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Sibylle Berg

S.P.O.N. - Fragen Sie Frau Sibylle Eine Stunde Frieden

Haben Sie mal wieder schlechte Laune? So etwas kennt Frau Berg gar nicht. Und sie verrät Ihnen sogar, wie sie das macht.

Fast stündlich fragen mich meine zahlreichen Fans hier an dieser Stelle nach den Wurzeln meiner fast überbordend guten Laune. "Woher kommen Ihre gute Laune, Ihre Güte und Ihr Scharfsinn?", fragen sie. Und heute, meine Damen und Herren, möchte ich, in Ermangelung an Energie, mich über irgendetwas zu beschweren, das Geheimnis meiner Ausgeglichenheit verraten.

Wenn Sie an dieser Stelle bereits esoterisches Geblubber befürchten oder Kitsch in Hedwig-Courths-Mahler-Manier - ziehen Sie nur von dannen. Hier folgt nun nichts weniger als der Schlüssel zum Weltfrieden.

Jeden Morgen, der für mich, der Selbstausbeutung geschuldet, um sechs Uhr beginnt, habe ich eine überbordend gute Laune. Es ist alles noch dran an mir, der Körper funktioniert wie eine perfekt programmierte Maschine, das Gehirn - nun ja, darüber lässt sich streiten, aber solange meine Intelligenz ausreicht, um Wasser zu kochen, will ich mich nicht beklagen.

Fenster, Hof, Baum, alles in Ordnung

Die Welt vor meinem Fenster (wie toll - ich habe ein Fenster) riecht gut, die Luft ist klar, ein Himmel zu erkennen. Es hat meistens keinen Krieg gegeben, also jedenfalls ist im Hof davon nichts zu erkennen. Es ist ruhig, ein paar Trams quietschen. Morgens gibt es auch kaum Notfallwagen mit Sirenen, kaum Polizei- oder Feuerwehreinsätze. Der Mensch, so scheint es, ist am Morgen zu rührend vertrottelt, um Unfälle zu bauen oder einen bewaffneten Überfall durchzuführen. Menschen am Morgen scheinen immer auf Werkseinstellung zurückgesetzt. (Notiz an mich, mal mit einer Neurologin über den Zustand des morgendlichen Gehirns zu reden.)

Fenster, Hof, Baum, alles in Ordnung. Drumherum Europa. Aus Versehen hier geboren. Glück gehabt. Hätte schlechter kommen können. Hinter mir die Wohnung. Ich muss sie nicht mit Fremden teilen, Fußboden drin, Küche, das ganze Zeug, funktioniert. Freude.

Um mich herum wachen Leute auf, sie schlurfen im Pyjama zum Briefkasten, strecken sich auf ihren Balkons, stehen mit Kaffeetassen in Küchen. Morgens ist das Zugehörigkeitsgefühl zu meiner Spezies sehr groß. Im Verlauf des Tages verschwindet dieser Moment des Umarmenwollens, aber am Morgen finde ich selbst jene rührend, die nicht ich sind. Es scheint, als wollen alle dasselbe: ihre Ruhe.

Vielleicht ist dieser Morgenzustand des Menschen Vorausahnung einer Welt mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, ohne Fanatismus und Stress. Vielleicht wären die meisten liebenswürdig, wenn der Tag aus ihnen nicht Angstkranke machen würde. Der Konsum der Nachrichten später lässt das Gefühl wachsen, in einer bedrohten Umgebung zu leben, inmitten eines Krieges, inmitten des Unterganges.

Aus der Unsicherheit entsteht der Eindruck, die Kontrolle zu verlieren, Kontrolle, die man eh nie hatte: zu versagen, abzuschmieren in der Marktwirtschaft, zwischen den Märkten zerrieben, bedroht. Dann kommt die leise Panik, die Ahnung des Lebensendes. Das versaut den Tag, die Laune, den Charakter, lässt aus vielen netten Leuten im Pyjama traurige, hilflose Hasser werden.

Selbst ein so perfektes Wesen wie ich neigt mitunter dazu, im Tagesverlauf die konkrete Realität zu vergessen, die nicht aus Rechtsradikalen, Terroristen, Frauenhassern, Homophoben, Tierquälern, Diktatoren und Ungerechtigkeit besteht. Zum Glück für meine geistige Gesundheit gibt es immer wieder einen neuen Morgen. Mit einer Stunde unglaublich guter Laune.

Und damit beende ich das Wort zum Samstag.

S.P.O.N. - Die Kolumnisten

Liebe Leser,
die Kolumnentage haben sich geändert. Es gilt künftig folgende Reihenfolge:

Montag: Jan Fleischhauer - Der Schwarze Kanal
Dienstag: Margarete Stokowski - Oben und unten
Mittwoch: Sascha Lobo - Die Mensch-Maschine
Donnerstag: Jakob Augstein - Im Zweifel links
Freitag: Thomas Fricke - Die Rechnung, bitte!
Samstag: Sibylle Berg - Fragen Sie Frau Sibylle
Sonntag: Georg Diez - Der Kritiker

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Foto: SPIEGEL ONLINE