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Ein Vierteljahr im Kino Sie können nicht aufhören, doch aufhören müssen sie

Verkrustete Strukturen, überalterte Führungsriegen: Die deutschen Filmfestivals stecken in der Krise. An manchen Orten zeichnet sich ein Wechsel ab - nur natürlich nicht da, wo er am nötigsten wäre.
Der rote Teppich auf der Berlinale

Der rote Teppich auf der Berlinale

Foto: Arno Burgi/ dpa

Wann ist genug wirklich mal genug? Berlinale-Direktor Dieter Kosslick hat seine Überlegungen öffentlich gemacht , auch im nächsten Jahrzehnt noch amtieren zu wollen. Sein aktueller Vertrag an der Spitze des Festivals läuft Mitte 2019 aus - zu dem Zeitpunkt wird Kosslick 18 Jahre lang in dieser Position und 71 Jahre alt sein. Einen Grund dafür, den Ruhestand weiter aufzuschieben, hat Kosslick ebenfalls genannt. Bereits 2019 dürfte die Berlinale sich ein neues Zuhause suchen müssen: Das ehemalige Musicaltheater, das sich jedes Jahr im Februar in den "Berlinale Palast" verwandelt, steht dann womöglich nicht mehr zur Verfügung.

Einen "Handlungsbedarf" nennt man das in der Politik. Für den hat der Politikflüsterer Kosslick auch einen "Lösungsansatz": Ein neues Filmhaus, gebaut neben dem Martin-Gropius-Bau in Berlin-Mitte. Positiv verpackt kommt der in die Zukunft gerichtete Blick im Interview mit dem "Tagesspiegel" ganz am Schluss: "Mein Vertrag läuft jetzt bis 2019, aber da wäre ich gern noch dabei." Manche Sätze muss man mehrmals lesen, um sie in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Jetzt bis. Noch dabei. Vom tatsächlichen "Handlungsbedarf" bei der Berlinale, ein kuratorisches Konzept zu entwickeln, um internationale Anerkennung und interessantere Filmemacherinnen und Filmemacher für den Wettbewerb zurückzugewinnen, natürlich keine Rede.

Immerhin ist nun amtlich, wofür es schon lange Indizien gab: Dass Dieter Kosslick viel für die zahlenmäßige Präsenz des deutschen Kinos auf der Berlinale getan habe, ist eine Mär. Eine Münchner Studie hat jetzt offenbart , dass sich die Anzahl deutscher Filme in den Hauptreihen im Vergleich zur Amtszeit seines oft kritisierten Vorgängers Moritz de Hadeln prozentual reduziert hat (von früher 4,73 Prozent zu 3,67 Prozent unter Kosslick). Im Panorama, der großen Nebenreihe, hat sogar die absolute Zahl deutscher Beiträge abgenommen. Der Vollständigkeit halber sei aber auch die Erhöhung im Wettbewerb genannt: von 2,73 deutschen Beiträge zu jetzt 2,93. Kleinvieh macht auch, ja, klar.…

Kommt sie nach Kosslick?

Das wird flankiert von der ohnehin viel dramatischeren Tatsache, wie viele der aufregendsten deutschen Filme jedes Jahr von der Berlinale abgelehnt werden - oder es dort erst gar nicht probieren. Man denke nur an "Wild", "Der Nachtmahr", "Uns geht es gut", "Lass den Sommer nie wieder kommen", "Fado", "Die Lügen der Sieger" oder "Salt and Fire". Vielleicht Zeit, sich ausnahmsweise ein Vorbild an Toronto zu nehmen, dem anderen großen, international bedeutsamen Publikumsfestival: Premierensucht in den Nebenreihen weg - und Verschlankung des Programms um 20 Prozent!

Solch "radikale" Entscheidungen werden mit Kosslick und seinem routinierten Team nicht zu machen sein. Was aber, wenn sich die Politik einmal gegen Kosslick entscheiden sollte? Gerüchte gibt es viele, aber bisher nur wenig Fakten: Gleichzeitig mit Kosslicks Vertrag endet auch der von Kirsten Niehuus als Geschäftsführerin beim Medienboard Berlin-Brandenburg. Sollte sich bewahrheiten, was zuletzt immer mehr Spatzen vom Dach riefen, es wäre nicht das erste Mal, dass in Deutschland Förder- mit Filmexpertise verwechselt würde.

Die Geschäftsführerin des Medienboard Berlin Brandenburg

Die Geschäftsführerin des Medienboard Berlin Brandenburg

Foto: imago/ Jürgen Heinrich

Kosslick war ja selbst zuvor Leiter einer Förderanstalt, nämlich der in NRW. Vielleicht sprechen die Gerüchte aber auch nur für die so typische Apokalypse-Sehnsucht der deutschen Filmbranche: Immerhin werden keine anderen Förderleiter- oder Förderleiterinnen als Kandidaten genannt. Dabei tun sich doch manche mit deutlich mehr Fingerspitzengefühlt und Filmkenntnis hervor, als das in Berlin der Fall ist.

Jungsein ist auch keine Lösung

Aber das ist viel zu klein gedacht. Es ist ganz allgemein Zeit für eine Wende in der Filmfestivalpolitik in Deutschland - und die Gelegenheit könnte sich dafür mit einer Reihe an Neubesetzungen tatsächlich schneller ergeben als gedacht. Beim ehemals renommierten Filmfestival Mannheim-Heidelberg, das trotz eines vergleichsweise ordentlichen Budgets seit Jahren von der Weltkarte der Festivals nahezu verschwunden ist, erbarmt sich der seit 1991 amtierende Leiter Michael Kötz, es allmählich abzugeben. In Hof hatte Festivalgründer Heinz Badewitz, der 2016 verstarb, eine Amtsübergabe offensichtlich nicht vorbereitet: Im 50. Jubiläumsjahr wurden die Hofer Filmtage kommissarisch kuratiert, über eine Nachfolge wird aktuell - natürlich intern - verhandelt.

Einstweilen hat in Saarbrücken im Januar eine neue, gerade einmal 28-jährige Leiterin ihre erste Festivalausgabe bestritten. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass angesichts der Überalterung der Filmfestivals eine radikale Verjüngung nicht immer die richtige Antwort ist: Eine Vision für den angeschlagenen Max-Ophüls-Preis hat sie nicht entwickelt. Stattdessen betont sie in Interviews, dass am Wettbewerb nichts zu ändern sei und alle ihre Entscheidungen im (unveränderten) Team vorbereitet würden. Das klingt angenehm bescheiden - und gefährlich genügsam.

Die schönen Ausnahmen

Ein Beispiel müsste man sich nehmen an den positiven Entwicklungen der vergangenen Jahre: Beim Filmfest München, jahrelang als altbackenes Branchenevent verschrien, hat in der Programmgestaltung eine neue Generation übernommen und einen dezidiert cinephilen Blick mit einer großen Offenheit für Experimente eingebracht. Das Filmfest Hamburg hat von Jahr zu Jahr eine bessere Auswahl, und ein relativ junges Festival wie "Around the World in 14 Films" bringt einige der schönsten Produktionen von Cannes, Venedig und Locarno in die deutsche Hauptstadt, was nötig ist, weil sie es allzu oft nicht mehr regulär in die Kinos schaffen.

Doch die allermeisten Filmfestivals in Deutschland sind in einem desolaten Zustand. Finanziell schlecht ausgestattet, fast überall unter massivem Druck, Standortinteressen zu erfüllen, personell unterbesetzt und künstlerisch viel zu oft auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Festivals könnten Bastionen eines künstlerischen Begriffs von Film sein, dabei sorgen die Umstände dafür, dass sie besonders anfällig sind für Korruption, oder, ähnlich schlimm: vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Mächtigen der Branche.

Ausbeutung trifft Selbstausbeutung

Das größte Problem: Wie prekär Festivals als Unternehmen sind. Das gilt selbst für die Berlinale, bei der, wie auch anderswo, die wenigsten Mitarbeiter das ganze Jahr über fest angestellt sind. Die Initiative "Festivalarbeit gerecht gestalten"  hat sich dafür erstmals im November bei DOK Leipzig und nun zum zweiten Mal während der Berlinale zu großen Treffen zusammen gefunden. Ihr Anliegen: Aufmerksamkeit zu schaffen für die Rolle von Festivals als Auftrag- und Arbeitgeber.

Die grenzwertigen Umstände, unter denen die allermeisten Stellen besetzt werden, haben nicht nur zur Folge, dass Festivals oft von einer besser situierten Mittelschicht bestritten werden, die sich zeitweilige Einkommensausfälle leichter leisten kann. Sie provozieren auch ein großes Machtgefälle innerhalb der Branche und ein Regime der Angst um die mühselig erarbeitete Position.

Das joviale Auftreten der Berlinale-Verantwortlichen kann aufmerksamen Beobachtern nicht lange verbergen, was da im Hintergrund alles im Argen liegt. Dabei sind noch nicht einmal die überraschend strengen Hierarchien, von denen hinter vorgehaltener Hand berichtet wird, das eigentliche Problem, sondern die gleichzeitig nach innen und außen suggerierte Offenheit: Pro forma flache Hierarchien haben schließlich, das lehrt uns die postmoderne Unternehmensführung, den "Vorteil", die Verantwortung auf die einzelnen Mitarbeiter abzuwälzen und gleichzeitig unter dem Stichwort Transparenz ständige Kontrolle zu institutionalisieren.

So entsteht ein Arbeitsklima, das für Ausbeutung wie geschaffen ist, weil es darauf setzt, dass sie "freiwillig" im Namen der guten Sache - der Anerkennung oder im Zweifel auch nur ausbleibender Sanktionen - verinnerlicht wird. Ein solches System funktioniert besonders gut bei einem eingeschworenen Kernteam - und schlecht bei wechselnden, möglicherweise sogar kritischen Menschen in leitenden Positionen. Habe ich schon erwähnt, dass auch die Sektionsleiter von Panorama und Forum seit 25 respektive 17 Jahren ihre Stellung halten?

Festivals für neue Zeiten

Machtkonzentration über lange Zeiträume kann gerade in Kunst und Kultur verheerende Folgen haben. Hinzu kommt, dass sich Filmfestivals heute ohnehin verändern müssen, weil sie inzwischen eine völlig andere Rolle einnehmen als noch vor 10, geschweige denn 20 Jahren. Weil es inzwischen in Deutschland mehr als 400 Filmfestivals gibt - und sich durch die Digitalisierung das Angebot an Filmen zwar vervielfältigt, die Besucherschere aber immer weiter auseinandergeht.

Einer, der die Herausforderungen für Kinos und Festivals genau erkannt und beschrieben hat, ist selbst seit knapp 20 Jahren im Amt: Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, hat bereits 2012 über das sich wandelnde Verhältnis von Kinos und Festivals ein Buch verfasst - und befruchtet mit seinen Überlegungen die Kurzfilmtage immer wieder neu. "Film und Kunst nach dem Kino" offenbart eine unbedingte Liebe für Film, frei von Nostalgie, offen für die Zukunft - und einen gleichzeitigen unbedingten Anspruch an die sozialen und künstlerischen "Verdichtungen", die Festivals bieten sollten.

Gass sucht das Experiment, das Menschen zusammen- und weiterbringt. Dafür fordert er eine Neuaufstellung der gesamten deutschen Film- und Festivalbranche, vor allem eine angemessene Förderung der Festivals, die ihrer Funktion im fragilen Gefüge erst gerecht würde. Seine schonungslosen Reden sind inzwischen legendär, aber auch die oft eigenartigen Sonderprogramme der Kurzfilmtage dürften ruhig Schule machen.

Dieses Unbedingte, für das es sich zu kämpfen lohnt, das muss wieder in den Vordergrund, das müssen Festivals vermitteln. Das geht nicht mit Routine, aber erst recht nicht ohne Vision. Und da hilft ein neues Filmhaus nur bedingt. Nein: ab mit den alten Zöpfen!

Zum Autor
Foto: privat

Frédéric Jaeger ist Vorstandsmitglied im Verband der deutschen Filmkritik und Chefredakteur von critic.de . Als freier Autor schreibt er unter anderem für SPIEGEL ONLINE. 2015 hat er die parallel zur Berlinale stattfindende Woche der Kritik  mitgegründet und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen ein Jahr lang zu Filmpolitik gearbeitet. An dieser Stelle hält er vier Mal im Jahr Rückschau auf das vergangene Quartal in der Filmbranche .