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Teure Krebsmittel werden von Krankenkassen nur zögerlich vergütet

Ärzte werfen Versicherungen vor, verdeckt den Zugang zu Therapien einzuschränken.

Birgit Voigt 4 min
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Ein Krebspatient erhält eine pflegende Gesichtsbehandlung zur Unterstützung. (Bild: Your Photo Today)

Ein Krebspatient erhält eine pflegende Gesichtsbehandlung zur Unterstützung. (Bild: Your Photo Today)

In der Schweiz geraten zunehmend schwerkranke Patienten zwischen die Fronten, wenn es um die Bezahlung ihrer Therapien geht. Das Gesundheitssystem hat Schwierigkeiten, die Zielkonflikte zwischen Kostenkontrolle, einer Welle von innovativen Behandlungsansätzen und dem Gewinnstreben der Pharmaindustrie zu regeln. Das Resultat ist eine schleichende, zufallsgetriebene Rationierung von Leistungen. Die Entwicklung zeigt sich in verschiedenen Krankheitsgebieten, besonders deutlich in der Onkologie.

Eine Erfolgsgeschichte steht am Anfang der Schwierigkeiten. Derzeit leben in der Schweiz über 300 000 Menschen mit Krebs. Die Zahl wächst stetig, vor allem, weil die Überlebensdauer massiv ansteigt. Rund ein Drittel der Krebskranken kann die Krankheit schon seit mehr als 10 Jahren in Schach halten.

Doch die dafür verantwortlichen neuen Therapieansätze drohen das System zu überfordern. Seit wenigen Jahren bringen die Pharmahersteller exorbitant teure Medikamente auf den Markt, die sich in immer neuen Varianten mit anderen kombinieren lassen. Weder bei den staatlichen Zulassungsbehörden noch bei den Pharmaherstellern hat man eine gute Antwort auf die Frage, wie die Preisfindung für diese Therapien aus mehreren Produkten aussehen soll. Addiert man einfach die Einzelpreise, explodieren die bereits beachtlichen Ausgaben für die Krankenversicherungen. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Versicherungen versuchen, diese Entwicklung zu bremsen, doch mit unglücklichen Folgen für die Patienten.

Schikanöse Versicherungen

Christian Renner, Onkologe an der Hirslanden-Klinik, nimmt kein Blatt vor den Mund. «Die Krankenversicherungen bestimmen inzwischen teilweise willkürlich, welche Therapien bei wem zum Einsatz kommen. Manche Patienten bekommen eine ganz neue Therapie, andere nicht. Wir haben inzwischen eine Mehrklassenmedizin.»

Renner steht mit seinem Angriff nicht allein. Auch andere Onkologen berichten von als schikanös empfundenem Beharren einzelner Kassen auf die eng gefassten Zulassungs–vorgaben einer Therapie. Stefan Greuter nennt die Streitereien «kafkaesk». Kürzlich habe sich eine Kasse geweigert, für einen schwerkranken Patienten eine Kombinationstherapie zu bezahlen, weil er eines der beiden Medikamente durch ein älteres, billigeres ersetzen wollte.

Der Patient vertrug den ursprünglichen Mix zu schlecht. Die Preisdifferenz, eigentlich zu Gunsten der Kasse: 30 Fr. Die gleiche Versicherung dränge ihn, einen Patienten länger mit einer (günstigen) Chemotherapie zu behandeln und erschwere den medizinisch angezeigten Umstieg auf eine (teurere) Immuntherapie durch die Anforderung detaillierter Behandlungspläne. Das Bundesamt für Gesundheit wirkt hilflos angesichts der Flut nicht genau definierbarer Therapien.

Das Amt steht unter Druck, die Krankenkassenprämien nicht übermässig ansteigen zu lassen. Es fokussiert bei den Kombinationstherapien auf eine Strategie, die von den Pharmafirmen massive Rabatte fordert. Die allerdings ziehen es häufig vor, ihr Medikament ohne amtlich vereinbarten Preis auf den Markt zu bringen. Als Konsequenz erscheinen immer weniger brandneue Krebsmedikamente schnell auf der vom Bundesamt für Gesundheit geführten Spezialitätenliste. Die aber ist massgebend dafür, ob ein Mittel in der Grundversicherung vergütet wird. Um die neuen Medikamente trotzdem nutzen zu können, verschreiben die Ärzte sie sogenannt «off-label».

Rund ein Drittel der Krebspatienten erhalten gemäss Jakob Passweg, dem Präsidenten der Krebsliga Schweiz, Off-label-Therapien (siehe untenstehendes Interview). Die Krankenversicherungen müssen für diese Fälle Kostengutsprachen gewähren. 6000 bis 8000 Anträge prüfen die Versicherungen laut Zahlen ihres Verbandes Santésuisse. Zwischen 73% und 90% wurden laut einem Bericht des BAG aus dem Jahr 2014 bewilligt.

Der Direktor des Krankenversichererverbandes Curafutura, Pius Zängerle, erkennt allerdings eine Veränderung: «Die Anfragen von Ärzten nehmen massiv zu, die ihren Patienten Medikamente verschreiben wollen, die nicht oder noch nicht für die Grundversicherung zugelassen sind. Es sind vor allem sogenannte Orphandrugs, oft exorbitant teuer.»

Laut Zängerle werden rund 6% der Anträge abgelehnt, weil die Therapie keinen Nutzen bringe. Die Krebsliga Schweiz glaubt, dass die Situation sich zuspitze. «Grob geschätzt, erhalten jedes Jahr mehrere hundert Krebspatienten eine Ablehnung ihres Antrags auf Kostengutsprache», sagt Rolf Marti, Geschäftsleitungsmitglied bei der Krebsliga Schweiz.

Genaue Zahlen fehlten. Bei einem negativen Entscheid müssten die Ärzte Wiedererwägungsanträge schreiben, theoretisch stünde danach nur noch der Rechtsweg offen. Das sei angesichts der Schwere der Krankheit für viele Patienten aber illusorisch. «In der Situation haben die Betroffenen andere Prioritäten, zudem läuft vielen die Zeit davon.»

Die Krebsliga Schweiz fordert deshalb, dass zumindest das System der Beurteilung von Anträgen auf Kostengutsprachen durch die jeweiligen Vertrauensärzte der 63 Krankenversicherungen verbessert wird. Eine Kommission aus Experten, die für alle Versicherten mit dem gleichen Massstab die Anträge auf Kostengutsprachen prüfe, sei notwendig.

Versicherungen wehren sich

Der Krankenkassenverband Santésuisse sieht keine Hinweise auf eine verkappte Rationierung. «Weder seitens der Versicherer, der Onkologen noch des BAG liegen Daten vor, die dies belegen», sagt Direktorin Verena Nold: «Die Vorwürfe sind ungerechtfertigt.» Die Versicherer prüften nach genauen Regeln und detaillierten, gesetzlichen Vorgaben. Fast deckungsgleich erklärt auch das BAG, es gebe derzeit keine Hinweise darauf, dass bei den Krankenversicherern Kostengutsprachen in unterschiedlicher Weise behandelt würden.

Trotzdem hat das Amt vor wenigen Wochen eine Anpassung des Artikels 71 in der Krankenversicherungsverordnung verfügt. Neu müssen die Kassen ihre Entscheide über Kostengutsprachen dem Amt zur Datenerhebung einreichen. Auch das BAG möchte offenbar etwas genauer wissen, wie die Kassen die steigende Flut von aussergewöhnlichen Fällen bearbeiten.

Diese Bestrebungen lösen allerdings in keiner Form das ursächliche Problem. Es gibt derzeit keinen vernünftigen Mechanismus in der Schweiz, um die Preise für die kostspieligen Kombinationstherapien festzulegen. Die Zahl der Patienten, die sowohl mit ihrer Krankheit wie mit ihrer Krankenversicherung kämpfen müssen, wird deshalb zunehmen.

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