Netzland oder Wattland?

Utopismus Eine Studie liest aus den unspektakulären Städten und Regionen der Gegenwart unsere abenteuerliche Zukunft
Ausgabe 26/2016

Studien mit dem Untertitel Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen werden meist nur als PDF veröffentlicht. Sie haben schnelle Lösungen im Sinn und schauen gewissermaßen mit gesenktem Kopf auf den Boden direkt vor ihren Fußspitzen. Wenn sie auch noch von einem Ministerium in Auftrag gegeben werden, sind ihnen wenige Leser gewiss. Spekulationen Transformationen macht vieles anders: ein schönes Buch, Infografiken, die nicht nur schick aussehen sollen.

Und methodisch blicken die Autoren sehr weit in die Zukunft – um von dort zurückzuschauen: Finanziert vom Umwelt- und Bauministerium, haben sie sich mit Ernst Blochs Fernrohr des „geschliffenen utopischen Bewusstseins“ ausgerüstet. Damit wollen sie „gerade die nächste Nähe (...)durchdringen“. Dafür klopft die Studie zuerst in einer Fülle von Interviews und Essays die herrschende Gegenwart ab und zerfleddert die Sozial- und Wirtschaftspolitik. Viel statistisches Material wird verschränkt, Zahlen zu Bildung, Infrastruktur, Energie, Demografie oder Beschäftigung – da bilden sich also Geburtenrate und Akademikerzahl auf einer Karte ab, Autobesitz und Einwohnerdichte, Wohnungsleerstand und Außenwanderungssaldo oder Wahlbeteiligung und Hartz-IV-Quote. Meist kann man das Gebiet der ehemaligen DDR ganz gut auf der Landkarte erkennen.

Idealtypisch stehen der Gegenwart drei Zukunftsverläufe gegenüber, die unsere Städte und Regionen bestimmen. Das eine Modell bemisst sich am „Netzland“, in dem „wenige große Unternehmen (bestimmen), wie und wo die Bevölkerung lebt und arbeitet, und das schlicht, weil sie die Verkehrs- und Energieinfrastrukturnetze lenken, leiten und ausbauen“. Die Produktion von Energie und Rohstoffen ist zum entscheidenden Kriterium geworden, die Bevölkerung auf 65 Millionen gesunken, überaltert, vielfach verarmt, mit rigidem Nationalismus vor Zuwanderung und Nachbarn verschlossen, Städte sind nach funktionalen Motiven zu Korridoren zusammengefasst. Das zweite Modell sieht Deutschland als „Integralland“, ein „ökologisch-kommunitaristisches Einwanderungsland“ mit fünf Verwaltungseinheiten. Neben elaborierten Systemen für Bildung und Gesundheit gibt es bürgerschaftliche Beteiligung, große Cyborg-Städte entstehen.

Dystopische Elemente

Das „Wattland“ nun wäre eine dezentrale Dienstleistungsökonomie, das Leben vor allem digital geprägt; in Städten drängelt sich eine Gesellschaft aus Mittelschicht, Armen und Zuwanderern, Reiche ziehen sich in energieautonome Enklaven. Es gibt eigentlich keine Willkommenskultur, aber eine stabile Wirtschaft, hochwertige Systeme für Bildung und Gesundheit. Das Wattkonto, die Verfügung über extrem teure Energie, strukturiert die Gesellschaft.

Mit diesen Szenarien überprüfen die Autoren die Gegenwart. Sie tun dies an Orten, denen man nicht sofort Relevanz zuschreiben würde, aber offensichtlich sind Ludwigsburg, Offenbach oder Völklingen quasi Seismografen der sozialen Entwicklung.

Schließlich schauen sich die Studien Wohlstandsmodelle, Lebensformen, Produktionsweisen an, aus denen heute die Alternativen wachsen können. Dabei ist das keine Sci-Fi-Kulisse, die Autoren gehen davon aus, dass der Weg zu den unterschiedlichen Spielarten der Zukunft und die Art, in der die dystopischen Elemente erfahrbar werden, auf politischen Entscheidungen beruhen. Und sie verschweigen nicht, dass diese Entscheidungen Gewaltakte bedeuten. Irgendwie aber muss man mit einer Gegenwart umgehen, die über die Maßen von Menschen strukturiert ist, „die auf der privaten Aneignung der Gemeingüter der Erde und ihrer Mobilisierung zur Akkumulation und persönlichen Bereicherung bestehen, gestützt durch rein philantropische Gesten in Bezug auf das soziale und ökologische Leid der weniger Glücklichen“.

Wenn man jetzt kurz an Frederic Jameson denkt, laut dem es einfacher sei, „sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“, erkennt man, wie weit die Studie den Blick über die Fußspitzen gehoben hat. Plötzlich befürchtet man allerdings, dass sie und die spekulativen Ansätze für Städte und Regionen in Ministerien und entscheidenden Runden besonders wenige Leser haben könnten.

Info

Spekulationen Transformationen. Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen Matthias Böttger, Stefan Carsten, Ludwig Engel (Hg.) Lars Müller Publishers 2016, 272 S., 39 €

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