Firmen entdecken das Geschichtenerzählen

Weg von starren Formaten, hin zu Geschichten – was im Journalismus etabliert ist, versuchen Firmen in ihrer Kommunikation zu adaptieren.

Aurel Jörg
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Der Bildschirm im Newsroom zeigt unter anderem auch überdurchschnittliche Prämienzuwächse an. (Bild: Simon Tanner)

Der Bildschirm im Newsroom zeigt unter anderem auch überdurchschnittliche Prämienzuwächse an. (Bild: Simon Tanner)

Am 6. März 2017 um 21 Uhr 12 bebt in der Nähe des Klausenpasses im Kanton Uri die Erde. Die Erschütterung ist bis ins Mittelland der Schweiz zu spüren. Elf Minuten später, um 21 Uhr 23, vermeldet NZZ.ch dieses Ereignis. Rund einen halben Tag später, um die Mittagszeit, geht der «Blick am Abend» in Druck. Auf Seite 4 der Ausgabe vom 7. März berichtet das Gratisblatt über das Erdbeben. Gleich unterhalb des Berichtes prangt – halbseitig – eine der bekannten Schadensskizzen-Werbungen des Versicherers Mobiliar. Das Besondere dabei: Die Werbung nimmt Bezug auf das Erdbeben vom Vorabend. Innert Stunden ist es dem Versicherer gelungen, ein aktuelles Ereignis als Aufhänger für seine eigene Werbung zu nutzen.

Arbeiten wie Medienhäuser

Dieses Beispiel steht dafür, wie Unternehmen heute kommunizieren und ihre Produkte anpreisen: Sie erzählen Geschichten, klinken sich bei aktuellen Ereignissen ein und versuchen nicht zuletzt, selbst Themen zu setzen. Kommunikationsabteilungen grosser Firmen gleichen sich in ihrer Arbeitsweise mehr und mehr Medienhäusern an; Arbeitsabläufe entsprechen zunehmend denjenigen von Journalisten. So betreibt die Mobiliar an ihrem Hauptsitz in Bern seit etwas mehr als einem Jahr einen Newsroom. Diese Organisationsform befähigte den Versicherer, innert kürzester Zeit auf ein Erdbeben, ein typisches Breaking-News-Ereignis, zu reagieren.

Der Newsroom ist mehr als ein Raum. Er steht für ein Prinzip, das sich mit einem Triage-System vergleichen lässt und zum Ziel hat, den Nachrichtenfluss zu strukturieren: Immer zur gleichen Zeit versammeln sich die Redaktoren der verschiedenen Ressorts eines Mediums an einem runden Stehtisch, dem sogenannten Newsdesk. An den kurzen Sitzungen werden die wichtigsten Meldungen besprochen und eine erste Gewichtung vorgenommen: Ist ein Ereignis relevant, und, falls ja, wann, wie und wo soll die Geschichte stattfinden? Soll sie online abgehandelt werden, gibt es einen längeren Beitrag, lässt sich die Geschichte mit einem Video in den sozialen Netzwerken ergänzen? Die Kunst besteht darin, die verschiedenen Kanäle, die ein Medienhaus im 21. Jahrhundert orchestrieren muss, optimal und koordiniert einzusetzen. Ein solcher Ablauf ist in den grösseren Schweizer Medienhäusern inzwischen Alltag – nun hält er auch Einzug in die Unternehmenskommunikation.

Bei der Mobiliar hat sich die Arbeitsweise seit der Einführung des Newsrooms drastisch verändert: Dieser fungiert beim Versicherer als zentrale Drehscheibe für die gesamte externe und interne Unternehmenskommunikation. Vor dem grossen Bildschirm, der den Nachrichtenstrom und – für einen Versicherer entscheidend – das Wetter anzeigt, versammeln sich jeweils morgens um 9 Uhr mindestens vier Personen am Newsdesk: Neben dem Chef vom Dienst, einer Themenchefin und einem Kanalchef ist immer auch ein Vertreter des Marketings beim Austausch dabei. So soll sichergestellt werden, dass die Abteilungen Kommunikation und Marketing jederzeit aufeinander abgestimmt sind. Grundsätzlich können alle aus der Kommunikationsabteilung jeden Dienst übernehmen. Die Mobiliar hat ihre Nachrichtenzentrale nach Rollen und nicht nach Personen strukturiert, was typisch ist für einen Newsroom. Entscheidend ist, dass die Kommunikation aus einem Guss erfolgt.

«Früher stand der Kanal im Zentrum, heute denken wir von den Geschichten aus», sagt Karin Baltisberger, Leiterin der Unternehmenskommunikation bei der Mobiliar. Die frühere Journalistin, die am Aufbau des «Blick»-Newsrooms beteiligt war, ist überzeugt, dass nur mit diesem System schnell und ad hoc kommuniziert werden kann. Der Newsroom erlaube es, Geschichten über verschiedene Kanäle hinweg zu erzählen. Zwei Fragen seien zentral: Welche Botschaft und für wen?

Der Newsroom mit dem Newsdesk hat die Kommunikation der Mobiliar niederschwelliger gemacht: Alle Mitarbeiter können hier ihre Geschichten aus dem Berufsalltag einbringen. Dies sei sehr wichtig, denn Versicherungsprodukte seien abstrakt, sagt Baltisberger. «Erzählt Landwirt Werner Gsell von der eingestürzten Schutzkonstruktion über seinen Kirschbäumen und davon, wie ihm die Mobiliar geholfen hat, dann erzählen wir eine Story, die berührt und konkret aufzeigt, was unser Produkt ausmacht.» Der Versicherer sei angewiesen auf die Geschichten der Mitarbeiter. Für deren Umsetzung sind zwei eigens von der Mobiliar beschäftigte Video-Fachleute und eine Motion-Designerin verantwortlich. Mit anderen Mitarbeitern der Kommunikationsabteilung bereiten sie die Inhalte für das Intranet, die Mitarbeiter- und die Kundenzeitschrift sowie die sozialen Netzwerke auf. Der Job der Kommunikationsfachleute sei journalistischer geworden, sagt Baltisberger.

Mehr als ein modisches Plus

Der Newsroom und das Storytelling sind mehr als modische Zugeständnisse an den Zeitgeist. Wie die Werkzeuge auch benannt werden, die Gewichte innerhalb der kommunikativen Abfolge verschieben sich: Die Frage, wie eine Botschaft überhaupt Aufmerksamkeit erzielt, bindet einen immer grösseren Teil der Energie. Die steigende Informationsflut zwingt die Firmen, das Gefüge ihrer Kommunikation zu überdenken. Vorbei sind die Zeiten, als zu bestimmten Daten die ewig gleiche Mitarbeiterzeitung erschien. Die Devise lautet heute: Geschichten sehen und nutzen.