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Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Wut sticht Wahrheit

In Zeiten von Donald Trump und Boris Johnson ist ein neues Kommunikationsmuster auf dem Vormarsch: der Bullshit 9.0. Dass dieser so erfolgreich ist, liegt auch am Internet - und am Publikum.

Man wird also von allen Seiten mit gequirlter Verbaljauche überkübelt. Ich erkenne darin ein neues, digital getriebenes Muster öffentlicher Kommunikation und nenne es Bullshit 9.0. Der Diskurs zwischen Politik, Medien und Vernetzung ist in beschämendem Zustand. Ein indischer Wissenschaftler analysiert, der Brexit sei als erstes großes Opfer einer digitalen Demokratie  zu werten.

Das Internet trägt nicht die originäre Schuld am entgleisten Diskurs. Aber es fungiert als Bote und Verstärker, weil es einen Teil der Öffentlichkeit sichtbar macht, der bisher nur zu erahnen war. Und weil soziale Medien funktionieren, wie sie funktionieren: emotional und situativ.

Ein 1986 erschienener Aufsatz wurde als Büchlein 2005 ein internationaler Bestseller: "On Bullshit"  von Harry G. Frankfurt. Elf Jahre nach dem Zweiterscheinen bräuchte es eine erweiterte, komplett überarbeitete Neufassung. Denn die Welt wird geflutet von der neuen, vergiftenden Form des Bullshit - toxic bullshit, Bullshit 9.0.

Sich selbst und dem Moment genug

Frankfurts Bullshit bezog sich auf eine "Indifferenz gegenüber der Realität", Kommunikation als Füllschaum ohne Bezug zur Wahrheit (was nicht unbedingt "Lüge" bedeutete). Der brandneue Bullshit 9.0 erklimmt die nächste Ebene. Der fehlende Bezug zur Wahrheit wird ergänzt durch die Abwesenheit jeder Konsistenz und, wenn notwendig, verquirlt mit Selbstrelativierung.

Toxischer Bullshit 9.0, das sind nicht nur Sätze ohne Realitätsbezug oder handfeste Lügen - sie widersprechen logisch auch anderen Äußerungen derselben Person. Deshalb wird schlicht relativiert, geleugnet oder ignoriert, was nicht mehr passt. Das geht nur, wenn der Absender völlig frei ist von jeder Scham.

Donald Trump hat in den letzten fünf Jahren mehr als 20 Mal erklärt, er werde seine Steuererklärung veröffentlichen , wie es von Präsidentschaftskandidaten erwartet wird. Er hat es nicht getan, er wird es nicht tun, denn seine Kommunikation hat schlicht keine Verankerung in der messbaren Realität. Bullshit 9.0 ist als Kommunikationsform sich selbst und dem Moment genug: Die Rede über einen Gegenstand ersetzt den Gegenstand vollkommen.

"Das haben wir nie gesagt"

Der Brexit kann als erste Großkonsequenz der politischen Wirksamkeit von Bullshit 9.0 gelten, erkennbar am bekannten Slogan auf dem Bus der "Leave"-Kampagne: "Wir überweisen der EU jede Woche 350 Millionen Pfund, lasst uns stattdessen unser Gesundheitssystem finanzieren." Das war nicht nur eine Lüge, weil die EU einen beachtlichen Teil des Geldes zurücküberweist. Es impliziert auch - politisch bis ins Absurde vereinfacht - einen kausalen Zusammenhang, wo keiner ist.

So vergingen nur Stunden, bis sich maßgebliche Brexit-Befürworter vom Slogan distanzierten, der Ukip-Chef Nigel Farage etwa - natürlich erst nach dem Referendum. Aber im Sinne des Bullshit 9.0 noch eindeutiger ist der Fall Iain Duncan Smith. Der ehemalige Parteichef der Tories, Minister unter David Cameron bis März 2016 und bürgerlicher Kämpfer für den Brexit, ist offizielles Mitglied des Strategie-Komitees der "Leave"-Kampagne .

Auf die 350 Millionen Pfund für das Gesundheitssystem angesprochen , erklärte er erst: "Das haben wir nie gesagt." Als der Reporter entgegnete "Doch, das haben Sie!" - es war schließlich auf den verdammten Bus seiner Kampagne gedruckt - sagte Duncan Smith: "Wir haben nie von Verpflichtungen gesprochen. Wir haben bloß einige Versprechen gemacht, die eher Möglichkeiten waren."

Bullshit 9.0 wirkt

Mit jemandem, der so etwas ernsthaft sagt, ist keine Diskussion möglich. Es fehlt das Fundament der Kommunikation: Konsistenz. Und dass A wirklich A heißt und nicht zugleich auch B oder auf Twitter Y oder doch Q und morgen rückwirkend Z. Das ist Absicht, denn Bullshit 9.0 ist Bullshit plus Täuschung plus Bigotterie. Bullshit 9.0 ist damit ein Instrument, um politische Verantwortung für die eigene Kommunikation zu minimieren: strategische Wirkhülsen von Kommunikation.

Die so kommunizierende Politik bekommt dabei tatkräftige Mithilfe eines Teils der redaktionellen Medien, der ohne jede Scham  dieses Kommunikationsmuster übernimmt. Politische und mediale Lügen sind natürlich nicht neu, aber die offene, funktionale Dreistigkeit ist es - in Verbindung mit der digital-sozialen Öffentlichkeit. Denn die stört sich nicht daran, sondern belohnt das Verhalten noch. Das Traurigste, Empörendste an toxischem Bullshit 9.0 ist, dass er funktioniert. Bullshit 9.0 wirkt.

Das Publikum ist mitverantwortlich

Damit ist jede Klage in Form der Beschwerde über "die da oben" unvollständig falsch. Denn das Publikum trägt mindestens die Hälfte der Verantwortung für den Aufstieg dieser politischen Kommunikationsform. Das Publikum glaubt das Getöse vielleicht nicht, aber bezieht es in den Diskurs mit ein, wenn es in den Kram passt.

Mehr noch: Die halbe soziale Medienwelt interessiert sich nicht für Konsistenz und sagt in einem einzigen Satz eine Behauptung und ihr Gegenteil: "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber sie müssen raus." Die "Washington Post" schrieb von einer "post-fact world" , einer nicht mehr tatsachenbasierten Weltsicht.

Trump und Johnson haben einfach vor allen anderen bemerkt, dass Tatsachen irgendwie kompliziert sind und deshalb die Wirksamkeit von Kommunikation vermindern - und gleichzeitig vom Publikum gar nicht als Voraussetzung für einen Diskurs betrachtet werden. Donald Trump und Boris Johnson sind Symptome einer politischen Öffentlichkeit, in der das Gefühl die faktische Realität überwindet: Wut sticht Wahrheit.

Im Netz überstrahlt das Jetzt die Fakten

So kann Brexit-Apologet Boris Johnson in einer Rede erklären, dass nach dem Austritt aus der EU alle Vorteile für Großbritannien bestehen blieben, während alle vermeintlichen Nachteile von Überweisungen nach Brüssel bis Migration abgeschafft würden. Das ist Bullshit 9.0 in Reinstform, die absichtsvolle Derationalisierung der Kommunikation. Realität und Ratio werden ersetzt durch Wunschrealität und Wirksamkeit nur für den Moment, in dem das Publikum das Gesagte ungefiltert wahrnimmt.

Die Großprotagonisten des Bullshit 9.0 bedienen eine Eigenschaft der digital vernetzten Öffentlichkeit: Das Jetzt ist im Netz stärker und wirksamer als alles andere und überstrahlt deshalb nicht nur Fakten, sondern sogar das vorhin Gesagte. Fakten sind ohnehin immer nur aus der Vergangenheit herausgewrungen, das Jetzt folgt allein dem Anschein des Moments. Deshalb muss wirksame Kommunikation in sozialen Medien nicht konsistent sein. Sie muss nur situativ funktionieren.

Strukturell betrachtet hat die vernetzte Öffentlichkeit in der Jetzt-Form kein Gedächtnis, sondern lässt sich von emotionalen Sofortreaktionen leiten. Damit fehlt der Abgleich mit Fakten oder früheren Äußerungen. Schon die nachgeschobene Erklärung sieht nämlich nur ein Bruchteil des Publikums, eventuelle Korrekturen noch viel weniger. Den Rest erledigt die selektive Wahrnehmung.

Ein goldener Streifen, ein Hoffnungsschimmer

Und gerade, wenn man es nicht mehr aushält, blitzt am Horizont ein goldener Streifen, ein Hoffnungsschimmer. Eventuell. Noch sehr weit entfernt, noch sehr anekdotisch, noch nur ein Detail: der Echtzeit-Faktencheck. 2013 als (zu) technischer Prototyp von der "Washington Post" erdacht , 2016 von CNN als simple Verfahrensweise wiedergeboren. Während einer Trump-Rede wurden dessen Kernaussagen samt Überführung als Lüge in Form von Bauchbinden unter dem Fernsehbild ausgestrahlt: "Trump: Ich habe nie gesagt, Japan solle Atombomben haben. (Hat er doch)." 

Angesichts der Flut des Bullshit 9.0 mag das nicht nach viel aussehen. Und Leute, denen Wahrheit wirklich zu hundert Prozent egal ist, wird man auch so nicht erreichen. Aber Hoffnung ist ein Samenkorn.