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Der große Report So gefährlich sind Heilpraktiker in Deutschland

Eine Patientin befindet sich im Gespräch mit medizinischem Personal.
Patienten versprechen sich von der Alternativmedizin sanfte Therapien - doch die Behandlung durch unseriöse Heilpraktiker kann gefährlich sein. Der stern-Report zum Thema erschien im Heft 17/2017 vom 20.4.2017.
© iStockphoto/Getty Images
Heilpraktiker genießen in Deutschland fast grenzenlose Therapiefreiheit – und brauchen keine fundierte Ausbildung. Selbst eine Serie von Todesfällen im vergangenen Sommer konnte das bislang nicht ändern. Ein stern-Report deckt erschreckende Gesetzeslücken auf.

Ein kleiner, beleibter Mann in langem Arztkittel öffnet die Tür. Breite Nase, volles braunes Haar, warmherziges Lächeln. "Bitte sehr, die Praxis ist im Untergeschoss."

Wolfgang Buck [Name von der Redaktion geändert], 66 Jahre alt, Heilpraktiker, bittet zur Behandlung. Das weiße Einfamilienhaus in Franken mit dem neuen Zwölfzylinder-BMW vor der Garage scheint seinen beruflichen Erfolg zu bezeugen. Doch Buck muss sich vor Gericht verantworten. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.

Am Telefon haben wir uns als Paar ausgegeben. Bei meiner Frau sei Brustkrebs diagnostiziert worden. Sie reicht ihm den Fake-Befund einer Gewebeprobe, den er aufmerksam studiert. Die fiktive Geschwulst ist sehr bösartig. Aber auch so klein, dass eine Therapie nach den von Krebs-Experten entwickelten medizinischen Leitlinien 95 Prozent der Patientinnen dauerhaft heilen würde. "Meine eigenen Diagnosemethoden sind manchmal aussagekräftiger", sagt Wolfgang Buck – und zückt eine Rute aus glänzendem Stahl mit langer, schwingender Antenne.

Mit geschlossenen Augen hält der Heilpraktiker den sogenannten Biotensor über die Brust der Patientin. Er stelle dem Instrument Fragen zu "Energiedefiziten", und der Tensor gebe die Antwort, erklärt er. Mal schwingt die Antenne von oben nach unten (was "nein" heiße), mal oszilliert sie von links nach rechts ("ja"). Ab und zu zuckt seine Hand, dann schwingt der Tensor stärker.

Anita B., ca. 45   Die Mutter einer kleinen Tochter war 41 Jahre alt, als Ärzte bei ihr Brustkrebs im Frühstadium diagnostizierten. Der Tumor war eingekapselt und hatte höchstwahrscheinlich noch nicht gestreut. Ihre Heilungschancen lagen laut Fachgutachten bei 93 bis 99 Prozent. Anita B. lebte in Kärnten, Österreich, wo Heilpraktiker verboten sind. Doch nahe an ihrem Wohnort empfing ein deutscher Heilpraktiker Patienten in eigenen Räumen, beriet sie und lotste sie in ein fränkisches Dorf, wo er seine Praxis betrieb. Er pendelte ihre Brust mit einem sogenannten "Biotensor" aus, mit dem man angeblich "Energiedefizite" feststellen können soll. Anschließend sagte er ihr, sie habe nur eine "Milchdrüsenentzündung" und behandelte sie fortan mit homöopathischen und pflanzlichen Präparaten.    Der Tumor wucherte, brach durch die Haut und öffnete sich zu einer handtellergroßen, schwärenden Wunde. Er streute im Körper. Vier Jahre später starb Anita B. an ihrer Krebserkrankung.  Heilpraktiker, die Patienten gefährden, indem sie sich zum Beispiel über eindeutige Diagnosen lebensbedrohlicher Krankheiten hinwegsetzen, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers ihre Zulassung verlieren. Doch der Fall Anita B. zeigt, wie schwierig das ist. Heute – vier Jahre nach ihrem Tod – steht ihr Heilpraktiker wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Warum er immer noch Krebsdiagnosen auspendeln darf, lesen Sie in der stern-Titelgeschichte "Gefährliche Heilpraktiker".      Quellen: Interviews mit der Staatsanwaltschaft Regensburg, dem Rechtsanwalt Ernst Maiditsch, der den Witwer vertritt, Anklageschrift, Fachgutachten zwei angesehener Onkologen. Persönliche medizinische Beratung bei dem Heilpraktiker in Begleitung einer Journalistin, die eine Fake-Brustkrebsdiagnose mit sich führte.
Anita B., ca. 45 
Die Mutter einer kleinen Tochter war 41 Jahre alt, als Ärzte bei ihr Brustkrebs im Frühstadium diagnostizierten. Der Tumor war eingekapselt und hatte höchstwahrscheinlich noch nicht gestreut. Ihre Heilungschancen lagen laut Fachgutachten bei 93 bis 99 Prozent. Anita B. lebte in Kärnten, Österreich, wo Heilpraktiker verboten sind. Doch nahe an ihrem Wohnort empfing ein deutscher Heilpraktiker Patienten in eigenen Räumen, beriet sie und lotste sie in ein fränkisches Dorf, wo er seine Praxis betrieb. Er pendelte ihre Brust mit einem sogenannten "Biotensor" aus, mit dem man angeblich "Energiedefizite" feststellen können soll. Anschließend sagte er ihr, sie habe nur eine "Milchdrüsenentzündung" und behandelte sie fortan mit homöopathischen und pflanzlichen Präparaten.

Der Tumor wucherte, brach durch die Haut und öffnete sich zu einer handtellergroßen, schwärenden Wunde. Er streute im Körper. Vier Jahre später starb Anita B. an ihrer Krebserkrankung.
Heilpraktiker, die Patienten gefährden, indem sie sich zum Beispiel über eindeutige Diagnosen lebensbedrohlicher Krankheiten hinwegsetzen, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers ihre Zulassung verlieren. Doch der Fall Anita B. zeigt, wie schwierig das ist. Heute – vier Jahre nach ihrem Tod – steht ihr Heilpraktiker wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Warum er immer noch Krebsdiagnosen auspendeln darf, lesen Sie in der stern-Titelgeschichte "Gefährliche Heilpraktiker".


Quellen: Interviews mit der Staatsanwaltschaft Regensburg, dem Rechtsanwalt Ernst Maiditsch, der den Witwer vertritt, Anklageschrift, Fachgutachten zwei angesehener Onkologen. Persönliche medizinische Beratung bei dem Heilpraktiker in Begleitung einer Journalistin, die eine Fake-Brustkrebsdiagnose mit sich führte.

Heilpraktiker brauchen überhaupt keine Ausbildung

Wir wollen herausfinden, ob Wolfgang Buck uns genauso beraten wird wie vor einigen Jahren die Kärntnerin Anita B. Auch sie hatte Brustkrebs im Frühstadium und legte ihre Befunde dem Heilpraktiker vor. Er pendelte eine "Milchdrüsenentzündung" aus – und behandelte seine Patientin mit pflanzlichen und homöopathischen Medikamenten. Der Krebs wucherte, er brach durch die Haut, Metastasen breiteten sich im ganzen Körper aus. Am 28. April 2013 starb die Mutter einer kleinen Tochter. Ihr Mann zeigte Wolfgang Buck an.

Das Heilpraktikergesetz, das im Jahr 1939 in Kraft trat, gewährt schier grenzenlose diagnostische und therapeutische Freiheiten und schützt Patienten nicht vor lebensgefährlicher Scharlatanerie. Eine Laxheit, die angesichts von Skandalen wie den Todesfällen im niederrheinischen Brüggen-Bracht nicht mehr zeitgemäß ist: Der überregional bekannte Heilpraktiker Klaus R. hatte Krebspatienten eine nicht nach dem Arzneimittelgesetz zugelassene Chemikalie per Infusion verabreicht. Drei Menschen starben innerhalb von vier Tagen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Ob Anklage erhoben werden kann, ist ungewiss.

Denn eines ist jetzt bereits klar: Anmischen und verabreichen durfte R. das Mittel, das die für Medikamente vorgeschriebenen aufwendigen Prüfungen nie durchlaufen hat. Heilpraktikern nämlich ist unfassbar viel erlaubt: Ohne Fachkunde­nachweis dürfen sie mit spitzer Nadel akupunktieren, Krankheiten diagnostizieren oder auch gefährliche Manipulationen an der Halswirbelsäule vornehmen. Sie brauchen überhaupt keine Ausbildung. Das Einzige, was das alte Gesetz verlangt, ist: Angehende Heilpraktiker müssen einen Test über elementare Medizinkenntnisse beim Gesundheitsamt absolvieren. Der Test soll der "Gefahrenabwehr" dienen. Niemand fragt, ob die Kandidaten je einen Patienten gesehen haben. Niemand entdeckt, wenn sie heimlich einem gefährlichen Irrglauben anhängen und die "Schulmedizin" selbst bei lebensbedrohlichen Krankheiten ablehnen.

Heilpraktikerverbände: Patientenschutz gewährleistet

Nach der Todesserie von Bracht gelobte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), das Heilpraktikergesetz zu überprüfen. Barbara Steffens (Bündnis 90/Die Grünen), die Gesundheitsministerin von Nordrhein-Westfalen, forderte eine "staatlich kontrollierte, strukturierte Ausbildung". Unsinn, das würde den Beruf nur aufwerten, konterte der SPD-Experte Karl Lauterbach.

Die großen Heilpraktikerverbände wehren sich gegen Veränderungen. Der Patientenschutz sei durch eine Vielzahl von Vorschriften gewährleistet. Doch die Kontrollen reichen nicht aus. An Heilpraktikerschulen werden lebensbedrohliche Irrlehren verbreitet. Auf Alternativmedizin-Messen kann man unkontrolliert gefährliche Wunderheilmittel kaufen. Selbst nach Todesfällen können Scharlatane kaum zur Verantwortung gezogen werden. Patientenschutz? Fehlanzeige.

Fatale Diagnosemethoden

Am ersten Verhandlungstag fragt der Richter, so ein Prozessbeobachter, den Heilpraktiker Wolfgang Buck, ob er im 21. Jahrhundert wirklich noch an das „Auspendeln“ glaube. „Das Gerät gibt Aufschluss über körpereigene Energien“, antwortet Wolfgang Buck vieldeutig.

Das Hantieren mit dem Antennenstab ist nicht das einzige Verfahren, mit dem sich Heilpraktiker an die Diagnose schwerer Krankheiten wagen. Weit verbreitet ist auch die „Dunkelfeldmikroskopie des Blutes nach Enderlein“, mit der man angeblich Krebs im Frühstadium erkennen kann. Die Gynäkologen Karsten Münstedt und Samer El-Safadi überprüften die Methode an 110 Probanden in der Uniklinik Gießen, zwölf von ihnen litten an fortgeschrittenen Krebserkrankungen. Ein Heilpraktiker mit besten Referenzen entdeckte gerade mal drei davon, darüber hinaus stellte er bei 15 gesunden Probanden die Diagnose Krebs. "Das entspricht in etwa der Ratewahrscheinlichkeit", resümiert El-Safadi.

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Auch in der Iris, der Regenbogenhaut des Auges, sollen sich schwere Krankheiten als Streifen, Ringe oder Pigmentflecken niederschlagen. Die beiden Ärzte luden einen versierten Irisdiagnostiker ein, seine Fähigkeiten an den 110 Versuchspersonen zu beweisen. Obwohl der Heilpraktiker behauptete, Krebs durch einen Blick in die Augen feststellen zu können, lag er meist daneben.

Susanne Reichardt, 55  Die Ehefrau eines Heilpraktikers starb am Ostermontag 2016 an Brustkrebs. Damit andere Patienten nicht so leichtgläubig wie sie in die Fallen der Alternativmedizin stolpern, veröffentlichte sie ihre Leidensgeschichte im Internet, ihr Sohn Michael Koch verbürgt sich für die Echtheit.    Demnach tastete sie im Jahr 2010 einen Knoten in ihrer Brust. Ihr Mann diagnostizierte eine "harmlose Zyste". Drei Jahre lang ließ sie sich von ihm verbieten, einen Gynäkologen aufzusuchen. "Die Ehefrau eines Heilpraktikers braucht keinen Arzt", soll er gesagt haben und behandelte sie selbst. Sie schluckte Kapseln, Globuli, Schüsslersalze und bekam einige Mittel, die in der alternativmedizinischen Szene als Wunderwaffen gegen Krebs gehandelt werden: Die "schwarze Salbe", die den Tumor durch die Haut herausziehen und zerstören soll. Den Bittermandelstoff Amygdalin, auch "Vitamin B17" genannt, dessen durchschlagende Wirkung angeblich seit Jahrzehnten von einem Komplott aus Pharmaindustrie und Ärzten verschwiegen wird. Das Miracle Mineral Supplement MMS, das schon beim Einatmen seine giftigen Wirkungen entfaltet.    Als sie sich Ende 2014 im Marienhospital Stuttgart einer schulmedizinischen Behandlung unterziehen wollte, war es zu spät. Der Brustkrebs hatte in viele Organe gestreut. Der Heilpraktiker landete vor Gericht und kam mit einer Geldbuße davon - allerdings nicht wegen seiner eigenmächtigen Diagnose und Therapie (die die Staatsanwaltschaft gar nicht zur Anklage brachte), sondern lediglich wegen eines Vorfalles von Körperverletzung im Ehestreit.      Quellen: Persönliche Interviews mit dem Heilpraktiker selbst sowie dem Sohn von Susanne Reichardt Michael Koch. Einblick in medizinische und persönliche Dokumente, Arztbriefe, Fotos und Videos. Begleitung des Prozesses am Amtsgericht Simmern. Aufzeichnungen von Susanne Reichardt.
Susanne Reichardt, 55
Die Ehefrau eines Heilpraktikers starb am Ostermontag 2016 an Brustkrebs. Damit andere Patienten nicht so leichtgläubig wie sie in die Fallen der Alternativmedizin stolpern, veröffentlichte sie ihre Leidensgeschichte im Internet, ihr Sohn Michael Koch verbürgt sich für die Echtheit.

Demnach tastete sie im Jahr 2010 einen Knoten in ihrer Brust. Ihr Mann diagnostizierte eine "harmlose Zyste". Drei Jahre lang ließ sie sich von ihm verbieten, einen Gynäkologen aufzusuchen. "Die Ehefrau eines Heilpraktikers braucht keinen Arzt", soll er gesagt haben und behandelte sie selbst. Sie schluckte Kapseln, Globuli, Schüsslersalze und bekam einige Mittel, die in der alternativmedizinischen Szene als Wunderwaffen gegen Krebs gehandelt werden: Die "schwarze Salbe", die den Tumor durch die Haut herausziehen und zerstören soll. Den Bittermandelstoff Amygdalin, auch "Vitamin B17" genannt, dessen durchschlagende Wirkung angeblich seit Jahrzehnten von einem Komplott aus Pharmaindustrie und Ärzten verschwiegen wird. Das Miracle Mineral Supplement MMS, das schon beim Einatmen seine giftigen Wirkungen entfaltet.

Als sie sich Ende 2014 im Marienhospital Stuttgart einer schulmedizinischen Behandlung unterziehen wollte, war es zu spät. Der Brustkrebs hatte in viele Organe gestreut. Der Heilpraktiker landete vor Gericht und kam mit einer Geldbuße davon - allerdings nicht wegen seiner eigenmächtigen Diagnose und Therapie (die die Staatsanwaltschaft gar nicht zur Anklage brachte), sondern lediglich wegen eines Vorfalles von Körperverletzung im Ehestreit.


Quellen: Persönliche Interviews mit dem Heilpraktiker selbst sowie dem Sohn von Susanne Reichardt Michael Koch. Einblick in medizinische und persönliche Dokumente, Arztbriefe, Fotos und Videos. Begleitung des Prozesses am Amtsgericht Simmern. Aufzeichnungen von Susanne Reichardt.

Alternativmediziner, die solchen Diagnosemethoden vertrauen, erleben täglich eklatante Widersprüche zwischen ihrer Sicht der Dinge und schulmedizinischen Befunden. Doch wie viele gehen deshalb so weit wie Wolfgang Buck? Heilpraktikerverbände sprechen von "Einzelfällen". Aber Gynäkologen, die der stern befragte, kennen alle solche Geschichten. Allein am Klinikum rechts der Isar tauche jeden Monat eine Frau auf, deren Brustkrebsbehandlung durch Alternativheiler verschleppt worden sei, sagt die Chefärztin ­Marion Kiechle. Wer bei Google mit Begriffen wie „Krebs alternativ heilen“ nach Therapeuten sucht, landet in mehr als der Hälfte der Fälle bei Heilpraktikern und Ärzten, die schulmedizinische Krebsdiagnosen falsch werten und die vorgeschlagenen Therapien überflüssig finden, so das Ergebnis einer stern-Recherche vor drei Jahren.

Irrglauben und Irrlehren

Die Arroganz, sich über das medizinische Wissen hinwegzusetzen, ist eine Haltung, die Heilpraktiker häufig von ihren Lehrern übernehmen. So erlebte es die Buchautorin ­Anousch Mueller ["(Un)Heilpraktiker", Riemann Verlag, 2016], die zwei Jahre die Paracelsus Heilpraktikerschule in Berlin besuchte – Teil einer internationalen Kette mit 54 Dependancen in Deutschland und laut Eigenwerbung die Nummer eins in Europa. Vormittags lernte Mueller Anatomie, Physiologie und Krankheitslehre. Nachmittags wurde in Fächern wie Homöopathie, Bioresonanz und Irisdiagnostik ihr frisch erworbenes Wissen über den Haufen geworfen. Zweifel kamen Mueller, weil ihre Dozenten gefährliche Verschwörungstheorien verbreiteten. "Viele propagieren die Schulmedizin als Feindbild", sagt sie. So lernte sie, man solle Diabetes bei Kindern keinesfalls vorschnell mit Insulin behandeln, Globuli könnten die Erkrankung verhindern – ein Rat, der Leben kosten kann. Nahezu alle Dozenten seien Impfgegner, sagt Mueller. Viele lehnten auch die wissenschaftlich begründete Behandlung von Krebs ab. Verbreitet sei die Idee der "Krebsschuld" durch ungesunde Lebensweise oder un­gelöste Konflikte. Die Geschäftsleitung der Schule weist den Vorwurf, die Schulmedizin feindlich zu behandeln, zurück. Naturheilkunde könne bei Krebsbehandlungen nur unterstützen, jedoch keinen Krebs heilen.

Auch eine der abstrusesten Ideologien der vergangenen Jahrzehnte hat Einzug gehalten in die Ausbildung, so an der Heilpraktikerschule Regensburg. Die residiert in einem frisch renovierten Gründerzeitbau in bester Innenstadtlage, mittags können sich die Schüler im Stadtpark die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen. Mitte März steht ein Kurs über die Entstehung von Krebs auf dem Plan. Die Dozentin Edeltraud Fischer-Graf ist eine elegante Frau um die 50 mit grauen kurzen Haaren, Silberohrringen und Wolljacke. Bei Tee und Nüssen erklärt sie ihren Schülern, dass Krebs ein "biologisch sinnvolles Sonderprogramm" des Körpers sei, das der Mensch aus der Urzeit mitgebracht habe. Die Krankheit werde durch spezifische Konfliktsituationen im Leben verursacht – löse man sie, verschwinde auch der Tumor. Greife man früh­zeitig durch eine Operation ein, gefährde man den Selbstheilungsprozess. Neben ihrer Praxis- und Lehrtätigkeit fungiert die Frau als stellver­tretende Geschäftsführerin des CSU-Kreisverbands Amberg-Sulzbach. Sie trägt ihre Ideen auch auf gesundheitspolitischen Lokalveranstaltungen vor.

Leentje C., 55  Seit Oktober 2015 litt Leentje C. an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Nach einer Operation und anschließender Chemotherapie war sie frei von Metastasen und begab sich in Behandlung beim Heilpraktiker Klaus R. in Brüggen-Bracht. Der gab ihr Infusionen mit der Chemikalie 3-Bromopyruvat, die nicht nach dem Arzneimittelrecht zugelassen ist. In der Theorie soll die Substanz verhindern, dass Krebszellen Zucker verarbeiten. Forschungen dazu liefen an US-Universitäten und den Unikliniken Heidelberg und Frankfurt.    Am Menschen wurde 3-Bromopyruvat nur in wenigen Fällen erprobt. Am dritten Behandlungstag fühlte sich Leentje C. schlecht, in der Nacht erlitt sie einen epileptischen Anfall, fiel ins Koma und starb später auf einer Intensivstation. Zwei weitere Patienten von Klaus R. starben unter ähnlichen Umständen. Bis heute ist die genaue Todesursache nicht geklärt. Die Staatsanwaltschaft Krefeld ermittelt gegen Klaus R. Damit es zur Anklage kommt, müsste bewiesen werden, dass 3-Bromopyruvat tatsächlich die Ursache für die Todesfälle war, was schwierig wird, weil es kaum klinische Erfahrungen mit der Substanz gibt. Gleichwohl dürfen Heilpraktiker es nach wie vor per Infusion geben, so Informationen des Gesundheitsministeriums Nordrhein-Westfalen. Verschreiben dürfen es hingegen nur Ärzte.        Quellen: Mehrfache Interviews mit der hinterbliebenen Ehefrau von Leentje C. durch Sebastian Lauerer, freier Journalist, im Auftrag des stern. Interviews mit der Staatsanwaltschaft Krefeld, der Krebsforscherin und 3-Bromopyruvat-Expertin Ingrid Herr (Uniklinik Heidelberg), dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sowie dem Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter Nordrhein-Westfalen.
Leentje C., 55
Seit Oktober 2015 litt Leentje C. an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Nach einer Operation und anschließender Chemotherapie war sie frei von Metastasen und begab sich in Behandlung beim Heilpraktiker Klaus R. in Brüggen-Bracht. Der gab ihr Infusionen mit der Chemikalie 3-Bromopyruvat, die nicht nach dem Arzneimittelrecht zugelassen ist. In der Theorie soll die Substanz verhindern, dass Krebszellen Zucker verarbeiten. Forschungen dazu liefen an US-Universitäten und den Unikliniken Heidelberg und Frankfurt.

Am Menschen wurde 3-Bromopyruvat nur in wenigen Fällen erprobt. Am dritten Behandlungstag fühlte sich Leentje C. schlecht, in der Nacht erlitt sie einen epileptischen Anfall, fiel ins Koma und starb später auf einer Intensivstation. Zwei weitere Patienten von Klaus R. starben unter ähnlichen Umständen. Bis heute ist die genaue Todesursache nicht geklärt. Die Staatsanwaltschaft Krefeld ermittelt gegen Klaus R. Damit es zur Anklage kommt, müsste bewiesen werden, dass 3-Bromopyruvat tatsächlich die Ursache für die Todesfälle war, was schwierig wird, weil es kaum klinische Erfahrungen mit der Substanz gibt. Gleichwohl dürfen Heilpraktiker es nach wie vor per Infusion geben, so Informationen des Gesundheitsministeriums Nordrhein-Westfalen. Verschreiben dürfen es hingegen nur Ärzte. 

 
Quellen: Mehrfache Interviews mit der hinterbliebenen Ehefrau von Leentje C. durch Sebastian Lauerer, freier Journalist, im Auftrag des stern. Interviews mit der Staatsanwaltschaft Krefeld, der Krebsforscherin und 3-Bromopyruvat-Expertin Ingrid Herr (Uniklinik Heidelberg), dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sowie dem Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter Nordrhein-Westfalen.

Ein größenwahnsinniger Ex-Arzt

Die Ideologie dahinter stammt vom Darth Vader der Alternativmedizin, dem Antisemiten und ehemaligen Arzt Ryke Geerd Hamer. Erdacht hat er seine Heilslehre in den frühen 80er Jahren. Er taufte sie "Germanische Neue Medizin". 99 Prozent seiner Krebspatienten will Hamer durch Konfliktlösung geheilt haben. Operationen und Chemotherapie lehnt er radikal ab, je nach Quelle soll es 80 bis 500 gerichtsbekannte Todesfälle geben. Menschen, die länger hätten leben können, wenn sie nicht seiner Irrlehre vertraut hätten. Der Arzt verlor seine Approbation, praktizierte illegal weiter, saß öfter im Gefängnis. Es stehen mehrere Haftbefehle gegen ihn aus, denen er sich durch Flucht nach Norwegen entzogen hat. Aus dem Exil verbreitet der heute 81-Jährige seine abstrusen Lügen weiter: In Israel würde sich niemand mehr einer Chemotherapie unterziehen, weil die Juden seine Heilslehre längst akzeptiert hätten.

Der Heilpraktiker Rainer Körner ist ein jüngerer Vordenker der Hamer-Szene. Der Mann hat ein Lehrbuch "Biologisches Heilwissen“ geschrieben und verkauft am bayerischen Walchensee Vier-Tages-Blockkurse für 980 Euro. Mit einer "Bildungsprämie" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zahlt man sogar nur die Hälfte. "Wenn Sie alle drei Blöcke besuchen, wissen Sie schon fast alles, um eine Praxis zu eröffnen", sagt Körner am Telefon. Um den smarten Lehrer hat sich eine "Interessengemeinschaft" gebildet, die sich offen zu Hamer bekennt – darunter die beiden Leiter der Heilpraktikerschule Regensburg, die die Ausbildung in den Geist des größenwahnsinnigen Ex-Arztes und seines Adepten gestellt haben. Auf Nachfrage des stern weisen die Schule sowie die Dozentin Fischer-Graf den Antisemitismus-Vorwurf zurück. Auch befürworte man "rechtzeitige" Operationen und medikamentöse Behandlungen.

Ideologie wie für Fake-News-Zeiten gemacht

Es ist eine Ideologie wie gemacht für das Fake-News-anfällige Internet. Dort sind Hamers teils noch sehr junge Anhänger aktiv und ­verbreiten die Lehre auch unter ­anderen Decknamen wie "Fünf Biologische Naturgesetze" oder "Metamedizin". Auf Youtube finden sich Vorträge von Esoterikmessen, gehalten vor Hunderten von Zu­hörern. Eine Vier-Stunden-"Dokumentation" über "die dritte Revolution der Medizin" bringt es auf fast drei Millionen Klicks. Auch Scientologen propagieren die "Germanische Neue Medizin" über ein der religiösen Bewegung nahestehendes Organ, die Kent-Depesche.

"Diese Entwicklung im Netz ist besorgniserregend“, sagt Sabine Riede, Geschäftsführerin von Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V. "Da finden sich gerade Randgruppen zusammen, die eines eint: der Hass auf den Staat." Und zusammen werden sie stärker. Da Heilpraktikerschulen zudem private Einrichtungen sind, haben staatliche Stellen keinen Einblick in und keinen Einfluss auf die Inhalte, die dort gelehrt werden, so das zuständige bayerische Gesundheitsministerium. Man erwäge jedoch, aufgrund der stern-Recherchen einen aktuellen Hinweis an die Heilpraktikerverbände und die zuständigen Behörden zu geben. Christian Wilms, Vorsitzender des Dachverbands Deutscher Heilpraktiker DDH, ist entsetzt, als er von den Irrlehrern hört. Er räumt aber ein: "Heilpraktikerschulen sind völlig frei in der Gestaltung ihres Unterrichtsstoffs."

Renate Mulofwa (Name von der Redaktion geändert), 53  Am Anfang ihrer Odyssee durch die Alternativmedizin stand ein Gynäkologe, der keine Zeit hatte. Er rief sie auf dem Handy an, um ihr kurz das Ergebnis einer Gewebeprobe aus ihrer Brust mitzuteilen. Sie habe Krebs. Er habe sie für die kommende Woche zur OP im Krankenhaus angemeldet. Punkt. Was er nicht sagte: Der Krebs war im Frühstadium, die Heilungschancen standen gut.    Mulofwa blieb allein mit ihren Ängsten: Verstümmelung durch die OP, Haarausfall und Erbrechen durch die Chemotherapie. Das wollte sie nicht. Ihren Kindern und Freundinnen sagte sie: "Ich werde einen anderen Weg gehen. Ich weiß, dass er für mich richtig ist. Fragt mich nie danach, gebt mir keine klugen Ratschläge."    In vier Jahren war sie bei mehr als 20 Heilpraktikern, Heilern und Ärzten, die sich auf Alternativmedizin spezialisiert hatten. Sie probierte alles aus, was der Markt an Wundermitteln zu bieten hatte. Nur einmal, nach zweieinhalb Jahren, wurde sie schwach, weil sie sah, wie der Krebs in ihrem Körper wucherte. Sie ließ eine OP zu, doch danach ging sie ihren alternativen Weg weiter. Bald hatte der Krebs im ganzen Körper gestreut. Als sie das zweite Mal zurück in den Schoß der Schulmedizin floh, traf sie auf den Onkologen Miklos Pless, der sie nahm, wie sie war. Er sagte ihr nicht: "Wie konnten Sie es nur so weit kommen lassen!". Stattdessen: "Ihr Allgemeinzustand ist immer noch recht gut. Wenn Sie sich selber eine Chance geben, könnte es Ihnen bald viel besser gehen." Für Heilung war es zu spät, doch mit Hilfe von Pless blieben ihr noch mehr als zwei Jahre, in denen es ihr zeitweise sehr gut ging.  Quellen: Renate Mulofwa ist die Freundin einer engen Freundin des Autors dieses Artikels Bernhard Albrecht. Im Jahr 2012 besuchte er sie mehrfach in ihrem Wohnort in der Schweiz, sichtete alle vorhandenen medizinischen Unterlagen, kontaktierte, soweit rekonstruierbar und erreichbar, ihre behandelnden Ärzte, Heilpraktiker und Heiler. Die ausführliche Geschichte schrieb er vor fünf Jahren für den Spiegel auf. 


Renate Mulofwa (Name von der Redaktion geändert), 53
Am Anfang ihrer Odyssee durch die Alternativmedizin stand ein Gynäkologe, der keine Zeit hatte. Er rief sie auf dem Handy an, um ihr kurz das Ergebnis einer Gewebeprobe aus ihrer Brust mitzuteilen. Sie habe Krebs. Er habe sie für die kommende Woche zur OP im Krankenhaus angemeldet. Punkt. Was er nicht sagte: Der Krebs war im Frühstadium, die Heilungschancen standen gut.

Mulofwa blieb allein mit ihren Ängsten: Verstümmelung durch die OP, Haarausfall und Erbrechen durch die Chemotherapie. Das wollte sie nicht. Ihren Kindern und Freundinnen sagte sie: "Ich werde einen anderen Weg gehen. Ich weiß, dass er für mich richtig ist. Fragt mich nie danach, gebt mir keine klugen Ratschläge."

In vier Jahren war sie bei mehr als 20 Heilpraktikern, Heilern und Ärzten, die sich auf Alternativmedizin spezialisiert hatten. Sie probierte alles aus, was der Markt an Wundermitteln zu bieten hatte. Nur einmal, nach zweieinhalb Jahren, wurde sie schwach, weil sie sah, wie der Krebs in ihrem Körper wucherte. Sie ließ eine OP zu, doch danach ging sie ihren alternativen Weg weiter. Bald hatte der Krebs im ganzen Körper gestreut. Als sie das zweite Mal zurück in den Schoß der Schulmedizin floh, traf sie auf den Onkologen Miklos Pless, der sie nahm, wie sie war. Er sagte ihr nicht: "Wie konnten Sie es nur so weit kommen lassen!". Stattdessen: "Ihr Allgemeinzustand ist immer noch recht gut. Wenn Sie sich selber eine Chance geben, könnte es Ihnen bald viel besser gehen." Für Heilung war es zu spät, doch mit Hilfe von Pless blieben ihr noch mehr als zwei Jahre, in denen es ihr zeitweise sehr gut ging.
Quellen: Renate Mulofwa ist die Freundin einer engen Freundin des Autors dieses Artikels Bernhard Albrecht. Im Jahr 2012 besuchte er sie mehrfach in ihrem Wohnort in der Schweiz, sichtete alle vorhandenen medizinischen Unterlagen, kontaktierte, soweit rekonstruierbar und erreichbar, ihre behandelnden Ärzte, Heilpraktiker und Heiler. Die ausführliche Geschichte schrieb er vor fünf Jahren für den Spiegel auf. 
© Cira Moro

Gefährliche Wundermittel

Eine Grenze ist dem Walten von Heilpraktikern gesetzt: Sie dürfen keine verschreibungspflichtigen Medikamente geben. Doch nun wird es verrückt: Sogar womöglich gefährliche Substanzen, die nicht den Status einer Arznei haben, dürfen sie in die Adern ihrer Patienten fließen lassen – so wie der Heilpraktiker Klaus R., nach dessen Behandlung sich die Todesserie in Bracht ereignete. "Das zu hören hat mich sehr schockiert", sagt die Belgierin Françoise Goedhuys, Ehefrau des verstorbenen Opfers Leentje C.. Im vergangenen Dezember war sie ein zweites Mal bei der Staatsanwaltschaft, sechs Stunden Anhörung, die gleichen Fragen wie beim ersten Mal. "Ich kann nicht verstehen, wie drei Menschen sterben können, und neun Monate später gibt es keine Ergebnisse. Nie hätte ich gedacht, dass so was in Deutschland möglich ist."

Die Chemikalie 3-Bromopyruvat, an der Leentje C. mutmaßlich starb, soll theoretisch verhindern, dass Krebszellen Zucker aufnehmen. Umschlagplatz für das Geheimwissen um solche Wundermittel sind Alternativmedizin- und Esoterikmessen, die in ganz Deutschland stattfinden. So schieben sich etwa auf der Paracelsus-Messe Anfang März im hessischen Wallau mehr als 20.000 Besucher an drei Tagen durch die Hallen. Der Duft von ätherischen Ölen liegt in der Luft, Gongschläge locken die Menschen zur kostenlosen Klangschalenmassage, für 15 Euro bekommt man ein "Aura-Foto" in Polaroid-Qualität mit lila Wolke über dem Kopf, für 30 Euro wird der "Bio-Scan" angeboten – man umgreift dafür einen Metallstab, der mit einem Computer verbunden ist und in nur 90 Sekunden alle Organsysteme des Körpers durchcheckt. Das klingt fast so perfekt wie der Tricorder von Dr. McCoy aus "Raumschiff Enterprise". Viele Naturheilmittelhersteller sind vertreten, auch die Burg-Apotheke aus dem hessischen Königstein im Taunus. "3-Bromopyruvat haben wir seit den ungeklärten Todesfällen nicht mehr im Angebot", sagt eine Standmitarbeiterin. "Aber es gibt ja viele andere interessante Produkte für die Krebstherapie." Sie weist auf eine Reihe von Fläschchen in einer Glasvitrine, darunter eine Substanz, die das Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) vor drei Jahren als "bedenklich" einstufte: Amygdalin. Die Substanz setzt im Körper Blausäure frei. Patienten, die sie verabreicht bekamen, erlitten schwere Bauchkrämpfe, Nervenschäden und sanken ins Koma, auch Todesfälle gab es. Weder Ärzte noch Heilpraktiker dürfen Amygdalin verschreiben.

Der Veranstalter der Messe sagt gegenüber dem stern, dass man die Vorkommnisse bedaure. Rechtlich verantwortlich seien jedoch die Aussteller. Doch der Rechtsweg, den Verkauf zu verbieten, ist kompliziert. Die Aufsichtsbehörden der Bundesländer müssten aktiv werden, sagt Maik Pommer, Sprecher des BfArM.

BDH: "Wir haben das nicht gemerkt"

Auch das Wundermittel MMS ist als "bedenklich" eingestuft. Der greise US-Ingenieur und Sektengründer Jim Humble will damit mehr als 100.000 Menschen weltweit von Krebs, Aids, Autismus und Malaria geheilt haben. Auf der Paracelsus-Messe wirbt ein überlebensgroßes Plakat mit dem Konterfei des Gurus – weiße Haare, weißer Cowboyhut, weißes Hemd. Es hängt am Stand des Jim Humble Verlags. Humble sei nicht da, sagt der Messevertreter: "Den würden sie wahrscheinlich sofort ins Gefängnis stecken."

MMS enthält die hochreaktive chemische Substanz Chlordioxid und kann zu Verätzungen der Speiseröhre, Nierenversagen sowie Atemstörungen durch Schäden an roten Blutkörperchen führen. Die Antikrebswirkung hingegen wurde nie in größeren Studien am Menschen untersucht. Wer MMS kaufen will, dem werden am Tisch des Jim Humble Verlags Internetadressen auf Zettel gekritzelt. Ulrich Sümper, Präsident des Bundes Deutscher Heilpraktiker BDH, eines Kooperationspartners der Messe, geht auf Distanz: "Wir haben das nicht gemerkt, sonst wären sofort alle roten Lampen angegangen."

Hans-Ulrich Leupold, 67  Der selbständige Unternehmensberater, der Klassik liebte und gerne ins Theater ging, starb im Jahr 2015. Seine Tochter Jacqueline Klaus machte seine Leidensgeschichte öffentlich. Demnach tastete Leupold im Jahr 2008 einen stecknadelkopfgroßen Tumor am Hals. Er ließ ihn operativ entfernen. Die Gewebeprobe ergab eine bösartige Form von Lymphdrüsenkrebs, eine Strahlentherapie wurde empfohlen.    Zu dieser Zeit traf er einen Freund, mit dem er früher die Militärakademie besucht hatte. Der machte ihn vertraut mit den Irrlehren des mehrfach verurteilten und per Haftbefehl gesuchten Ex-Arztes Ryke Geerd Hamer, der die "Germanische Neue Medizin" erdacht hat. Hamer glaubt, dass Krebs infolge ungelöster "Konflikte" auftritt – löse man diese Konflikte, verschwinde der Krebs.    Leupold hatte die Scheidung von seiner ersten Ehefrau nur schlecht verwunden – der Freund riet ihm, hier anzusetzen. Später im Laufe seiner Krankheit reiste Leupold zu Hamer, der vor der Strafverfolgung nach Norwegen geflüchtet war, und ließ sich dort von ihm persönlich diagnostizieren und behandeln. Der Krebs wucherte in seinem Körper, er nahm 20 Kilogramm ab. Nach einem Krampfanfall kam er im März 2015 auf die Palliativstation des St. Carolus-Krankenhauses in Görlitz. Auch dort besuchte ihn noch sein Freund und Berater und ermutigte Leupold mit den Worten, er sei "auf dem richtigen Weg". Auch spielte er ihm dort das Lied "Mein Studentenmädchen" vor, das Hamer komponiert hatte und von dem nach der Theorie des Ex-Arztes krebsheilende Wirkungen ausgehen sollen.    Nach einer Woche auf der Palliativstation starb Leupold. Nach Schilderungen der Tochter war kein Heilpraktiker in die Behandlung von Leupold involviert – doch die Irrlehren des Dr. Hamer werden – wie der stern-Report im aktuellen Heft 17 aufdeckt - an Heilpraktikerschulen gelehrt. Auch findet man bundesweit Heilpraktiker, die sich auf ihren Websites offen zu Hamer bekennen.  Quellen: Die Tochter des Verstorbenen Jacqueline Klaus schreibt dem stern, dass sie alles durch Unterlagen belegen kann. Ihre Schilderungen über das Sterben ihres Vaters sind seit längerem unwidersprochen bei Sekten-Info NRW eingestellt. Undercover-Besuch eines Studienkreises "Germanische Neue Medizin" sowie Teilnahme an einem Kurs in "BioLogischem Heilwissen" (ein neuerer Deckname für die „Germanische Neue Medizin) an der Heilpraktikerschule Regensburg. 
Hans-Ulrich Leupold, 67
Der selbständige Unternehmensberater, der Klassik liebte und gerne ins Theater ging, starb im Jahr 2015. Seine Tochter Jacqueline Klaus machte seine Leidensgeschichte öffentlich. Demnach tastete Leupold im Jahr 2008 einen stecknadelkopfgroßen Tumor am Hals. Er ließ ihn operativ entfernen. Die Gewebeprobe ergab eine bösartige Form von Lymphdrüsenkrebs, eine Strahlentherapie wurde empfohlen.

Zu dieser Zeit traf er einen Freund, mit dem er früher die Militärakademie besucht hatte. Der machte ihn vertraut mit den Irrlehren des mehrfach verurteilten und per Haftbefehl gesuchten Ex-Arztes Ryke Geerd Hamer, der die "Germanische Neue Medizin" erdacht hat. Hamer glaubt, dass Krebs infolge ungelöster "Konflikte" auftritt – löse man diese Konflikte, verschwinde der Krebs.

Leupold hatte die Scheidung von seiner ersten Ehefrau nur schlecht verwunden – der Freund riet ihm, hier anzusetzen. Später im Laufe seiner Krankheit reiste Leupold zu Hamer, der vor der Strafverfolgung nach Norwegen geflüchtet war, und ließ sich dort von ihm persönlich diagnostizieren und behandeln. Der Krebs wucherte in seinem Körper, er nahm 20 Kilogramm ab. Nach einem Krampfanfall kam er im März 2015 auf die Palliativstation des St. Carolus-Krankenhauses in Görlitz. Auch dort besuchte ihn noch sein Freund und Berater und ermutigte Leupold mit den Worten, er sei "auf dem richtigen Weg". Auch spielte er ihm dort das Lied "Mein Studentenmädchen" vor, das Hamer komponiert hatte und von dem nach der Theorie des Ex-Arztes krebsheilende Wirkungen ausgehen sollen.

Nach einer Woche auf der Palliativstation starb Leupold. Nach Schilderungen der Tochter war kein Heilpraktiker in die Behandlung von Leupold involviert – doch die Irrlehren des Dr. Hamer werden – wie der stern-Report im aktuellen Heft 17 aufdeckt - an Heilpraktikerschulen gelehrt. Auch findet man bundesweit Heilpraktiker, die sich auf ihren Websites offen zu Hamer bekennen.
Quellen: Die Tochter des Verstorbenen Jacqueline Klaus schreibt dem stern, dass sie alles durch Unterlagen belegen kann. Ihre Schilderungen über das Sterben ihres Vaters sind seit längerem unwidersprochen bei Sekten-Info NRW eingestellt. Undercover-Besuch eines Studienkreises "Germanische Neue Medizin" sowie Teilnahme an einem Kurs in "BioLogischem Heilwissen" (ein neuerer Deckname für die „Germanische Neue Medizin) an der Heilpraktikerschule Regensburg. 

Kein Patientenschutz

Nur selten müssen sich Heilpraktiker nach Todesfällen vor Gericht verantworten. "Es gibt eine hohe Dunkelziffer", sagt die Medizinrechtlerin Maia Steinert. Wenige entschieden sich für einen Prozess. "Patienten schämen sich, wenn sie entdecken, dass sie betrogen wurden. Sie denken, sie seien selbst schuld. Oder sie sterben im Glauben, das Richtige getan zu haben."

Der Fall Anita B. offenbart die Schwäche der deutschen Strafjustiz. Niemanden scheint zu interessieren, auf welch irrigen Annahmen die Therapien von Wolfgang Buck beruhten. Es geht nur um die Frage, ob seine Patientin länger gelebt hätte, wenn sie sich der Schulmedizin zugewandt hätte. "Das muss mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit feststehen", sagt der Sprecher der ermittelnden Staatsanwaltschaft Regensburg, Theo Ziegler. Krebs aber passt nicht in dieses starre Schema, die Krankheit nimmt mitunter unvorhersehbare Verläufe. So bezweifelte der erste Fachgutachter, ob Anita B. wirklich länger gelebt hätte. Er hatte entscheidende Befunde gar nicht zu Gesicht bekommen. Die Staatsanwaltschaft wollte ihre Ermittlungen einstellen. Ernst Maiditsch, Rechtsanwalt des Witwers, bestellte ein Zweitgutachten, das dem stern vorliegt. Zwei Onkologen kamen nun zu dem Schluss, dass Anita B.s Heilungschancen zum Zeitpunkt der Diag­nose höchstwahrscheinlich bei 93 bis 99 Prozent lagen.

Es gibt keine Fachdiskussion mehr darüber, ob in Fällen wie dem von Anita B. eine Operation angebracht wäre oder nicht – Brustkrebs und manche andere Krebsarten (Darm, Hoden, bestimmte Formen von Blutkrebs) weisen in Frühstadien derart beeindruckende Heilungsraten auf, dass Juristen schnell zu klaren Urteilen gelangen müssten. Das Amtsgericht Kelheim aber ist sich immer noch nicht sicher und sucht seit neun Monaten nach einem Obergutachter. "Mein Mandant ist fassungslos, er überlegt aufzugeben", sagt Maiditsch. "Aber wenn der Prozess mit einem Freispruch endet, wären mittlerweile 40 000 Euro Kosten aufgelaufen." Mit anderen Worten: Er hat eigentlich keine Wahl. Vier Jahre nach dem Tod von Anita B. pendelt Wolfgang Buck immer noch Krebsdiagnosen aus. Selbst wenn er weiterhin nachweislich Menschen von lebensrettenden Operationen abriete, wäre das nicht strafrechtlich relevant. "Fahrlässigkeitsdelikte sind nicht im Versuch strafbar", sagt Oberstaatsanwalt Ziegler. Ansonsten gelte bis zum Urteil die Unschuldsvermutung. Müsste also erst ein zweiter Patient sterben? Präventiv im Sinne des Patientenschutzes könnte das zuständige Gesundheitsamt handeln, dem die Anklageschrift vorliegt, sagt Ziegler. Eine stern-Anfrage dort blieb mit Hinweis auf das laufende Verfahren unbeantwortet.

Ärzte fürchten ernst zu nehmende Konkurrenz

Bislang sind nur kosmetische Änderungen am Heilpraktikergesetz geplant: So sollen Berufsanwärter künftig bundesweit nach einheitlichen, verpflichtenden Leitlinien überprüft werden. Als Reaktion haben zum Teil einflussreiche Gesundheitsexperten eine Arbeitsgruppe gebildet, die an weitreichenden Reformen arbeitet. Öffentlich äußern möchte sich niemand. Denn das Klima ist aggressiv, großer Widerstand kommt auch von Ärztevertretern. Die wollen nicht, dass ein aufgewerteter Heilpraktiker zur ernst zu nehmenden Konkurrenz wird. Außerdem überschreiten sie vielfach ebenfalls die Grenzen wissenschaftlich fundierter Medizin und verdienen damit große Summen. Gesetzesänderungen könnten ihre Freiheit beschneiden.

Dass viele der 45.000 Heilpraktiker in Deutschland seriös arbeiten, dafür gibt es zahllose Beispiele. Der Besuch bei Wolfgang Buck endet dagegen mit einem Schock. Nachdem er die Brust der vermeintlichen Patientin ausgependelt hat, stellt er zwar den schriftlichen Krebsbefund nicht infrage (dass er nur fingiert ist, hatte er beim Auspendeln nicht festgestellt). Er sagt jedoch: "Wir können das medikamentös lösen. Sie müssen mir nur versprechen, zur Kontrolle zu kommen." Wir bekommen ein Rezept – 14 naturheilkundliche Mittel, geschätzte Kosten laut Buck etwa 300 Euro im Monat. Er hat es wieder getan.

STERN Nr. 17/2017

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