Morgenkommentar am 23. März 2017

Der diesjährige European Song Contest (ESC), lange bekannt als Grand Prix Eurovision de la Chanson, findet in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ohne die von Russland nominierte Kandidatin Julia Samoilowa statt. Die an den Rollstuhl gefesselte Sängerin, die mit ihrem Lied “Flame is burning” schon bei der Eröffnung der olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 auftgetreten war, wurde jetzt von der Kiewer Regierung mit einem dreijährigen Einreiseverbot belegt. Im Juni 2015 hatte sie auf der Krim ein Konzert gegeben. Dorthin war sie nicht über die Ukraine, sondern direkt aus Russland eingereist – was nach ukrainischer Rechtsprechung streng verboten ist.

Im Licht der internationalen Mehrheitsmeinung gehört die Krim zur Ukraine. Die unblutige Sezession und der Volksentscheid der mehrheitlich russischstämmigen Krimbevölkerung werden als Bruch des Völkerrechts interpretiert. Die von Russland getragene Minderheitsmeinung betont naturgemäß das Gegenteil.

Gleichzeitig bestätigt die Causa Krim eine alte Juristenweisheit: Besitz ist neun Zehntel des Rechts. Fakt ist jedenfalls, dass die Krim seit zwei Jahren von Russland regiert wird. Fiktion ist, dass sie trotzdem zur Ukraine gehört. Die Fiktion bestimmt die ukrainische und die westliche Politik – der Fakt bestimmt den Alltag. Hunderttausende Russen reisen wie Julia Samoilowa auf die Krim und retour, inzwischen auch viele ausländische Geschäftsleute, Journalisten, Politiker und Touristen.

Was Samoloiwas Einreiseverbot betrifft, gibt es daher zwei Meinungen. Recht geschieht’s, sagen die einen. Die anderen: Kiew ist den Russen in die Falle getappt.

Für den European Song Contest ist es bei weitem nicht der erste politische Skandal. Auch wenn der Wettbewerb das Format mit der wohl größten europäischen Reichweite ist – ein wirklich “geeintes” ESC-Europa gab es noch nie. In irgendeinem Winkel des Kontinents schwärt immer ein Konflikt. Oder zwei oder drei. Oder Conchita Wurst gefällt den Türken nicht. Schon im letzten Jahr hatten die Ukrainer einen politischen Bezug hergestellt, als sie die Krimtatarin Jamala mit “1944” ins Rennen schickten – einer Erinnerung an die Deportation ihres Volks durch die damalige Sowjetregierung.

Derzeit werden Wetten angenommen, ob die Russen einen neuen Kandidaten benennen. Anderenfalls wäre es nicht der erste Boykott. 1969 verweigerte sich sogar Österreich dem Wettbewerb. Der fand damals in Madrid statt, und Grund war der Protest gegen das Franco-Regime. Nimmt man die Faschismusvorwürfe gegen die Ukraine in den russischen Medien als Richtschnur, so könnte Moskau sein Fernbleiben durchaus ähnlich legitimieren.