Fragmente einer GroßstadtLasst uns froh und milde sein

Fragmente einer Großstadt Lasst uns froh und milde sein.

Vor ein paar Tagen sagte mein Freund zu mir: „Hey, du musst mal wieder was Positives in deiner Kolumne schreiben.“
Zuerst widersprach ich ihm. Denn ich möchte nicht daher plänkeln mit Gute-Laune-Geschichten.

Ich will, dass was hängen bleibt. Im besten Fall irgendwen kitzeln mit Sarkasmus, Ironie, Skepsis, Enttäuschung oder grauem Realismus. Um am Ende eine Frage in den Raum gestellt zu haben, mit einem Twist zum Guten hin. Quasi eine Verneinung, die auf irgendeiner Meta-Ebene zur Bejahung wird. Minus mal Minus gibt Plus. Ich weiß selbst ja nichtmal genau, ob ich Optimistin oder Pessimistin bin. Vielleicht sowas wie eine zweifelnde oder zögernde Optimistin. Jedenfalls oft eine Unentschlossene.

Nachdem ich ihm also zuerst widersprach, dachte ich ein bisschen drüber nach. Und als ich so sinnierte, hörte ich die Beginner vor meinem inneren Ohr leise näseln: „ … kein Problem. Da gibt es gar nicht so Weniges.“
So zum Jahresende ist ja traditionell Zeit, Bilanz zu ziehen. Das macht man irgendwie so, oder? Wenn es noch so fragwürdig ist, Lebensfragen und Sinnkrisen nach dem Kalenderjahr oder zum Dekaden-Wechsel des Lebensalters auszurichten, weil man sich damit selbst unter die Nase reibt, was man (wieder) alles nicht geschafft hat. Dennoch dient so eine magische Grenze uns als eine Art Erinnerung. Die Optimistin in mir denkt, dass wir uns viel öfter mal selbst auf die Schulter klopfen sollten und friedlich anstatt bockig oder ängstlich zu sein. (Das sage ich unter Vorbehalt – wir sprechen uns dann kurz vor meinem Dreißigsten nochmal!)

In der Retrospektive des Jahres 2016 sehe ich natürlich viel viel Mist, genau wie ein Großteil mir politisch ähnlich Gesinnten, nehme ich an. Okay, ich gebe es zu, es war echt ein beschissenes Jahr. Wir brauchen an dieser Stelle die Schlagworte, Angstmacher und Unworte nicht zu wiederholen, weil uns dann nur wieder übel wird und wir sie ohnehin wahrscheinlich nicht so schnell vergessen konnten.

Aber ich möchte mir selbst ein Vorbild sein und mir zu Herzen nehmen, was ich vor zwei Wochen über Angst und düsteren Journalismus als Bestseller geschrieben habe. Deshalb denke ich nun an Leonardo DiCaprio, der mir mit seiner wahnsinnig ehrlichen aber tollen Dokumentation ‚Before the Flood’ und seiner Rede als UN-Friedensbotschafter vor lauter Hoffnung Tränen in die Augen treibt. Und an Madonna, die mir mit ihrer Rede bei der Billboard-Awards-Verleihung als woman of the year vor lauter Stärke, Mut, Kampfgeist und Strahlkraft schon wieder die Tränen in die Augen treibt. Und auch an Jan Böhmermann, der seine Position dazu nutzt, sich in die Köpfe der Menschen hineinzuwitzen, um dort ein paar Hirnwindungen zu aktivieren, wenn auch auf Kosten seiner eigenen Sicherheit.

Ziemlich gut. Außerdem war das ein Jahr, in dem gefühlt so viele tolle Menschen kleine neue Menschen in die Welt gesetzt haben, wie noch nie zuvor. Und ich darf nach drei Jahren Selbständigkeit immer noch machen, was ich recht gut kann und noch dazu ziemlich gern mache (#lovemyjob #hatethishashtag) – davon leben (und stückweise meinen Studienkredit abstottern) kann ich auch. Und irgendwen interessiert anscheinend sogar auch noch, was ich zu sagen habe. Wow. Es gibt noch einige gute Dinge, von denen ich schreiben kann …

Lasst uns doch einfach mal ein bisschen milder mit uns sein. Grund zur Aufregung gibt es schnell genug wieder.

Kristina Wedel ist freie Illustratorin und lebt in Berlin-Neukölln. Wo andere ihre Smartphones mit nie wieder angesehenen Fotos füllen, hält sie ihren Stift – vorzugsweise einen einfachen, schwarzen Muji-Pen – bereit und zeichnet jene Eigenarten des urbanen Alltags, die sich nicht so leicht ablichten lassen. Für Das Filter erzählt sie jeden zweiten Mittwoch die Geschichten hinter ihren Bildern.

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