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Neue Serientrends Alle Augen auf Europa (und Israel)

Ist das goldene Zeitalter des Serienfernsehens vorbei? Nein, sagt Gerhard Maier vom Münchner Seriencamp-Festival - nur kommen die besten Shows jetzt nicht mehr aus den USA, sondern aus Belgien, Norwegen oder Israel.
Szenenbild aus der französischen Serie "Dix Pourcent" ("Call My Agent")

Szenenbild aus der französischen Serie "Dix Pourcent" ("Call My Agent")

Foto: Emmanuelle Jacobson/ TF1/ FTV/ Festival Seriencamp
Zur Person
Foto: Festival Seriencamp

Gerhard Maier studierte Amerikanische Kulturgeschichte mit Schwerpunkt Film in München. Er arbeitet seit elf Jahren für eine Film-Marketing-Agentur. Das Seriencamp organisiert er ehrenamtlich mit seinen Kollegen Christopher Büchele und Malko Solf. Es läuft vom 20. bis 23. Oktober in München.

SPIEGEL ONLINE: Herr Maier, wer braucht ein Festival für Fernsehserien? Schaut man die nicht eigentlich zu Hause?

Maier: Eine Serie auf der großen Leinwand mit anderen zusammen zu sehen, ist ein ganz anderes Erlebnis als allein vor dem Fernseher oder Laptop. Die Leute diskutieren sehr gern über das gemeinsam Gesehene. Außerdem ist das Seherlebnis auch bei Serien viel intensiver, wenn man sie auf einer Leinwand erlebt. Oft haben sie mittlerweile eine echte Kino-Ästhetik, Paolo Sorrentinos "The Young Pope" zum Beispiel.

SPIEGEL ONLINE: Laufen von den 25 Serien, die beim Seriencamp zu sehen sind, später auch alle im deutschen Fernsehen?

Maier: Das ist unterschiedlich. Wir zeigen Sachen, die gerade angelaufen sind oder demnächst laufen, etwa "Westworld" oder "The Young Pope". In einer Sneak-Peak-Schiene laufen aber auch internationale Serien, die erst in ferner Zukunft anlaufen oder noch gar keinen deutschen Lizenznehmer haben (siehe Überblick am Ende des Textes). Das sind Formate, die würden wir selbst gern im Fernsehen sehen und möchten deshalb dabei helfen, dass der eine oder andere Senderverantwortliche sich vielleicht überlegt, sie ins Programm zu nehmen.

SPIEGEL ONLINE: Wie präsentiert man eigentlich Serien, die meist eine Laufzeit von vielen Stunden haben, auf einem Festival?

Maier: Wir zeigen meistens zwei Stunden. Bei manchen Serien ist das nur eine Folge, vor allem bei neueren Serien aus den USA, wo die obligatorische Laufzeit von einer Stunde pro Folge in letzter Zeit gern mal überschritten wird. Sonst eben auch drei oder vier Folgen. Unser Publikum soll einen Vorgeschmack bekommen.

Jude Law in "The Young Pope" von Paolo Sorrentino

Jude Law in "The Young Pope" von Paolo Sorrentino

Foto: Wildside/ Haut et Court TV/ Mediapro/ Sky/ Gianni Fiorito/ Festival Seriencamp

SPIEGEL ONLINE: Oft werden Filme und Serien in Konkurrenz zueinander dargestellt, und es heißt, Serien lösten Filme als audiovisuelles Leitmedium ab. Wie sehen Sie das?

Maier: Meiner Meinung nach trifft diese Ablösung vor allem im europäischen Indie-Bereich zu. Ein Beispiel: Shane Meadows hat seinen Film "This Is England" nicht als Film fortgesetzt, sondern als Serie mit drei Staffeln. Dabei geht es weniger darum, dass im Serienformat länger und breiter erzählt werden kann, sondern darum, dass sich eine Serie besser verkaufen lässt. Das hat der Produzent auch so gesagt. Käme er in Cannes mit "This Is England 2" zum Filmmarkt, würde er den Film in zwei, drei Territorien verkaufen und ein bisschen Gewinn machen. Mit der Serie verkauft er besser, er verdient besser, und er erreicht ein größeres Publikum. Ich glaube zu beobachten, dass dieser Austausch vor allem im Arthouse-Bereich stattfindet. Man kann das auch bei Netflix beobachten: Aus vielen der Stoffe, die heute zu Serien werden, hätte man vor fünf Jahren Filme gemacht. Man tendiert allerdings auch dazu, gewisse Stoffe breitzutreten, damit sie in das Format passen.

SPIEGEL ONLINE: Warum passiert das ausgerechnet im Arthouse-Sektor?

Maier: Da geht es eher um rein wirtschaftliche Berechnungen und weniger um die Frage, wo man sich besser ausdrücken kann. Aber auch das Blockbuster-Kino neigt ja zum seriellen Erzählen. Marvels Cinematic Universe ist nichts anderes eine Serie.

SPIEGEL ONLINE: Sind die USA nach wie vor führend?

Maier: Rein wirtschaftlich gesehen auf jeden Fall. Allein das System, das dahintersteht, also die Vermengung von Studios und Networks, führt zu einem professionell produzierten Output, mit dem niemand mithalten kann. Aber die US-Autoren schauen auch sehr neidisch auf Europa. Wenn man sich die europäischen Serien der letzten drei, vier Jahre anschaut, dann gibt es hier viel mehr Mut zur Innovation, zum Wagnis. "Gomorrha", die nordischen Noir-Serien, auch Sachen aus England - da passiert unheimlich viel, was sich in den USA wenige trauen, weil sich das serielle Erzählen in Europa von vielen scheinbaren Gesetzen freimacht, an die sich der US-Markt gebunden sieht. In Skandinavien ist es nicht wichtig, aus wie vielen Folgen eine Staffel besteht. Und zwischen den Staffeln vergehen manchmal mehrere Jahre. Die USA bestimmen ohne Frage immer noch den Markt, aber die interessanteren Sachen, die ich gesehen habe, kommen aus Europa.

Inbegriff des "Nordic Noir": Die dänische Krimiserie "Kommissarin Lund"

Inbegriff des "Nordic Noir": Die dänische Krimiserie "Kommissarin Lund"

Foto: DPA/ ZDF

SPIEGEL ONLINE: Woher insbesondere?

Maier: Frankreich hat es in den vergangenen fünf, sechs Jahren auch durch konzentrierte politische Steuerung und eine Konsolidierung des Marktes geschafft, relativ schnell sehr weit nach vorn zu kommen. Auch mit internationalen Co-Produktionen wie "Versailles" oder "The Collection". Aus Großbritannien kommen Serien mit einer großen Vielfalt. Dort gibt es immer wieder Formate wie "Fleabag", die könnten aus keinem anderen Land kommen - sowohl vom Humor her als auch von den production values. In Skandinavien versucht man, sich etwas freizumachen vom Nordic-Noir-Touch. "Skam" aus Norwegen etwa ist eine großartige Jugendserie. Der flämische Teil von Belgien macht tolle Sachen wie "Beau Séjour", eine Krimiserie, die so in Deutschland nie jemand durchwinken würde. Alle aufregenden europäischen Serien sind stark von der Vision des Autors getragen.

SPIEGEL ONLINE: Auch Israel ist im Programm des Seriencamps stark vertreten.

Maier: Es ist interessant, dass ein so kleines Land so viele tolle Serien hervorbringt. Das System in Israel funktioniert anders als in Frankreich oder Italien, weil es dort durch seine isolierte Lage keinen Austausch und keine Co-Produktionen mit Nachbarstaaten geben kann. Dafür werden viele israelische Serien in anderen Ländern neu verfilmt. Zum Beispiel "Hatufim", die Vorlage zu "Homeland". Oder "Die Geiseln": Der Stoff wurde schon in den USA adaptiert, bevor die Serie in Israel überhaupt ausgestrahlt war.

SPIEGEL ONLINE: Wie sehen Sie die Situation in Deutschland?

Maier: Es scheint, als hole Deutschland gerade viel auf. Wie das dann funktioniert, wird man erst sehen, wenn die großen neuen Serien wie "Babylon Berlin" oder die deutschen Netflix- und Amazon-Projekte fertig sind. Eine Serie wie "Deutschland '83" hat ja schon gezeigt, dass Bewegung in den Markt gekommen ist. Die stieß auch im Ausland auf große Begeisterung. Aber nicht nur die großen Prestigeobjekte, die Kritiker und Publikum erwarten, sind wichtig. Es muss auch im Bereich von Webserien und flexibleren, kleineren Formaten mehr getan werden. Da gibt es eine Menge Nachholbedarf. Grundsätzlich sollte auch in Deutschland den Autoren viel mehr vertraut werden.

SPIEGEL ONLINE: Sind bei all dem Serienhype denn auch Ermüdungserscheinungen zu beobachten?

Maier: Ganz sicher dauert das goldene Zeitalter der Serie noch an. Aber es macht sich eine gewisse Übersättigung breit. Vor zehn Jahren gab es eine Handvoll guter Serien. Die konnte man alle noch sehen. Mittlerweile ist das Angebot zu breit und sehr diversifiziert. Netflix sagt zum Beispiel dezidiert: Wir machen Serien, die nur fünf bis zehn Prozent unseres Publikums interessant finden. Dementsprechend groß ist das Angebot. Selbst ich als Vielseher kann da kaum noch hinterherkommen.

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Foto: deMENSEN/ Festival Seriencamp


Seriencamp, 20. bis 23. Oktober in der HFF - Hochschule für Fernsehen und Film, München, Bernd-Eichinger-Platz 1, 80333 München. Das Programm finden Sie hier , die Tickets sind kostenlos.