Eine Führungskraft wird agil
Christina Louise Photographie

Eine Führungskraft wird agil

So lernte ich Führung: Chef war Superman!

Ich war sechs Jahre alt, als ich meinen Vater das erste Mal in seinem Büro besuchte. Vorbei an zwei netten Sekretärinnen kam ich in ein riesiges Büro, an dessen Ende ein großer Schreibtisch stand. Über dicke Teppiche schwebte ich meinem Vater entgegen, kam aber an den Schreibtisch nicht heran. Davor standen Stühle für diejenigen, die eine Audienz ergattert hatten oder zum Rapport antreten mussten. Alles atmete Respekt und Macht. So machte ich als kleines Mädchen erste Bekanntschaft mit Führung.

Als ich dann selber mit knapp 30 Jahren meine erste Führungsaufgabe übernahm, hatte sich an dem Bild nichts geändert. Ich hatte zuvor Chefs erlebt, die ihre Mitarbeiter anbrüllten, die nett waren (aber nur zu einigen), die einsam wirkten und allesamt sehr mächtig waren. Alles drehte sich um die Chefs. Hat der Chef heute gute Laune? Hat der Chef schon seinen Kaffee? Welche Argumente will der Chef hören? Der Chef weiß, wo es langgeht. Klar: Chef war Superman!

Warum ich lernte, eine Maske zu tragen

Das prägte die Glaubenssätze von mir und vielen anderen Menschen meiner Generation über Führung: Hart, aber gerecht. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Gewinne jeden Machtkampf. Zeige keine Schwäche. Wisse immer wo es langgeht. Sei schlauer als deine Mitarbeiter. Sei entschlossen und stark. Zeige deine Macht. Verschaffe dir Respekt. Dulde keinen Widerspruch.

Fühlte ich mich damit wohl? War diese Art des Führens authentisch für mich? Nein. Ich begann also, eine Maske zu tragen, um mein wahres Ich zu verbergen.

An einem Sommerabend im letzten Jahr saß ich mit meinem Vater zusammen. Wir sprachen über seine Karriere. Auch über die schlaflosen Nächte, die Demütigung durch Vorgesetzte, die Machtkämpfe und die Maske, die er sein Berufsleben hindurch zu tragen lernte. In dieser Nacht begriff ich, dass auch er, der Erfolgreiche und mein Vorbild, sich einen anderen Rahmen gewünscht hätte, um seine großen Talente einzubringen. Warum sind dann nicht schon viel früher Frauen und Männer für eine neue Art des Führens eingetreten? Ganz einfach: es funktionierte gut. Mit starren Hierarchien und einem Unternehmen als gut geölter Maschine lief der Laden rund.

Bis vor ein paar Jahren auch in dem Unternehmen, in dem ich arbeite. Irgendwann aber merkten wir, dass es nicht mehr so weiterging. Die Welt war zu schnell und zu komplex geworden und wir zu langsam und zu träge. Auf einmal kamen irgendwelche Burschen aus dem Silicon Valley und stiegen in unseren Markt ein. Software und Big Data drohten, gute alte deutsche Beraterkunst zu schlagen. Darauf hatte unsere gut geölte Maschine keine Antwort. Wir lernten, dass pyramidenförmige Hierarchien mit Komplexität und unvorhersehbaren Wendungen nicht umgehen können. So machten wir uns auf den Weg, eine agile Netzwerkorganisation zu werden. Und damit veränderte sich mein Leben als Führungskraft grundlegend.

Alte Führungsmethoden funktionieren nicht mehr

Als wir begannen, über eine neue Form der Organisation zu sprechen merkten wir schnell, dass wir unser Menschenbild klären mussten. Douglas McGregor beschrieb schon vor mehr als 50 Jahren die zwei grundlegend unterschiedlichen Theorien, wie wir Menschen im Arbeitsleben sehen können. Weiter ausgeführt hat das Niels Pfläging in seinem wunderbaren Buch „Organisation für Komplexität“. Die Theorie X beschreibt den Menschen als Wesen, das Arbeit am liebsten vermeidet, Anreize braucht, um engagiert zu arbeiten, angeleitet werden möchte und nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. In der Theorie Y begegnet uns ein anderes Bild. Menschen wollen sich engagieren. Sie können sich selbst führen in Richtung auf ein Ziel, das sie akzeptieren. Unter den richtigen Umständen suchen und übernehmen Menschen Verantwortung.

Groß geworden sind die meisten von uns mit der Theorie X. Darauf sind alle Managementpraktiken des 20. Jahrhunderts ausgerichtet. Wir merkten, dass wir den Weg in die Zukunft blockieren, wenn wir in diesem Menschenbild verharren.

Was passiert aber, wenn wir lernen zu glauben, dass Menschen im Grunde engagiert sind, dass sie sich nicht vor Verantwortung drücken und selbst überlegen wollen und können? Dann schrumpfen wir als Chefs auf Normalgröße. Nicht mehr wir sind als Helden gefragt, die Mannschaft ist der Held. Wie sollte aber nun Führung bei mir ganz persönlich funktionieren? Was sollte ich tun? Was sollte ich sein lassen?

Was ich von einem japanischen Biologen über neue Führung lernte

Genau in dieser Zeit begegnete mir die Geschichte von Mansanobu Fukuoka, die auch in einem meiner Lieblingsbücher „Der unendliche Augenblick“ von Natalie Knapp erzählt wird. Fukuoka war Mikrobiologe und arbeitete bei der japanischen Zollbehörde. Als Bauernsohn wuchs in ihm aber der Traum einer neuen Landwirtschaft, in der der Mensch nicht mehr gegen die Natur arbeitet, nämlich mit Pestiziden und künstlichem Dünger, sondern der Natur Freiheit lässt und damit bessere und gesündere Erträge erzielt. Also kündigte er seinen Job und machte sich auf den Weg zum Hof seines Vaters, um es zu versuchen. Er ließ dem Obstgarten völlige Freiheit und in kürzester Zeit verwelkten 8000 Quadratmeter Obstbäume. Den Hof musste er daraufhin verlassen und erkennen, dass es mit Nichtstun nicht getan war. Man konnte die Natur nicht einfach sich selbst überlassen. Er lernte also, dachte viel nach, beobachtete und fand heraus, worauf es ankommt. Die Natur muss geduldig auf das Nichtstun vorbereitet werden. Dann geht es darum, nach und nach Dinge wegzulassen. Er folgte durch Fühlen und Beobachten den komplexen Vorgängen in der Natur und unterstützte sie durch jahrelang erworbenes Wissen, z.B. darüber, wann die richtige Zeit für die Aussaat gekommen war. So erschuf er die „Nichtstun-Landwirtschaft“.

"Fukuoka wusste um seine unaufhebbare Unwissenheit, und sein System verbesserte sich stetig." Natalie Knapp in "Der unendliche Augenblick"

Das, fand ich, war ein sehr gutes Gleichnis für die neue Art des Führens. Ich machte mich auf den Weg, unsicher und lernend. Nach und nach rückte ich in den Hintergrund. Ich bin nicht mehr dafür da um meinen Mitarbeitern zu zeigen wie die Dinge getan werden sollten. Ich bin dafür da, um sie zu stärken und sie zu unterstützen, ihr Bestes zu geben – als einzelne und als Team. Ist das einfach? Ja. Ist es leicht umzusetzen? Überhaupt nicht. Ich durchlebte Zweifel und Krisen. Ich stand nicht mehr im Mittelpunkt und wurde nicht mehr wegen allem und jedem gefragt. Eine zeitlang quälte mich die Frage, ob ich noch gebraucht würde, ob ich mich überflüssig gemacht hatte. 

So entstand nach und nach eine heilsame Leere. Ich hatte weniger zu tun, da ich weniger kontrollieren musste. Ich musste weniger Konflikte lösen, da Mitarbeiter das heute meistens selbst in die Hand nehmen. Ich musste weniger steuern, da die Teams sich selbst steuern. Ich war nicht mehr das Nadelöhr für Informationsweitergabe und Entscheidungen. Meine Tage wurden leerer. Ich kann nicht behaupten, dass die Versuchung nicht dagewesen wäre, sie mit altem Managementkram wieder zu füllen. Ich kann auch nicht behaupten, dass mir das nie passiert wäre. Danke den Mitarbeitern die sich trauten, mir das zu sagen.

Was tun mit der Leere, die um mich herum entstand?

Auf einmal war da Raum um nachzudenken und zu beobachten. Zeit, um mit Kollegen zu reden. Die Chance, Experten von außen zu treffen, von denen ich viel lernen konnte. Die Leere zwang mich auch, über mich selbst nachzudenken. Zu spüren, wohin unser Sinn und Zweck das Unternehmen trägt. Ich lernte, dass meine erste Frage nicht sein darf, wie wir Marktanteil oder Gewinn erhöhen. Sondern, wie wir noch besser unserem Sinn und Zweck dienen. Das fühlt sich auch für uns manchmal noch abgehoben an. Wir merken aber, dass der wirtschaftliche Erfolg damit kommt, dass sich alle Mitarbeiter mit ihren besten Talenten für unseren Sinn und Zweck einsetzen können.

Die frei gewordene Zeit nutze ich, um andere Rollen einzunehmen, wie jeder andere Kollege auch. Ich leite ein Projekt, ich produziere Inhalte für unseren Außenauftritt, ich spreche mit Kunden und arbeite in Innovationsprojekten mit.

Auch für vermeintlich kleine Dinge brauchte ich Mut. Heute fahre ich einen kleineren Dienstwagen als viele unserer Mitarbeiter. Anfangs, wenn ich in die Tiefgarage kam, beschlich mich ein komisches Gefühl angesichts der Größenunterschiede der Autos, die nicht mehr die Hierarchie widerspiegelten. Heute lächle ich darüber und freue mich, meiner Überzeugung gefolgt zu sein.

Seit einigen Monaten habe ich meine Arbeitszeit reduziert und habe so einen Tag in der Woche gewonnen, an dem ich mich um mein Herzensthema Neues Arbeiten kümmern und neue Fähigkeiten entwickeln kann. Ich führe Interviews, schreibe Artikel, halte Vorträge. Dieses Weniger an bezahlter Arbeit ist die teuerste und die beste Investition in meine eigene Entwicklung, die ich je getätigt habe.

Neue Fragen zeigen sich am Horizont

Neue Fragen zeigen sich am Horizont. Warum sollte ich immer Führungskraft sein? Warum sollte ich nicht eines Tages andere spannende Sachen machen. Eine Innovation auf den Markt bringen, von anderen geführt werden, meine neuen Fähigkeiten in spannenden Projekten einsetzen. Ich bin gespannt, wohin mich meine Lebensreise noch führt. Durch unsere neue Art des Führens haben auch für mich selbst die Optionen zugenommen. Das ist unsere große Chance in dieser Zeit: Dass wir, wie Heinz von Foerster sagte, so handeln können, dass die Zahl unserer Möglichkeiten zunimmt.

Wie erleben Sie Führung heute? Wie verändern Sie Ihre Art des Führens und was begegnet Ihnen dabei?

Ich freue mich auf den Dialog mit Ihnen.

Ihre Caterine Schwierz, COO bei von Rundstedt

Von Rundstedt hilft Menschen, berufliche Veränderungen zu meistern und sicher einen neuen Job zu finden. Seit 30 Jahren halten wir unsere Position als Marktführer in der Outplacement-Beratung. Wenn Sie mehr erfahren wollen, sprechen Sie mich gerne an.

 

Alexandra Altmann

Impulsgeberin für erstklassiges Führen auf Distanz | Geschäftsführerin virtuu & mynds GmbH

6y

Danke für diese Inspiration, Frau Schwierz! Führung konsequent neu denken - das machen ja nur wenige. Führung tatsächlich auch neu leben - das ist noch seltener. Und mit den Erfahrungen dabei auch an die Öffentlichkeit zu gehen - das ist wirklich die leuchtende Ausnahme. Tolle Impulse! Es ist so viel möglich - die Grenzen setzt man sich meist nur selbst im Kopf - da muss man raus und durch Ausprobieren ausloten - fühlt sich unsicher an - aber man wächst ungemein!

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Anne Fabritius

Maximize your company's value and optimize your earnings-risk profile with me – your expert in digital business development, investor relations, and strategic board advisory.

6y

Die gewonnene Zeit eignet sich spannende Themen zu recherchieren, um den Mitarbeitern neue Impulse, Anregungen geben zu können, neue Themen anzustoßen und Wissen, Eindrücke wie ein Staubsauger aufzusaugen. Mir gelingt das besonders, wenn ich 4 Wochen ein Land bereise oder an einem Seminar mit Pater Anselm Grün im Kloster Münsterschwarzach teilnehme. Leider verwechseln einige Führungskräfte immer noch leiten, führen mit Kontrolle.

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Caterine Schwierz

Director Business Development & Marketing bei Hoffmann Eitle Patent- und Rechtsanwälte PartmbB

6y

Vielen Dank für den Kommentar. Ich glaube, dass das gar kein Widerspruch sein muss zu den Erfgahrungen, die ich beschreibe. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass das Ziel feststeht: Selbstorganisation oder Fpührung nach altem Modell?

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Liebe Frau Schwierz, ein Denkanstoß in einem Moment - als ich die Kontrolle in der Leitung verstärken und die Zügel fest in die Hand nehmen ... muss? Da Sie nicht theoretisch argumentieren, sondern offensichtlich praktische Erfolge aufweisen- werde ich mal diese Aspekte berücksichtigen.

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