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Maximilian Popp

Flüchtlingsdrama im Mittelmeer Abgestumpft

Mindestens 700 Menschen sind vergangene Woche im Mittelmeer ertrunken. Doch die Europäer berührt das kaum noch. Sie haben sich an das Sterben vor ihren Grenzen gewöhnt.
Auf dem Mittelmeer treibende Rettungsweste

Auf dem Mittelmeer treibende Rettungsweste

Foto: Lefteris Pitarakis/ AP

Als die türkische Fotojournalistin Nilüfer Demir im September 2015 Aufnahmen des toten Flüchtlingsjungen Alan Kurdi veröffentliche, bewegten die Bilder nicht nur Menschen auf der ganzen Welt - sondern für einen Moment auch die Politik: Der kanadische Migrationsminister brach seinen Wahlkampf für eine Krisensitzung ab, David Cameron versprach, mehr Flüchtlinge aus Syrien in Großbritannien aufzunehmen, und Ahmet Davutoglu, damals türkischer Regierungschef, drängte die Europäer zur Zusammenarbeit in der Asylpolitik.

Nun hat die Organisation Sea-Watch ein ganz ähnliches Bild veröffentlicht. Es zeigt einen Flüchtlingshelfer, der auf einem Boot im Mittelmeer vor Libyen ein totes Baby im Arm hält. Doch anders als vergangenen Sommer ruft das Motiv kaum noch Empörung hervor. So gut wie kein ranghoher Politiker hat sich bislang dazu geäußert, die Medien berichten sparsam, wenn überhaupt.

Flüchtlingshelfer mit totem Baby

Flüchtlingshelfer mit totem Baby

Foto: dpa

Das Bild des toten Alan Kurdis wurde zu einem Symbol für das Versagen Europas im Umgang mit Flüchtlingen. Das Sea-Watch-Foto transportiert eine andere Botschaft: Die Europäer haben sich an das Sterben vor ihren Grenzen gewöhnt. Kinder, die im Mittelmeer ertrinken, Syrer, die von türkischen Grenzschützern erschossen werden, Familien, die in griechischen Lagern verelenden - all das ruft bestenfalls noch erschöpftes Seufzen hervor.

Mindestens 30.000 Menschen sind nach Schätzungen in den vergangenen 15 Jahren auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommen. Eine Zeitlang hat die EU zumindest noch versucht, den Eindruck zu erwecken, diese Katastrophe würde sie etwas angehen. Als im Oktober 2013 beinahe 400 Flüchtlinge bei einem Bootsunglück vor Lampedusa ertranken, trafen die Präsidenten des Europaparlaments und der EU-Kommission Überlebende auf der italienischen Insel. Das Schauspiel wiederholte sich nach einem beinahe identischen Unglück mit 800 Toten vergangenen April. "Der Status quo ist keine Option mehr", sagte Kommissionschef Jean-Claude Juncker und kündigte eine Reform des EU-Asylsystems an .

Das Massensterben wird als Kollateralschaden hingenommen

Inzwischen reicht es nicht einmal mehr für Symbolpolitik. Nach Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks sind allein vergangene Woche 700 Flüchtlinge bei drei Schiffskatastrophen im Mittelmeer gestorben, 2400 in den ersten fünf Monaten 2016. Doch außer Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingshelfern regt sich darüber kaum noch jemand auf, jedenfalls kein EU-Politiker.

Die Europäer sind abgestumpft. Monatelange Debatten über Asyl-Obergrenzen und Überfremdung, die immer gleichen Bilder von Menschenmassen vor Grenzzäunen und die aggressive Stimmungsmache von Rechts haben jede Empathie mit den Schutzsuchenden aufgelöst.

Das Massensterben der Flüchtlinge an Europas Grenzen wird als Kollateralschaden hingenommen. Doch Bootsunglücke wie jene vergangener Woche sind kein tragischer Zufall, sondern das Ergebnis europäischer Migrationspolitik. Die EU-Staaten haben in den vergangenen Jahren ihre Grenzen schrittweise gegen Flüchtlinge hochgerüstet. Wer in der EU Asyl beantragen will, muss zunächst europäischen Boden erreichen. Durch die Abschottungspolitik der EU ist dies beinahe unmöglich geworden. Einer der letzten verbliebenen Wege für Flüchtlinge nach Europa führt auf den Booten von Schleppern aus Libyen über das Mittelmeer.

Die Flüchtlingsbewegung hat im vergangenen Jahr dazu geführt, dass viele Menschen begannen, dieses System anzuzweifeln. Sie fragten, warum Flüchtlinge eine Straftat ("illegale Einreise") begehen müssen, um in Europa Asyl zu beantragen. Sie waren nicht länger bereit hinzunehmen, dass die Bundesregierung verspricht, "Fluchtursachen" zu bekämpfen, gleichzeitig jedoch Diktaturen aufrüstet - wie gerade erst im Sudan geschehen .

Der Deal mit der Türkei und die Zäune auf dem Balkan aber haben dafür gesorgt, dass weniger Menschen nach Europa gelangen. Die Flüchtlinge und ihre Probleme sind nun wieder dort, wo sie die EU am liebsten hat: weit weg.