Asylbewerber können sich nach Einschätzung einer einflussreichen EU-Gutachterin gegen die Überstellung in einen anderen EU-Staat wehren, wenn von den Behörden Fristen versäumt wurden. Die Generalanwältin Eleanor Sharpston beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) stellte in Luxemburg ihre Schlussanträge zur Auslegung der sogenannten Dublin-Verordnung. Das Gericht ist an die Empfehlung nicht gebunden, folgt ihr aber häufig.

Die Dublin-III-Verordnung legt fest, dass normalerweise jenes Land für einen Asylantrag zuständig ist, in dem ein Migrant zum ersten Mal den Boden der EU betreten hat. Wenn er später in ein anderes EU-Land weiterreist, kann dieses ihn in das Einreiseland zurückschicken – aber nur innerhalb von drei Monaten, nachdem der Betroffene dort einen Asylantrag gestellt hat. Wenn seine Fingerabdrücke in der Eurodac-Datenbank erfasst sind, verkürzt sich die Frist auf zwei Monate. Verpassen die Behörden die Fristen, so wird das Land des aktuellen Aufenthalts für das Asylverfahren zuständig. Dann könne sich ein Migrant auch juristisch gegen seine Rückstellung wehren, so Sharpston.

Die Dublin-III-Verordnung regelt aus Sicht Sharpstons nicht nur die Zuständigkeit von Staaten im Umgang mit Asylbewerbern, sondern gebe diesen auch Rechte. Dies gelte, obwohl die Verordnung auf eine zwischenstaatliche Vereinbarung zurückgeht.

Anlass für Sharpstons Einschätzung ist der Fall eines Eritreers, der 2015 über das Mittelmeer nach Italien kam und später in Deutschland um Asyl bat. Den Einzelfall muss das Verwaltungsgericht in Minden entscheiden, das den EuGH um Hilfe bei der Auslegung von EU-Recht bat. Mit einem Urteil ist in einigen Monaten zu rechnen.

Im Jahr 2015 kamen mehr als eine Million Menschen nach Europa, davon viele aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Griechenland und andere Staaten mit einer EU-Außengrenze hatten die Migranten mehrere Monate lang Richtung Mittel- und Nordeuropa weiterziehen lassen, bis verstärkte Grenzkontrollen entlang der Balkanroute sowie die Flüchtlingsvereinbarung der EU mit der Türkei verhinderten, dass weiterhin so viele Menschen nach Nordeuropa gelangen konnten. Viele Migranten haben erst in Deutschland oder Schweden Asyl beantragt.

Ausnahmen bei EU-Asylregeln sind zulässig

Sharpston sagte Anfang Juni, angesichts der außergewöhnlichen Umstände halte sie Ausnahmen von den gemeinsamen EU-Asylregeln für zulässig. Die Generalanwältin des EuGH musste Fälle begutachten, in denen ein syrischer und zwei afghanische Flüchtlinge erst in Slowenien und Österreich Schutz beantragten, statt in dem Land, in dem sie in die EU eingereist waren. Ihre Anträge waren nicht anerkannt worden, sie wurden an ihr Einreiseland Kroatien verwiesen und hatten dagegen geklagt.

Kroatien habe die Fälle der Ankommenden unmöglich allein bewältigen können, stellte Sharpston fest. Zudem liege kein "illegaler Grenzübertritt" im Dublin-III-Sinne vor, wenn Mitgliedstaaten den Flüchtlingen gestattet hätten, in ihr Land einzureisen und es zu durchqueren. Auch in diesem Fall sind die Richter des EuGH nicht an die Einschätzung der Generalanwältin gebunden.