NZZ am Sonntag

Deutschsprachige Forscher sind benachteiligt, weil das Englische alles verdrängt

Der Verlust der Sprachenvielfalt verzerre den Wettbewerb zugunsten der angelsächsischen Forscher, und er behindere den wissenschaftlichen Fortschritt. Jetzt wehren sich deutschsprachige Wissenschafter.

Andreas Hirstein
Drucken
Bibliothek des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich. (Bild: Kaiser / Caro)

Bibliothek des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich.
(Bild: Kaiser / Caro)

Die Spitzenforschung spricht Englisch», schrieb Hubert Markl, der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, vor über 30 Jahren und empfahl seinen Kollegen im deutschen Sprachraum, ihre Muttersprache zugunsten des Englischen aufzugeben: «If you can’t beat them, join them», lautete der Ratschlag des Zoologen.

Vermutlich hätte es dieses Aufrufs gar nicht bedurft. Denn zumindest in den Naturwissenschaften ist seit mindestens 1980 keine wichtige Arbeit mehr auf Deutsch erschienen. Der Bedeutungsverlust, den auch das Französische und das Russische erlitten, setzte nach dem 1. Weltkrieg ein und beschleunigte sich durch den Exodus von jüdischen Forschern im Nationalsozialismus.

Die Naturwissenschaften sprechen heute in der Tat Englisch, und die Geisteswissenschaften verlieren ebenfalls ihre im 16. Jahrhundert gegen das Lateinische erkämpfte Mehrsprachigkeit. Die Fächer, in denen deutsche Originalpublikationen noch eine bedeutende internationale Rolle spielen, lassen sich vermutlich an einer Hand abzählen.

Selbst germanistische Linguisten veröffentlichten heute zu über 80 Prozent auf Englisch, vermutet Ulrich Ammon, Autor des Standardwerks «Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt». Sogar die Geisteswissenschaften entwickeln sich demnach zu einer einsprachigen Kommunikationsgemeinschaft.

Wer sich als Wissenschafter diesem Trend entzieht, verzichtet auf Ansehen, Positionen und Fördermittel, weil die auf Deutsch oder Französisch publizierten Arbeiten international nicht mehr gelesen werden und in der auf Rankings fixierten Wissenschaftsfinanzierung bedeutungslos sind. Auch Anträge bei den nationalen Förderinstituten müssen häufig auf Englisch abgefasst sein.

Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) macht nur noch für die Geistes- und Sozialwissenschaften eine Ausnahme, sie dürfen ihre Projekte in einer der Amtssprachen formulieren. Beim österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) ist Englisch dagegen in allen Disziplinen vorgeschrieben, was allerdings damit zusammenhängt, dass der FWF alle Anträge ausschliesslich von ausländischen und damit, so die Hoffnung, von neutralen Experten begutachten lässt.

Unvermeidlich führt die globale Verbreitung des Englischen aber zu einer Zweiklassengesellschaft in der Wissenschaft. Forscher aus der angelsächsischen Welt haben mittlerweile in fast jedem Land eine Art von Heimvorteil im Wettstreit um Renommee und Ressourcen, weil die für das Ranking wichtigen Fachzeitschriften in Englisch erscheinen.

Eine Arbeitsgruppe, die auf Initiative der Wissenschaftsräte Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zustande kam, wehrt sich gegen diese Wettbewerbsverzerrung in einer kürzlich erschienenen Schrift. Die Autoren stellen das Englische als internationale Kommunikationssprache nicht infrage, fordern aber den Erhalt der Mehrsprachigkeit.

«Sprache ist in der Wissenschaft mehr als ein blosses Kommunikationsmittel», sagt der Romanist Peter Fröhlicher, emeritierter Professor der Universität Zürich und einer der Autoren. «Wer auf die eigene Sprache verzichtet, verliert den Anschluss an die wissenschaftliche Tradition seines Landes», sagt er. Jede sprachliche Tradition habe auch in den Wissenschaften ihre Eigenheiten, die es wert seien, weitergeführt zu werden.

«Man verändert die Wissenschaftskultur eines Landes, wenn man den Wissenschaftsbetrieb vollständig dem angelsächsischen Modell angleicht», sagt Fröhlicher. Aus sprachlicher Macht werde institutionelle Macht, verbunden mit einer Ökonomisierungs- und Hege­monierungstendenz des angelsächsischen Modells in der Wissenschaft.

Wer Mehrsprachigkeit aufgebe, behandle die Universitäten wie die Filialen einer Fast- Food-Kette: überall der gleiche Geschmack.

Die Mehrsprachigkeit ist aus Sicht der Autoren insbesondere in den Geisteswissenschaften, deren Forschungsgegenstände zumeist Texte und nicht etwa Tiere oder Pflanzen sind, zentral. Die babylonische Sprachverwirrung ist für sie «keine Strafe, sondern Bereicherung», wie es der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp vor einigen Jahren formulierte. So gesehen, eröffne jede Sprache ein eigenes Weltbild, und wer die Mehrsprachigkeit an den Universitäten aufgebe, behandle sie wie die Filialen einer Fast-Food-Kette: überall der gleiche Geschmack.

Dieses Problem wird sogar im angelsächsischen Sprachraum erkannt. In einem Positionspapier beklagt etwa die British Academy die seit Jahren abnehmende Fremd­sprachenkompetenz der Wissenschafter, die so «Gefangene ihrer Sprache» blieben und keinen Zugang mehr fänden zur Forschungsliteratur und zu den Forschungsgegenständen in anderen Sprachen.

«Sie verstehen nicht alles»

In der Lehre könne die Fixierung auf das Englische manchmal eher schaden als helfen, glaubt der Psychologe Frank Rösler, Seniorprofessor an der Universität Hamburg, der nicht an der Publikation der Wissenschafts­räte beteiligt war. «Es ist völlig klar: wir brauchen in der international vernetzten Wissenschaft eine gemeinsame Sprache, und das ist das Englische», sagt er.

Aber man solle sich keinen Illusionen hingeben: Nicht-Muttersprachler werden immer Defizite haben. «Sie verstehen nicht alles, und es entgehen ihnen Nuancen, auf die es besonders in den Kultur- und Sozialwissenschaften ankommt. Studien mit den Kindern von chinesischen Einwanderern in Kalifornien hätten gezeigt, dass sie im Erwachsenenalter beim Verstehen komplizierter grammatischer Strukturen Nachteile gegenüber muttersprachlichen Vergleichs­pro­banden hatten.

Dabei erlebten sich die Probanden sowohl schriftlich als auch mündlich als vollkommen flüssig im Amerikanischen, sie hatten sogar einen akademischen Abschluss in ihrer Zweitsprache errungen. «In einer spät erworbenen Zweitsprache müssen wir uns immer etwas begrenzter darstellen als in unserer Erstsprache», sagt Rösler. «Man schätzt den Verlust auf 10 bis 20 IQ-Punkte – selbst wenn die Person mehrere Jahre im fremdsprachigen Ausland verbracht hat.»

In der Lehre sei der Zwang zum Englischen manchmal geradezu albern: «Wenn fast alle Studenten aus dem deutschen Sprachraum kommen und nur einer aus dem nichtanglophonen Ausland und trotzdem alle Englisch reden müssen, ist das eigentlich eine Katastrophe», sagt Rösler. «Darunter leidet die inhaltliche Qualität, und man erschwert den Studenten das Lernen.»

Unter solchen Umständen behindert die Fremdsprache die Kreativität: In Diskussionen und Publikationen sagt man, was man kann, und nicht, was man sagen will, meint Rösler. Die Hindernisse einer Fremdsprache sind für die Kritiker des Englischen aber nur ein Problem. Fundamentaler ist ihre These, dass sich nicht jede Sprache gleichermassen für die Wissenschaft eignet, weil sich die wissenschaftliche Erkenntnis auch in der syntaktischen Struktur und der Semantik von Begriffen manifestiere.

Es gebe Werke, die nur im Deutschen geschrieben werden konnten, und andere, die nur im Italienischen denkbar seien. Der Philosoph Martin Heidegger, selbst Schöpfer von vermutlich unübersetzbaren Begriffen, war der Meinung, dass sich das Deutsche und das Griechische besonders gut für die Philosophie eigneten.

Ursache der ­Sprachenvielfalt: «Turmbau zu ­Babel» von Pieter Bruegel dem ­Älteren (1563).

Ursache der ­Sprachenvielfalt: «Turmbau zu ­Babel» von Pieter Bruegel dem ­Älteren (1563).

Carl Friedrich Gethmann von der Universität Siegen formuliert es mit ironischem Unterton so: Es könne sein, «dass sich das Lateinische besonders gut für Zwecke des Rechts, das Französische für Zwecke des Dramas, das Englische für Zwecke der Seefahrt, das Grönländische für die Aufklärung von Verbrechen im Schnee und das Arabische für die Pferdezucht» eigneten.

Der Duisburger Linguist Ulrich Ammon hält diese Position für eine häufige Fehl­einschätzung: «Man kann alles übersetzen, wenn die Zielsprache über eine entsprechend ‹ausgebaute› Terminologie verfügt», sagt er. Der Fachbegriff «ausgebaut» bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine Sprache eine weit entwickelte Grammatik und einen umfassenden Wortschatz hat, der sich durch Entlehnungen aus anderen Sprachen zudem beliebig erweitern lässt. «Was man nicht übersetzen kann, sind unverständliche Texte wie einige Werke von Hegel und Heidegger», sagt Ammon.

Explosion der Erkenntnis

Dass jede Sprache grundsätzlich ein eigenes Weltbild eröffnet, würde Ammon deshalb verneinen. Es gebe Unterschiede im Ausdrucksreichtum, aber sie lassen sich durch Ausbau beheben. Mehrsprachigkeit wäre dann auch nicht per se ein Katalysator wissenschaftlichen Fortschritts, wie die Publikation der Wissenschaftsräte behauptet.

Die Autoren verweisen zur Begründung ihrer These auf die Explosion der Erkenntnis, die mit dem auf Italienisch publizierten «Dialogo» von Galileo Galilei 1632 begann und die sich durch die Verdrängung des Lateinischen durch die europäischen Volkssprachen beschleunigte. Dieser Sprachwechsel führte zur Überwindung der gesellschaftlichen Trennung von akademischer Welt und dem Volk, denn die neuen europäischen Wissenschaftssprachen wurden von viel mehr Menschen verstanden als zuvor das Lateinische.

Der wissenschaftliche Fortschritt beschleunigte sich dadurch, obwohl der internationale Austausch über Landesgrenzen hinweg schwieriger wurde. Durch das Englisch entferne sich die Wissenschaft wieder von der Gesellschaft, sie «entschwinde in einem englischen Wis­senschaftshimmel». In der Hegemonie des Englischen sehen die Autoren daher in kommunikativer Hinsicht eine Rückkehr zum Mittelalter, also zu einer grösseren Kluft zwischen der Wissenschaft und dem Volk. Empirisch lässt sich das jedoch nicht belegen.

Die Rezeption der Wissenschaft ist in den USA offensichtlich nicht generell besser als im nichtenglischsprachigen Europa – eher das Gegenteil dürfte der Fall sein. Einen Wettbewerbsnachteil haben Wissenschafter, die Englisch als Zweitsprache erlernen müssen, aber zweifellos. Wer eine internationale und offene Forschung will, muss auf Englisch zumindest publizieren.

«Dieses Problem ist irreparabel», sagt Ulrich Ammon. Man wird den Nachteil durch einen gründlichen Englischunterricht und Aufenthalte in englischsprachigen Ländern höchstens abmildern können. Sich dem Trend zum Englischen zu widersetzen, ist aber vermutlich zum Scheitern verurteilt.

Englisch in den Naturwissenschaften

Bis in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts nahm das Deutsche neben dem Französischen und dem Englischen eine führende Stellung in den Naturwissenschaften ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es für einige Jahrzehnte sogar die wichtigste Sprache, wie diese Darstellung zeigt. Sie stellt die Anteile der Sprachen in Publi­kationen in Fachzeitschriften dar. Bemerkenswert sind auch das Auf und Ab beim Russischen und die wachsenden Anteile des Chinesischen.

Bis in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts nahm das Deutsche neben dem Französischen und dem Englischen eine führende Stellung in den Naturwissenschaften ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es für einige Jahrzehnte sogar die wichtigste Sprache, wie diese Darstellung zeigt. Sie stellt die Anteile der Sprachen in Publi­kationen in Fachzeitschriften dar. Bemerkenswert sind auch das Auf und Ab beim Russischen und die wachsenden Anteile des Chinesischen.