Kiyaks Deutschstunde
04.05.2016
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Einer nervt immer
 
Wann immer sich ein Künstler mit dem Völkermord an den Armeniern befasst, wird er von einem Gesandten des türkischen Staats belästigt. Andauernd. Es ist kaum auszuhalten.
VON MELY KIYAK

Es war eine kleine Meldung. Ein, zwei Tage prominent platziert und dann weg: "Türkei attackiert Kunstfreiheit". Dieses Mal betraf es die Dresdener Sinfoniker, die zusammen mit dem Musiker Marc Sinan ein Konzert spielen wollten, das Aghet heißt. Aghet ist Armenisch und bedeutet Katastrophe. Mit der Katastrophe ist die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich gemeint. Genauer müsste es eigentlich heißen, die Vernichtung der Christen. Denn die Deportationsbefehle betrafen alle Christen. Also Katholiken, Chaldäer, Aramäer und weitere Gruppen. Manche davon hatten Wurzeln im heutigen Iran oder Syrien. Der Großteil jedoch waren Armenier und so hat sich der Terminus durchgesetzt:

Völkermord an den Armeniern

Es ist vergleichbar mit dem Begriff Shoah. Auch die Juden konnten für die Vernichtung im Nationalsozialismus nur das Synonym "Katastrophe" verwenden, weil das Geschehen über Bezeichnungen wie Vertreibung, Tod, Mord, Vernichtung hinausging. Und auch hier wissen wir, dass nicht nur Juden zu den Opfergruppen zählen.

Große Katastrophen – nennen wir die politisch und staatlich legitimierten Tötungen einfach mal so – verankern sich im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaften immer noch am stärksten über die Kunst. Mehr noch als Statistiken und Dokumentationen sind es Filme, Musik und Bücher, die uns berühren und uns begreifen lassen, dass ein Opfer aus vergangener Zeit genauso beschaffen ist wie man selbst: ein Mensch, der genauso liebt, lebt und trauert. Juden, Armenier, Syrer, alles Menschen wie man selbst einer ist. Und man versteht, diese Person könnte ich sein. Dann erst setzt der Moment des Entsetzens ein. Der Mensch ist leider so gebaut. Er kann Empathie nur über (Nach-)Empfindung herstellen.

Es ist für die künstlerische Aussage eines Werkes sehr wichtig, wann sie stattfindet. Ob vor, während oder nach der Geschichtsaufarbeitung. Die Wirkung eines Filmes oder Buches ist abhängig davon, ob es der Künstler war, der als Erster sagt: Hier ist ein Unrecht geschehen. Sehr gut konnte man das zuletzt in Deutschland an der NSU-Serie im Ersten beobachten. Die Filmtrilogie erzählte nichts anderes als das, was man seit fünf Jahren in den Zeitungen gelesen hatte. Künstlerisch aufbereitet sah man das Ganze zwar nun mit anderen Augen, obwohl das Geschehen und die Erkenntnisse unverändert geblieben sind. Trotzdem blieb die große gesellschaftliche Debatte aus. Denn was blieb für einen Künstler noch Wesentliches hinzuzufügen, nachdem die Spitzen des Staates die Versäumnisse bereits zugaben? Allen voran Angela Merkel, die bei einem Gedenkakt den NSU als "Schande für unser Land" bezeichnete und die Angehörigen der Opfer um Verzeihung bat.

Es macht demnach einen riesigen Unterschied, ob man sich als Künstler in ein staatliches Schweigen und Vertuschen hineinmeldet oder sich auf dem Boden von gesellschaftlicher Aufarbeitung bewegt. Was den Holocaust betrifft, hat die Herausforderung für Künstler immer darin bestanden, eine Sprache zu finden, um aus dem Unfassbaren etwas Fassbares zu machen. Mit Repressalien musste niemand rechnen. Wer im heutigen China, Russland oder Nordkorea Künstler ist und staatliche Verbrechen der Vergangenheit und Gegenwart thematisiert, riskiert viel. Es ist gleichbedeutend damit, ein Dissident zu sein. Der Franzose Claude Lanzmann war als Regisseur von Shoah nie Dissident sondern einfach Künstler.

Über nationale Grenzen hinaus

Man muss das wissen, um zu verstehen, warum es als Kulturschaffender ein Problem darstellt, sich mit Aghet zu befassen. Die Diskriminierung, Vertreibung und Vernichtung der Armenier und anderer Christen der heutigen Türkei geschah stets auf der Grundlage von massiver, staatlicher Einflussnahme und Sanktion. Man kann an keiner türkischen Universität dazu forschen, weil man dafür freien Zugang zu den Archiven benötigt. Den haben nur Wissenschaftler mit staatlicher Erlaubnis. Diese Kommissionen sind natürlich nichts wert.

Die Einflussnahme geht über nationale Grenzen hinaus. Wann immer beispielsweise in Deutschland ein Künstler sich mit dem Thema befasst, kommt ein Lobbyist des türkischen Staates und versucht auf alle erdenkliche Arten den Künstler, seinen Verlag, seinen Veranstalter und wenn möglich auch die deutschen Regierungsvertreter so lange auf Trab zu halten, bis irgendeiner irgendwie irgendwo nachgibt.

Im Fall der Dresdener Sinfoniker hieß es, dass Vertreter der türkischen Regierung wenigstens erreichen wollten, dass das EU-Fördergeld für das Projekt gestrichen wird. Tatsächlich schwelte im Hintergrund noch ein ganz anderer Konflikt. Nämlich der um den Musiker Marc Sinan, dessen Vorfahren Armenier aus der Türkei sind.  

Bereits im vergangenen Jahr hatte Sinan im Gorki Theater Berlin das Musiktheaterstück Dede Korkut – Die Kunde von Tepegöz mit den Dresdener Sinfonikern aufgeführt. Für das Programmheft hat die türkische Gegenwartsautorin Sema Kaygusuz einen kleinen Text beigesteuert, in dem sie das Thema von Dede Korkut, nämlich die Unauslöschbarkeit von Schuld, in die politische Gegenwart übertrug. Sie sah im Text "eine heutige Türkei ohne Gedächtnis", die alle Verbrechen leugnet. Angefangen von der Vernichtung der Armenier bis hin zu der der Kurden.

Hysterie und Folklore

Was dann geschah, war eine Hysterie, die man nur noch als Folklore bezeichnen kann. Allen voran Professor Hakkı Keskin, der einst für die Linken im Bundestag saß und sich in wehleidigen Briefen beschwerte, dass es sich bei dem Theater und dem Künstler um Lobbyisten handele, die zu den Ereignissen von 1915 eine "eingefrorene Haltung" besäßen.

Keskins Engagements sind vielfältig. Auch weil er vielseitig vernetzt ist. Er hat 2009 mit der von ihm gegründeten "Türkischen Gemeinde Deutschland" genervt, als in den Geschichtsbüchern im Bundesland Brandenburg der Völkermord an den Armeniern thematisiert werden sollte. 2004 hat er die deutsche Öffentlichkeit genervt, weil Zypern Teil der Europäischen Union wurde, nicht aber der türkische Teil im Norden. Keskin war übrigens auch schon mal Mitglied in der SPD. Und Teil der Bülent-Ecevit-Regierung in der Türkei. Ach, die türkischen Lobbyisten sind so raffiniert. Aus allen Löchern und Ritzen kriechen sie hervor. Sie sind überall und nerven.

Die Stimmen verstummen nicht

Als vor zwei Jahren im Theater in Konstanz Edgar Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken aufgeführt werden sollte, nervte der Generalkonsul der Türkei Serhat Aksen das Theater, weil auf der Website der Begriff "Völkermord" auftauchte. Wo es doch, so die Begründung des Generalkonsuls, noch kein Gerichtsurteil gäbe, das beweise, dass es sich genau darum handele. Wo und von wem genau so ein Gerichtsurteil angestrebt werden soll, wonach einem erlaubt ist, den millionenfachen Mord an einem Volk als Völkermord zu bezeichnen, hat er nicht verraten. Etwa in der Türkei? Und wer sollte der Ankläger sein? Die 50 Armenier, die derzeit noch in Diyarbakır leben? Das ist nämlich der Rest, der übrig blieb, von dem, was man nicht Völkermord nennen darf.

Dieses Jahr macht Marc Sinan gemeinsam mit den Dresdener Sinfonikern erneut ein Projekt, nämlich besagtes Aghet und wieder muss er sich mit diesen Nervtötereien abplagen. Derweil nervt der türkische Botschafter Hüseyin Avni Karslıoğlu den Bundestag, weil dieser eine Armenien-Resolution beantragen will. Irgendwer nervt immer.

Verschleiern und Vertuschen

Nicht nur in der Armenienfrage. Wie völlig selbstverständlich saßen in fast jeder deutschen Talkshow zur sogenannten Böhmermann-Affäre die ominösen Mitglieder der Lobbytruppe Union Europäisch Türkischer Demokraten (UETD) und rezensierten den deutschen Kulturbetrieb. Ziel des Vereins ist es, sich um die Probleme "der Türken in Europa" zu kümmern und Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Mit anderen Worten: Nerven.

Kein Mensch braucht irgendjemanden, der sich um Türken in Europa kümmert. Es sei denn, es handelt sich um Touristen aus der Türkei. Für die sind Angela Merkel und Joachim Gauck nicht zuständig. "Türken in Europa" sind Bürger ihrer europäischen Länder. Leider nicht immer mit allen Bürgerrechten ausgestattet wie zum Beispiel dem Wahlrecht, aber dafür tritt die UETD nicht ein. Sie hat Wichtigeres zu tun. Nämlich dafür zu sorgen, dass Böhmermann bestraft wird, weil er den Präsidenten der Türkei beleidigt hat.

Jedenfalls setzen sich viele türkische Lobbyisten in Deutschland dafür ein, staatliche türkische Interessen durchzusetzen und Künstler und Kulturschaffende unter Druck zu setzen. Doch auf der anderen Seite, und das ist die gute Nachricht, lassen sich die Kulturschaffenden nicht einen Deut davon beeindrucken. Sie thematisieren die Vertreibungsgeschichten ihrer Familien. Egal, ob es sich um Aleviten handelt, um Kurden oder Armenier, um Juden oder Syrer. Sie tun das vor allem in der Türkei und gefährden damit ihr Leben und das ihrer Familien. Gerade in den kurdischsprachigen Gebieten der Türkei gibt es eine mutige und lebendige Auseinandersetzung mit diesen Themen, denn die Armenier lebten dort. Diese Auseinandersetzung findet dort seit Jahrzehnten statt und wurde mit Gefängnis, Folter und Tod quittiert. Und trotzdem sind diese Stimmen nicht verstummt.

Die Künstler (und andere gesellschaftliche Gruppen) handeln immer aus innerer Notwendigkeit. Ihre Sprache ist mächtiger und lauter, wichtiger und wegweisender als das nervtötende Aufmucken der nationalistischen Lobbyisten. Ganz gleich, ob in China oder Russland, Deutschland oder der Türkei. Kunst handelt immer vom Erkennen und Erzählen. Der Nationalismus aber handelt immer vom Verschleiern und Vertuschen.

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