Man kann es schon gar nicht mehr hören. Die EU sei in der Krise, sogar in einer Art Dauerkrise. Dabei stimmt das gar nicht. Es ist viel schlimmer. Die EU wird längst zermalmt, von Populismus und Nationalismus, von Steuerskandalen und einem Bankensumpf, von Niedrigzinsen und sozialer Unruhe allenthalben, von Fast-Grexits, Brexits und potenziellen anderen Exits, von Flüchtlingsandrang, äußeren Bedrohungen wie IS, Terror oder einem türkischen Autokraten.

Das Schlimme dabei: Nichts scheint dagegen geholfen zu haben. Weder die mit Pathos zelebrierten Erinnerungen an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 vor zwei Jahren noch die Kritik des politischen Feuilletons bezüglich der angeblichen Schlafwandler von damals.

Wieder sind wir jetzt alle Zeitzeugen. Und wieder können wir anscheinend nichts tun. Komplexe Systeme, so lehrt uns die Systemtheorie, können sich im Zustand der Krise nicht mehr reformieren. Sie sind wehrlos und werden hinweggespült. Die Desintegrationstheorie wiederum lehrt uns, dass politische Systeme, sind sie einmal ernsthaft angeschlagen, noch schneller krachen, als man denkt. Selten geht es geordnet zu. Ein Blick auf die jüngsten Börsendaten und aktuellen Wirtschaftsprognosen von Großbritannien lässt jenen Satz "The UK will leave the EU and it will be a success" von Theresa May bestenfalls trotzig klingen. Eyes wide shut into desaster.

Krise kann auf Griechisch mit Entscheidung oder sogar mit Entscheidung über Leben und Tod übersetzt werden. Ein lebensbejahendes Signal von der EU aber, ein energisches Durchatmen, eine klare Zielvorstellung oder bewiesene Handlungsfähigkeit gab es lange nicht. Wer ist überhaupt die EU? Herr Tusk? Herr Juncker? Und wo ist das Europäische Parlament? Fast entsteht der Eindruck, auch die Verhandlungen über den Brexit seien eine deutsch-britische Angelegenheit zweier Frauen, Angela Merkel und Theresa May. Die werden es schon richten.

Es fehlen Achtung und Respekt

Was aber soll gerichtet werden? Nichts klingt dieser Tage hohler und unglaubwürdiger als die ständig wiederholten Beschwichtigungen. Der Austritt Großbritanniens wird kein Ponyritt. Kindisch sind zudem die Bestrafungsallüren seitens der EU. Mit erhobenem Zeigefinger wollen zahlreiche europäische Politiker deutlich machen, es werde keine Ausnahmen für Großbritannien mit Blick auf den Binnenmarkt geben. Strafe muss sein, andere Staaten sollen davon abgehalten werden, ähnlich zu agieren wie die Regierung Cameron. Jeder, der einmal Kinder erzogen hat, weiß, dass das nicht funktioniert. Erziehung funktioniert über Achtung und Respekt. Politische Systeme auch. Nichts aber fehlt der EU mehr als das: gegenseitige Achtung und Respekt!

Nein, es ist aus. Die EU, der Kaiser, ist nackt. Keiner will sie mehr, aber alle huldigen ihr. Das aber darf keiner aussprechen. Denn unser aller Geld (und damit unser aller Zukunft) hängt an der EU, am Euro. Das ist das Problem. Wir können die EU nicht gehen lassen, weil wir unsere wirtschaftliche Basis an die gemeinsame Währung gekoppelt haben. Wer behauptet, es ginge Europa ohne Euro besser, ist ein Tor. Mögen sehr deutsche Nationalkonservative oder pfennigfuchsende Nationalökonomen ohne jedes politisch-strategische Denken noch so sehr von der "Nordwährungsunion" träumen. Dies war der Kern jenes Merkelschen Bonmots "Scheitert der Euro, scheitert Europa", mit dem sie Europa durch die Eurokrise navigiert hat, die Deutschen gut, die anderen nur im Schlepptau.

Eine verwaiste Währung ohne europäische Demokratie

Doch der Satz war falsch. Er hätte lauten müssen: "Bleibt der Euro, wie er ist, scheitert die europäische Demokratie." Das erleben wir jetzt. Denn der Euro ist seit der Krise geblieben, wie er ist, eine verwaiste europäische Währung ohne europäische Demokratie. Seit dem Maastrichter Vertrag von 1992 ist eigentlich klar, dass das nicht funktionieren kann. Die Bankenkrise, mit der die EU vor allem politisch nicht umgehen konnte, war der Schuss vor den Bug. Und er wurde nicht ernst genommen. Mario Draghi hat Zeit gekauft, die nicht genutzt wurde. Die 2012 geplante Genuine Economic and Monetary Union wurde verwässert, vertagt, vor allem die sogenannten building blocks Haushalts-, Fiskal- und Politische Union, jenes Teufelszeugs, das kein Staats- und Regierungschef, vor allem kein deutscher, auch nur mit der Kneifzange anfassen mochte.

In den Bereich der Träumerei oder der Utopie wurden damals all jene verwiesen, die über pragmatische Wirtschaftsreformen hinaus im Zuge der Eurokrise ein grundsätzliches reset der europäischen Institutionen anmahnten. Die Idee war nichts weniger, als die Würde der Demokratie zu retten. Denn eine quasi-institutionalisierte deutsche Hegemonie hat die EU seit Jahren wie Mehltau befallen. Die sogenannten Pragmatiker aber, die glaubten, die europäische Demokratie ließe sich mit Wirtschaftsreformen fixieren, erweisen sich heute als die eigentlichen Totengräber der EU.

Die Deutschen tragen Mitschuld

Denn jetzt ist genau die europäische Demokratie einerseits das Problem und zugleich das Gebot der Stunde. Erkennen wir das zu spät? Der Satz, der in Deutschland bisher nur geraunt werden darf, den die Deutschen aber bald schlucken werden müssen wie eine bittere Pille, stammt von einem Oxford-Professor vom April 2016: "At the origins of European populism is the dramatic German mismangement of the Eurocrisis".

Nein, es waren nicht die griechischen Katasterämter. Und nein, es geht nicht um Utopien oder romantische Träumereien von einer europäischen Demokratie. Es geht um drei demokratische Binsenweisheiten, die jetzt die einzige realistische Chance sind, Europa vor einer drohenden Totalverkrampfung zu bewahren:

  •  Erstens, Europa bedeutete von jeher die Überwindung der Nationalstaaten (auch wenn das keiner hören will).
  • Zweitens, Bürger, nicht Staaten sind souverän. Die duale Struktur der EU als "Bürger- und Staatenunion" ist zugleich ihre Lebenslüge, denn de facto zählen in der EU nur die Staaten, nicht die Bürger. Das heißt, der Europäische Rat, der in der EU alles entscheidet, der aber nur die Staaten vertritt, muss weg. Nur dann kann eine veritable europäische, parlamentarische und repräsentative Demokratie gestaltet werden, die dem Grundsatz der Gewaltenteilung genügt – und die sogenannten Populisten wie Nigel Farage genau das geben würde, was sie zu Recht mit ihrer EU-Schelte einklagen: control.
  • Drittens, in einer Demokratie sind alle Bürger gleich vor dem Recht. Man nennt es den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz. Gleich vor dem Recht bedeutet Wahlrechtsgleichheit, Steuergleichheit und gleicher Zugang zu sozialen Rechten. Es ist die entscheidende, weil stabilisierende Säule für jede Demokratie, für die Ordnung von Gemeinwesen schlechthin. Wenn die EU noch die Absicht hat, sich demokratisch zu ordnen und eine politische Einheit zu werden, genauer: wenn aus der EU jetzt endlich ein demokratisches Europa werden soll, dann ist der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger jenseits von Nationen die Stellschraube, aus der sich alle überfälligen Reformen ableiten ließen. Die Gleichheit wäre jener Leitgedanke für ein europäisches Gesellschaftsprojekt, nach dem viele dürsten. Für ein derart neues Europa lassen sich noch immer große Mehrheiten finden. Wer hier gleich wieder nach den Kosten fragt, der soll den Preis nicht mit dem Wert verwechseln. Was wären denn Kosten der bevorstehenden Katastrophe, die sich inzwischen fast an fünf Fingern abzählen lässt: Hofer im Oktober: wahrscheinlich; Le Pen im Frühjahr 2017: nicht mehr ausgeschlossen, und so weiter.

Zerstörung als Heilung

Wer eine Sekunde lang die blutleeren Erklärungen der Noch-EU und die Beschwichtigungspresse beiseitelässt, wer sich in den sozialen Netzwerken, den jungen Medien, den Internetforen der nächsten Generation informiert, der wird sehen: Für die neue europäische Demokratie ist einiges schon da. Bewegte und engagierte Leute, für die der Nationalstaat längst keine Kategorie mehr ist, Demokratieforen besorgter Bürger, eine aufgeweckte Zivilgesellschaft, regionale Persönlichkeiten wie Nichola Sturgeon, die eigentliche Heldin des Brexit, engagierte Mitstreiter für ein anderes, demokratisches und soziales Europa.

Nein, es geht nicht mehr um Krise oder Krisenlösungen, und "weiter so" mit der EU geht es sowieso nicht mehr. Es geht jetzt darum, in einem Akt kreativer Zerstörung à la Schumpeter die EU kaputtzumachen, um damit ein neues Europa entstehen zu lassen. Dass Europa das – friedlich – kann, hat es 1989 unter Beweis gestellt!