„Gemeinsam Verantwortung zeigen für einen gesunden Lebensstil“. Das hat sich der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) als Spitzenverband der Deutschen Lebensmittelwirtschaft noch vor gut einem Jahr auf die Fahnen geschrieben. Doch zu viel Verantwortung will man nun auch nicht. Beim BLL ist man empört und verärgert. Grund ist die Reformulierungsstrategie von Bundesernährungsminister Christian Schmidt (CSU) – ein Vorschlag, mit dem der Minister die Lebensmittelwirtschaft in die Verantwortung und damit beim Wort nehmen wollte.

„Veränderte Rezepturen für Lebensmittel mit weniger Zucker, Salz und Fett sind das Ziel einer nationalen Strategie für die Reformulierung von Lebensmitteln … . Sie soll gemeinsam mit der Lebensmittelwirtschaft (LMWI) und dem Lebensmitteleinzelhandel auf freiwilliger Basis umgesetzt werden.“ So steht es auf der Website des Ernährungsministeriums geschrieben. Der Vorschlag des Ministers, der auf Dialog, Gemeinsamkeit und Verantwortung setzt, ist im Grunde ein Friedensangebot. Doch die LMWI erweist sich dessen als wenig würdig. Statt sich mit Politik und Verbraucherverbänden an einen Tisch zu setzen, laufen BLL und Vertreter der LMWI Amok und reagieren mit kindischen Verteidigungsreflexen. Sogar wenn der Grund für das Angebot des Ministers nicht Güte, sondern Zweifel an der politischen Durchsetzbarkeit härterer gesetzlicher Maßnahmen gewesen sein sollte, wäre die fast schon hysterisch anmutende Reaktion einiger Vertreter der Lebensmittelwirtschaft dumm.

Nach Berichten der LebensmittelZeitung befürchtet z. B. die Wirtschaftliche Vereinigung Zucker eine Umerziehung von drastischem Ausmaß: „Der Minister will Verbrauchern ein neues Geschmacksempfinden anerziehen. Dazu will er ihnen die angeborenen Süßpräferenzen abgewöhnen.“ * Oh weh – da sieht man schon den Ernährungs-Gulag kommen. Der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks versteigt sich zu dem Kommentar: „Im Strafrecht nennt man so etwas Nötigung.“ Und der BLL hebt zu einer weinerlichen Klage über den bevorstehenden Untergang der Esskultur an: „Was wir verlieren, sind nicht Kilos, sondern Kulturgüter. Die Pläne des Ministers bedeuten das Aus für traditionelle ‚Berliner‘ zu Karneval oder die Salzbrezel im Biergarten“, bejammert BLL-Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff die Pläne des Bundesernährungsministers. Im BLL scheint die Kultur doch bedenklich flach zu wurzeln – es lebe die Stammtischkultur. Darüber sollte man nochmal in Ruhe nachdenken.

Im Übrigen muss sich der BLL fragen lassen, für wen er überhaupt  spricht: Aufgeregt haben sich bisher vor allem Hinterbänkler, während die Big Player (noch) schweigen. Sie können sich’s leisten – sind doch viele von ihnen längst mit der Umsetzung dessen beschäftigt, was der Minister vorschlägt. Globale Unternehmen wie Nestlé z.B. haben die Bedeutung der Reformulierung als wichtiges Handlungsfeld schon lange erkannt. Das weltweite Nestlé Nutrition Profiling System z.B. dient einzig dem Zweck, eigene Produkte kritisch zu überprüfen, zu bewerten und bei Bedarf zu verbessern – mit beachtlichen Erfolgen im Bereich der Reformulierung (..auch wenn die von Kritikern immer wieder klein geredet werden).

Ähnlich agieren die Großen im Handel:. Gerade noch hat REWE als zweitgrößter Lebensmittelhändler Deutschlands ein klares Bekenntnis zur Reformulierung abgelegt mit einem Programm, dessen Ziel es ist, die Rezepturen der Eigenmarken im Hinblick auf Salz- und Zuckergehalte zu ändern. Dabei lässt man an der Machbarkeit dieses Vorhabens ohne geschmackliche Einbußen für die Verbraucher keinen Zweifel: “Unser Ziel ist es, die Eigenmarkenprodukte und ihre Rezepturen so weiterzuentwickeln, dass dieses Reduktionsprogramm möglichst ohne wesentliche Veränderung der Sensorik der Produkte einhergeht. Je nach Warengruppe wird der Weg um dieses Ziel zu erreichen unterschiedlich sein. Änderungen im Herstellungsprozess durch neue Technologie sind genauso möglich, wie Änderungen der Rezepturen zum Beispiel in der Auswahl der Gewürze oder Fruchtkomponenten”, erklärt Dr. Klaus Mayer, Leiter des REWE Group-Qualitätsmanagements. Natürlich ist das für die großen Unternehmen mit millionenschweren Etats für Forschung und Entwicklung leichter als für die Kleinen. Doch Reformulierung hängt nicht nur vom Geld ab. Was alles geht, zeigen z.B. mittelständische Veggie-Unternehmen mit Kreativität und innovativem Denken. Da erfindet man z. B. Neues, das aussieht und schmeckt wie Wurst, aber kein Gramm Wurst enthält (..und alle Anforderungen einer Reformulierung erfüllen würde). Warum sollten andere, die jetzt jammern, nicht Ähnliches  schaffen?

Weg von der Behäbigkeit, Schluss mit dem Heulen, mehr forschen und entwickeln – so könnte es doch gehen? Die Chance zum Dialog nutzen, den der Minister anbietet, anstatt auf ihn einzuprügeln. Der BLL gibt mit seinen Angriffen nicht zuletzt den Verbraucherschützern und anderen Skeptikern recht, für die von Anfang an klar war, dass auf freiwilliger Basis mit der LMWI nichts zu erreichen ist. Sollte die LMWI den konstruktiven Dialog nun verweigern, werden ihre Kritiker eine gesetzliche Regelung fordern – und würden damit ganz sicher (..und auch zu Recht) auf öffentliches Verständnis stoßen. Die Regisseure des aktuellen Kasperltheaters sollten sich vielleicht doch umgehend an den Verhandlungstisch setzen. “Freiheit für Unternehmen und Konsumenten und gemeinsam nach Lösungen suchen” – das waren die Wünsche des BLL beim diesjährigen Neujahrsempfang. „Die Übersetzung von Freiheit heißt für Erwachsene Verantwortung.“ So Ex-Bundespräsident Gauck noch kürzlich bei der Verleihung des Medienpreises an Ex-Präsident Obama. Die Ernährungsindustrie fordert Freiheit ein. Wie wäre es denn mit dem Versuch, erwachsen zu werden und die Verantwortung zu übernehmen, die mit dieser Freiheit verbunden ist.