furcht gegenüber der Technisierung ist frappierend zeitlos.

Heute befinden wir uns erneut im Umbruch, in Zeiten des radikalen technischen Wandels. Wieder sind die Menschen verunsichert, was sich in den kommenden Jahren durch neue Technologien so alles ändern könnte. Und wieder schaut man Richtung Osten und Westen, auf der Suche nach der Zukunft - diesmal nach China und wieder nach Amerika. Was damals die Fabriken von Ford waren, ist heute das Silicon Valley. Es ist zum Sinnbild des technologischen Wandels geworden, zum Pilgerort der neuen Moderne.

Nun ist es mit der Besichtigung der Zukunft und visionären Prognosen so eine Sache. In Zeiten des Umbruchs, der allgemeinen Verunsicherung ist Vorsicht geboten. Auch das wird einem beim Studieren der Reiseberichte schnell klar.

Was wurde damals nicht alles prognostiziert und erwartet – im Überschwang über den vermeintlichen Blick in eine neue Ära. Die nüchterne Bilanz dieser Zukunftsberichterstatter: Kaum etwas ist so radikal eingetreten, wie es von ihnen prognostiziert wurde.

Radikale Prognosen mit Vorsicht genießen

Jedenfalls sind auch heute, bald 100 Jahre später immer noch nicht alle Menschen in den Fabriken durch Maschinen ersetzt – auch wenn wir der Sache heute fraglos deutlich näher kommen. Das sollte uns skeptisch machen gegenüber manchen Thesen zur Zukunft.

Dafür braucht man nicht unbedingt intellektuelle Reiseberichte der 20er-Jahre zu Rate ziehen. Es reicht auch der Hollywood-Streifen „Zurück in die Zukunft“. Als 2015 der Tag kam, für den im Film eine neue High-Tech-Realität prognostiziert war, fiel die Bilanz ernüchternd aus. Der US-Talkmaster Jimmy Kimmel brachte es in seiner Show treffend auf den Punkt: Auf die Frage, was wir eigentlich in den vergangenen 30 Jahren hinbekommen haben, antwortet er: Wir haben den Cronut erfunden (ein amerikanischer Hybrid aus Croissant und Donut) und das Smartphone - ein kleiner Supercomputer, den wir in erster Linie dazu nutzen, um uns Smiley-Faces hin und her zu schicken.

Bitte nicht falsch verstehen: Fraglos stehen wir mit dem Aufstieg der Künstlichen Intelligenz an der Schwelle zur nächsten großen Phase des Internets. Mit möglicherweise viel radikaleren Folgen als die vorherigen Phasen des Social und des Mobile Webs. Doch eines sollte man trotzdem nicht vergessen: Wir neigen dazu, bei Technik-Prognosen für die Zukunft zu übertreiben - wahlweise berauscht von Tech-Hype und Hooverboard-Träumen oder Technik-Hysterie und "Terminator"-Szenarien. Etwas mehr Nüchternheit beim Blick in die Zukunft täte uns in diesen Zeiten gut. Vor dem nächsten Vortrag einer Trendagentur oder eines sehenden Zukunftsforschers empfehle ich daher die Lektüre von Hauser & Co.

In einem Themendossier widmet sich Capital dem Thema Zukunft der Arbeit. Auf der Junge Elite Konferenz kommen Deutschlands Top 40 unter 40 am 3. November in Berlin zusammen und widmen sich der Frage, wie wir künftig arbeiten werden. Hier finden Sie weitere Beiträge zum Thema: Traumfabriken der neuen Arbeitswelt (Kathrin Werner und Jenny von Zepelin), Alle Macht den Teams, (Torsten Osthus), Wie wir künftig arbeiten werden (Klaus Zimmermann) Denkfehler der New-Work-Bewegung (Lars Vollmer), Vertrauen motiviert Mitarbeiter (Pia Struck), So werden Sie Manager Ihrer Emotionen (Antje Heimsoeth), Von der Stechuhr zum Homeoffice (Max Orgeldinger), Arbeiten im digitalen Zelt (Torsten Osthus)

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