Ein kleiner, beleibter Mann in langem Arztkittel öffnet die Tür. Breite Nase, volles braunes Haar, warmherziges Lächeln. "Bitte sehr, die Praxis ist im Untergeschoss."
Wolfgang Buck [Name von der Redaktion geändert], 66 Jahre alt, Heilpraktiker, bittet zur Behandlung. Das weiße Einfamilienhaus in Franken mit dem neuen Zwölfzylinder-BMW vor der Garage scheint seinen beruflichen Erfolg zu bezeugen. Doch Buck muss sich vor Gericht verantworten. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.
Am Telefon haben wir uns als Paar ausgegeben. Bei meiner Frau sei Brustkrebs diagnostiziert worden. Sie reicht ihm den Fake-Befund einer Gewebeprobe, den er aufmerksam studiert. Die fiktive Geschwulst ist sehr bösartig. Aber auch so klein, dass eine Therapie nach den von Krebs-Experten entwickelten medizinischen Leitlinien 95 Prozent der Patientinnen dauerhaft heilen würde. "Meine eigenen Diagnosemethoden sind manchmal aussagekräftiger", sagt Wolfgang Buck – und zückt eine Rute aus glänzendem Stahl mit langer, schwingender Antenne.
Mit geschlossenen Augen hält der Heilpraktiker den sogenannten Biotensor über die Brust der Patientin. Er stelle dem Instrument Fragen zu "Energiedefiziten", und der Tensor gebe die Antwort, erklärt er. Mal schwingt die Antenne von oben nach unten (was "nein" heiße), mal oszilliert sie von links nach rechts ("ja"). Ab und zu zuckt seine Hand, dann schwingt der Tensor stärker.
Heilpraktiker brauchen überhaupt keine Ausbildung
Wir wollen herausfinden, ob Wolfgang Buck uns genauso beraten wird wie vor einigen Jahren die Kärntnerin Anita B. Auch sie hatte Brustkrebs im Frühstadium und legte ihre Befunde dem Heilpraktiker vor. Er pendelte eine "Milchdrüsenentzündung" aus – und behandelte seine Patientin mit pflanzlichen und homöopathischen Medikamenten. Der Krebs wucherte, er brach durch die Haut, Metastasen breiteten sich im ganzen Körper aus. Am 28. April 2013 starb die Mutter einer kleinen Tochter. Ihr Mann zeigte Wolfgang Buck an.
Das Heilpraktikergesetz, das im Jahr 1939 in Kraft trat, gewährt schier grenzenlose diagnostische und therapeutische Freiheiten und schützt Patienten nicht vor lebensgefährlicher Scharlatanerie. Eine Laxheit, die angesichts von Skandalen wie den Todesfällen im niederrheinischen Brüggen-Bracht nicht mehr zeitgemäß ist: Der überregional bekannte Heilpraktiker Klaus R. hatte Krebspatienten eine nicht nach dem Arzneimittelgesetz zugelassene Chemikalie per Infusion verabreicht. Drei Menschen starben innerhalb von vier Tagen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Ob Anklage erhoben werden kann, ist ungewiss.
Denn eines ist jetzt bereits klar: Anmischen und verabreichen durfte R. das Mittel, das die für Medikamente vorgeschriebenen aufwendigen Prüfungen nie durchlaufen hat. Heilpraktikern nämlich ist unfassbar viel erlaubt: Ohne Fachkundenachweis dürfen sie mit spitzer Nadel akupunktieren, Krankheiten diagnostizieren oder auch gefährliche Manipulationen an der Halswirbelsäule vornehmen. Sie brauchen überhaupt keine Ausbildung. Das Einzige, was das alte Gesetz verlangt, ist: Angehende Heilpraktiker müssen einen Test über elementare Medizinkenntnisse beim Gesundheitsamt absolvieren. Der Test soll der "Gefahrenabwehr" dienen. Niemand fragt, ob die Kandidaten je einen Patienten gesehen haben. Niemand entdeckt, wenn sie heimlich einem gefährlichen Irrglauben anhängen und die "Schulmedizin" selbst bei lebensbedrohlichen Krankheiten ablehnen.
Heilpraktikerverbände: Patientenschutz gewährleistet
Nach der Todesserie von Bracht gelobte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), das Heilpraktikergesetz zu überprüfen. Barbara Steffens (Bündnis 90/Die Grünen), die Gesundheitsministerin von Nordrhein-Westfalen, forderte eine "staatlich kontrollierte, strukturierte Ausbildung". Unsinn, das würde den Beruf nur aufwerten, konterte der SPD-Experte Karl Lauterbach.
Die großen Heilpraktikerverbände wehren sich gegen Veränderungen. Der Patientenschutz sei durch eine Vielzahl von Vorschriften gewährleistet. Doch die Kontrollen reichen nicht aus. An Heilpraktikerschulen werden lebensbedrohliche Irrlehren verbreitet. Auf Alternativmedizin-Messen kann man unkontrolliert gefährliche Wunderheilmittel kaufen. Selbst nach Todesfällen können Scharlatane kaum zur Verantwortung gezogen werden. Patientenschutz? Fehlanzeige.
Fatale Diagnosemethoden
Am ersten Verhandlungstag fragt der Richter, so ein Prozessbeobachter, den Heilpraktiker Wolfgang Buck, ob er im 21. Jahrhundert wirklich noch an das „Auspendeln“ glaube. „Das Gerät gibt Aufschluss über körpereigene Energien“, antwortet Wolfgang Buck vieldeutig.
Das Hantieren mit dem Antennenstab ist nicht das einzige Verfahren, mit dem sich Heilpraktiker an die Diagnose schwerer Krankheiten wagen. Weit verbreitet ist auch die „Dunkelfeldmikroskopie des Blutes nach Enderlein“, mit der man angeblich Krebs im Frühstadium erkennen kann. Die Gynäkologen Karsten Münstedt und Samer El-Safadi überprüften die Methode an 110 Probanden in der Uniklinik Gießen, zwölf von ihnen litten an fortgeschrittenen Krebserkrankungen. Ein Heilpraktiker mit besten Referenzen entdeckte gerade mal drei davon, darüber hinaus stellte er bei 15 gesunden Probanden die Diagnose Krebs. "Das entspricht in etwa der Ratewahrscheinlichkeit", resümiert El-Safadi.
Auch in der Iris, der Regenbogenhaut des Auges, sollen sich schwere Krankheiten als Streifen, Ringe oder Pigmentflecken niederschlagen. Die beiden Ärzte luden einen versierten Irisdiagnostiker ein, seine Fähigkeiten an den 110 Versuchspersonen zu beweisen. Obwohl der Heilpraktiker behauptete, Krebs durch einen Blick in die Augen feststellen zu können, lag er meist daneben.
Alternativmediziner, die solchen Diagnosemethoden vertrauen, erleben täglich eklatante Widersprüche zwischen ihrer Sicht der Dinge und schulmedizinischen Befunden. Doch wie viele gehen deshalb so weit wie Wolfgang Buck? Heilpraktikerverbände sprechen von "Einzelfällen". Aber Gynäkologen, die der stern befragte, kennen alle solche Geschichten. Allein am Klinikum rechts der Isar tauche jeden Monat eine Frau auf, deren Brustkrebsbehandlung durch Alternativheiler verschleppt worden sei, sagt die Chefärztin Marion Kiechle. Wer bei Google mit Begriffen wie „Krebs alternativ heilen“ nach Therapeuten sucht, landet in mehr als der Hälfte der Fälle bei Heilpraktikern und Ärzten, die schulmedizinische Krebsdiagnosen falsch werten und die vorgeschlagenen Therapien überflüssig finden, so das Ergebnis einer stern-Recherche vor drei Jahren.
Irrglauben und Irrlehren
Die Arroganz, sich über das medizinische Wissen hinwegzusetzen, ist eine Haltung, die Heilpraktiker häufig von ihren Lehrern übernehmen. So erlebte es die Buchautorin Anousch Mueller ["(Un)Heilpraktiker", Riemann Verlag, 2016], die zwei Jahre die Paracelsus Heilpraktikerschule in Berlin besuchte – Teil einer internationalen Kette mit 54 Dependancen in Deutschland und laut Eigenwerbung die Nummer eins in Europa. Vormittags lernte Mueller Anatomie, Physiologie und Krankheitslehre. Nachmittags wurde in Fächern wie Homöopathie, Bioresonanz und Irisdiagnostik ihr frisch erworbenes Wissen über den Haufen geworfen. Zweifel kamen Mueller, weil ihre Dozenten gefährliche Verschwörungstheorien verbreiteten. "Viele propagieren die Schulmedizin als Feindbild", sagt sie. So lernte sie, man solle Diabetes bei Kindern keinesfalls vorschnell mit Insulin behandeln, Globuli könnten die Erkrankung verhindern – ein Rat, der Leben kosten kann. Nahezu alle Dozenten seien Impfgegner, sagt Mueller. Viele lehnten auch die wissenschaftlich begründete Behandlung von Krebs ab. Verbreitet sei die Idee der "Krebsschuld" durch ungesunde Lebensweise oder ungelöste Konflikte. Die Geschäftsleitung der Schule weist den Vorwurf, die Schulmedizin feindlich zu behandeln, zurück. Naturheilkunde könne bei Krebsbehandlungen nur unterstützen, jedoch keinen Krebs heilen.
Auch eine der abstrusesten Ideologien der vergangenen Jahrzehnte hat Einzug gehalten in die Ausbildung, so an der Heilpraktikerschule Regensburg. Die residiert in einem frisch renovierten Gründerzeitbau in bester Innenstadtlage, mittags können sich die Schüler im Stadtpark die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen. Mitte März steht ein Kurs über die Entstehung von Krebs auf dem Plan. Die Dozentin Edeltraud Fischer-Graf ist eine elegante Frau um die 50 mit grauen kurzen Haaren, Silberohrringen und Wolljacke. Bei Tee und Nüssen erklärt sie ihren Schülern, dass Krebs ein "biologisch sinnvolles Sonderprogramm" des Körpers sei, das der Mensch aus der Urzeit mitgebracht habe. Die Krankheit werde durch spezifische Konfliktsituationen im Leben verursacht – löse man sie, verschwinde auch der Tumor. Greife man frühzeitig durch eine Operation ein, gefährde man den Selbstheilungsprozess. Neben ihrer Praxis- und Lehrtätigkeit fungiert die Frau als stellvertretende Geschäftsführerin des CSU-Kreisverbands Amberg-Sulzbach. Sie trägt ihre Ideen auch auf gesundheitspolitischen Lokalveranstaltungen vor.
Ein größenwahnsinniger Ex-Arzt
Die Ideologie dahinter stammt vom Darth Vader der Alternativmedizin, dem Antisemiten und ehemaligen Arzt Ryke Geerd Hamer. Erdacht hat er seine Heilslehre in den frühen 80er Jahren. Er taufte sie "Germanische Neue Medizin". 99 Prozent seiner Krebspatienten will Hamer durch Konfliktlösung geheilt haben. Operationen und Chemotherapie lehnt er radikal ab, je nach Quelle soll es 80 bis 500 gerichtsbekannte Todesfälle geben. Menschen, die länger hätten leben können, wenn sie nicht seiner Irrlehre vertraut hätten. Der Arzt verlor seine Approbation, praktizierte illegal weiter, saß öfter im Gefängnis. Es stehen mehrere Haftbefehle gegen ihn aus, denen er sich durch Flucht nach Norwegen entzogen hat. Aus dem Exil verbreitet der heute 81-Jährige seine abstrusen Lügen weiter: In Israel würde sich niemand mehr einer Chemotherapie unterziehen, weil die Juden seine Heilslehre längst akzeptiert hätten.
Der Heilpraktiker Rainer Körner ist ein jüngerer Vordenker der Hamer-Szene. Der Mann hat ein Lehrbuch "Biologisches Heilwissen“ geschrieben und verkauft am bayerischen Walchensee Vier-Tages-Blockkurse für 980 Euro. Mit einer "Bildungsprämie" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zahlt man sogar nur die Hälfte. "Wenn Sie alle drei Blöcke besuchen, wissen Sie schon fast alles, um eine Praxis zu eröffnen", sagt Körner am Telefon. Um den smarten Lehrer hat sich eine "Interessengemeinschaft" gebildet, die sich offen zu Hamer bekennt – darunter die beiden Leiter der Heilpraktikerschule Regensburg, die die Ausbildung in den Geist des größenwahnsinnigen Ex-Arztes und seines Adepten gestellt haben. Auf Nachfrage des stern weisen die Schule sowie die Dozentin Fischer-Graf den Antisemitismus-Vorwurf zurück. Auch befürworte man "rechtzeitige" Operationen und medikamentöse Behandlungen.
Ideologie wie für Fake-News-Zeiten gemacht
Es ist eine Ideologie wie gemacht für das Fake-News-anfällige Internet. Dort sind Hamers teils noch sehr junge Anhänger aktiv und verbreiten die Lehre auch unter anderen Decknamen wie "Fünf Biologische Naturgesetze" oder "Metamedizin". Auf Youtube finden sich Vorträge von Esoterikmessen, gehalten vor Hunderten von Zuhörern. Eine Vier-Stunden-"Dokumentation" über "die dritte Revolution der Medizin" bringt es auf fast drei Millionen Klicks. Auch Scientologen propagieren die "Germanische Neue Medizin" über ein der religiösen Bewegung nahestehendes Organ, die Kent-Depesche.
"Diese Entwicklung im Netz ist besorgniserregend“, sagt Sabine Riede, Geschäftsführerin von Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V. "Da finden sich gerade Randgruppen zusammen, die eines eint: der Hass auf den Staat." Und zusammen werden sie stärker. Da Heilpraktikerschulen zudem private Einrichtungen sind, haben staatliche Stellen keinen Einblick in und keinen Einfluss auf die Inhalte, die dort gelehrt werden, so das zuständige bayerische Gesundheitsministerium. Man erwäge jedoch, aufgrund der stern-Recherchen einen aktuellen Hinweis an die Heilpraktikerverbände und die zuständigen Behörden zu geben. Christian Wilms, Vorsitzender des Dachverbands Deutscher Heilpraktiker DDH, ist entsetzt, als er von den Irrlehrern hört. Er räumt aber ein: "Heilpraktikerschulen sind völlig frei in der Gestaltung ihres Unterrichtsstoffs."
Gefährliche Wundermittel
Eine Grenze ist dem Walten von Heilpraktikern gesetzt: Sie dürfen keine verschreibungspflichtigen Medikamente geben. Doch nun wird es verrückt: Sogar womöglich gefährliche Substanzen, die nicht den Status einer Arznei haben, dürfen sie in die Adern ihrer Patienten fließen lassen – so wie der Heilpraktiker Klaus R., nach dessen Behandlung sich die Todesserie in Bracht ereignete. "Das zu hören hat mich sehr schockiert", sagt die Belgierin Françoise Goedhuys, Ehefrau des verstorbenen Opfers Leentje C.. Im vergangenen Dezember war sie ein zweites Mal bei der Staatsanwaltschaft, sechs Stunden Anhörung, die gleichen Fragen wie beim ersten Mal. "Ich kann nicht verstehen, wie drei Menschen sterben können, und neun Monate später gibt es keine Ergebnisse. Nie hätte ich gedacht, dass so was in Deutschland möglich ist."
Die Chemikalie 3-Bromopyruvat, an der Leentje C. mutmaßlich starb, soll theoretisch verhindern, dass Krebszellen Zucker aufnehmen. Umschlagplatz für das Geheimwissen um solche Wundermittel sind Alternativmedizin- und Esoterikmessen, die in ganz Deutschland stattfinden. So schieben sich etwa auf der Paracelsus-Messe Anfang März im hessischen Wallau mehr als 20.000 Besucher an drei Tagen durch die Hallen. Der Duft von ätherischen Ölen liegt in der Luft, Gongschläge locken die Menschen zur kostenlosen Klangschalenmassage, für 15 Euro bekommt man ein "Aura-Foto" in Polaroid-Qualität mit lila Wolke über dem Kopf, für 30 Euro wird der "Bio-Scan" angeboten – man umgreift dafür einen Metallstab, der mit einem Computer verbunden ist und in nur 90 Sekunden alle Organsysteme des Körpers durchcheckt. Das klingt fast so perfekt wie der Tricorder von Dr. McCoy aus "Raumschiff Enterprise". Viele Naturheilmittelhersteller sind vertreten, auch die Burg-Apotheke aus dem hessischen Königstein im Taunus. "3-Bromopyruvat haben wir seit den ungeklärten Todesfällen nicht mehr im Angebot", sagt eine Standmitarbeiterin. "Aber es gibt ja viele andere interessante Produkte für die Krebstherapie." Sie weist auf eine Reihe von Fläschchen in einer Glasvitrine, darunter eine Substanz, die das Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) vor drei Jahren als "bedenklich" einstufte: Amygdalin. Die Substanz setzt im Körper Blausäure frei. Patienten, die sie verabreicht bekamen, erlitten schwere Bauchkrämpfe, Nervenschäden und sanken ins Koma, auch Todesfälle gab es. Weder Ärzte noch Heilpraktiker dürfen Amygdalin verschreiben.
Der Veranstalter der Messe sagt gegenüber dem stern, dass man die Vorkommnisse bedaure. Rechtlich verantwortlich seien jedoch die Aussteller. Doch der Rechtsweg, den Verkauf zu verbieten, ist kompliziert. Die Aufsichtsbehörden der Bundesländer müssten aktiv werden, sagt Maik Pommer, Sprecher des BfArM.
BDH: "Wir haben das nicht gemerkt"
Auch das Wundermittel MMS ist als "bedenklich" eingestuft. Der greise US-Ingenieur und Sektengründer Jim Humble will damit mehr als 100.000 Menschen weltweit von Krebs, Aids, Autismus und Malaria geheilt haben. Auf der Paracelsus-Messe wirbt ein überlebensgroßes Plakat mit dem Konterfei des Gurus – weiße Haare, weißer Cowboyhut, weißes Hemd. Es hängt am Stand des Jim Humble Verlags. Humble sei nicht da, sagt der Messevertreter: "Den würden sie wahrscheinlich sofort ins Gefängnis stecken."
MMS enthält die hochreaktive chemische Substanz Chlordioxid und kann zu Verätzungen der Speiseröhre, Nierenversagen sowie Atemstörungen durch Schäden an roten Blutkörperchen führen. Die Antikrebswirkung hingegen wurde nie in größeren Studien am Menschen untersucht. Wer MMS kaufen will, dem werden am Tisch des Jim Humble Verlags Internetadressen auf Zettel gekritzelt. Ulrich Sümper, Präsident des Bundes Deutscher Heilpraktiker BDH, eines Kooperationspartners der Messe, geht auf Distanz: "Wir haben das nicht gemerkt, sonst wären sofort alle roten Lampen angegangen."
Kein Patientenschutz
Nur selten müssen sich Heilpraktiker nach Todesfällen vor Gericht verantworten. "Es gibt eine hohe Dunkelziffer", sagt die Medizinrechtlerin Maia Steinert. Wenige entschieden sich für einen Prozess. "Patienten schämen sich, wenn sie entdecken, dass sie betrogen wurden. Sie denken, sie seien selbst schuld. Oder sie sterben im Glauben, das Richtige getan zu haben."
Der Fall Anita B. offenbart die Schwäche der deutschen Strafjustiz. Niemanden scheint zu interessieren, auf welch irrigen Annahmen die Therapien von Wolfgang Buck beruhten. Es geht nur um die Frage, ob seine Patientin länger gelebt hätte, wenn sie sich der Schulmedizin zugewandt hätte. "Das muss mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit feststehen", sagt der Sprecher der ermittelnden Staatsanwaltschaft Regensburg, Theo Ziegler. Krebs aber passt nicht in dieses starre Schema, die Krankheit nimmt mitunter unvorhersehbare Verläufe. So bezweifelte der erste Fachgutachter, ob Anita B. wirklich länger gelebt hätte. Er hatte entscheidende Befunde gar nicht zu Gesicht bekommen. Die Staatsanwaltschaft wollte ihre Ermittlungen einstellen. Ernst Maiditsch, Rechtsanwalt des Witwers, bestellte ein Zweitgutachten, das dem stern vorliegt. Zwei Onkologen kamen nun zu dem Schluss, dass Anita B.s Heilungschancen zum Zeitpunkt der Diagnose höchstwahrscheinlich bei 93 bis 99 Prozent lagen.
Es gibt keine Fachdiskussion mehr darüber, ob in Fällen wie dem von Anita B. eine Operation angebracht wäre oder nicht – Brustkrebs und manche andere Krebsarten (Darm, Hoden, bestimmte Formen von Blutkrebs) weisen in Frühstadien derart beeindruckende Heilungsraten auf, dass Juristen schnell zu klaren Urteilen gelangen müssten. Das Amtsgericht Kelheim aber ist sich immer noch nicht sicher und sucht seit neun Monaten nach einem Obergutachter. "Mein Mandant ist fassungslos, er überlegt aufzugeben", sagt Maiditsch. "Aber wenn der Prozess mit einem Freispruch endet, wären mittlerweile 40 000 Euro Kosten aufgelaufen." Mit anderen Worten: Er hat eigentlich keine Wahl. Vier Jahre nach dem Tod von Anita B. pendelt Wolfgang Buck immer noch Krebsdiagnosen aus. Selbst wenn er weiterhin nachweislich Menschen von lebensrettenden Operationen abriete, wäre das nicht strafrechtlich relevant. "Fahrlässigkeitsdelikte sind nicht im Versuch strafbar", sagt Oberstaatsanwalt Ziegler. Ansonsten gelte bis zum Urteil die Unschuldsvermutung. Müsste also erst ein zweiter Patient sterben? Präventiv im Sinne des Patientenschutzes könnte das zuständige Gesundheitsamt handeln, dem die Anklageschrift vorliegt, sagt Ziegler. Eine stern-Anfrage dort blieb mit Hinweis auf das laufende Verfahren unbeantwortet.
Ärzte fürchten ernst zu nehmende Konkurrenz
Bislang sind nur kosmetische Änderungen am Heilpraktikergesetz geplant: So sollen Berufsanwärter künftig bundesweit nach einheitlichen, verpflichtenden Leitlinien überprüft werden. Als Reaktion haben zum Teil einflussreiche Gesundheitsexperten eine Arbeitsgruppe gebildet, die an weitreichenden Reformen arbeitet. Öffentlich äußern möchte sich niemand. Denn das Klima ist aggressiv, großer Widerstand kommt auch von Ärztevertretern. Die wollen nicht, dass ein aufgewerteter Heilpraktiker zur ernst zu nehmenden Konkurrenz wird. Außerdem überschreiten sie vielfach ebenfalls die Grenzen wissenschaftlich fundierter Medizin und verdienen damit große Summen. Gesetzesänderungen könnten ihre Freiheit beschneiden.
Dass viele der 45.000 Heilpraktiker in Deutschland seriös arbeiten, dafür gibt es zahllose Beispiele. Der Besuch bei Wolfgang Buck endet dagegen mit einem Schock. Nachdem er die Brust der vermeintlichen Patientin ausgependelt hat, stellt er zwar den schriftlichen Krebsbefund nicht infrage (dass er nur fingiert ist, hatte er beim Auspendeln nicht festgestellt). Er sagt jedoch: "Wir können das medikamentös lösen. Sie müssen mir nur versprechen, zur Kontrolle zu kommen." Wir bekommen ein Rezept – 14 naturheilkundliche Mittel, geschätzte Kosten laut Buck etwa 300 Euro im Monat. Er hat es wieder getan.