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Russland in der Ukraine-Krise Putins Lügen

Für Wladimir Putin ist der Fall klar: Die ukrainische Armee kesselt Städte im Osten des Landes ein, tötet gezielt Zivilisten und verwüstet die Infrastruktur. Das Problem: Russlands Präsident verdreht konsequent die Fakten.
Russischer Präsident Putin (am 27. August): Immer neue Behauptungen

Russischer Präsident Putin (am 27. August): Immer neue Behauptungen

Foto: Alexander Zemlianichenko/ dpa

Der Donbass schien für Russlands Präsidenten zuletzt weit weg. Wladimir Putin war tief nach Sibirien gereist, in Jakutsk stand unter anderem der Besuch des Mammut-Museums auf dem Programm. Trotzdem war der Ukraine-Konflikt ganz nah. Bei seinem Besuch in Fernost erklärte Putin, worin das Ziel der "gegenwärtigen Militäroperation im Osten (der Ukraine) besteht" und warum die sogenannte Volkswehr in die Offensive gegangen sei.

Wie so oft in der letzten Zeit hat Putin dabei Behauptungen aufgestellt, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, ja, die die Tatsachen mitunter sogar in ihr Gegenteil verdrehen. Seine Aussagen werden auch in Deutschland oft ungeprüft übernommen. Was ist Dichtung und was Wahrheit? SPIEGEL ONLINE überprüft einige der aktuellsten russischen Behauptungen.

Putin und der vermeintliche Beschuss durch die ukrainische Armee: "Reguläre ukrainische Einheiten haben große Städte umzingelt und decken Wohnviertel mit gezieltem Feuer ein", hat Putin am Montag einem BBC-Korrespondenten erklärt. Wenige Tage zuvor hatte er das Vorgehen der Ukrainer bereits mit dem der faschistischen deutschen Truppen vor Leningrad verglichen: "Großstädte wurden eingekesselt und durch gezielten Beschuss zerstört, samt Einwohnern."

Es gibt keinen gezielten Beschuss ostukrainischer Städte und auch nicht den Versuch, die Bevölkerung, wie er sagt, mit "scharfem Feuer" zu töten. Ich habe die letzten Wochen in Donezk verbracht und mir die Schäden in der Stadt genau angesehen. Ja, tagtäglich gibt es dort Einschläge von Artillerie, es gibt Zerstörungen und menschliche Opfer. Die Treffer konzentrieren sich aber im Wesentlichen auf zwei Gebiete: die Gegend im Norden um den Hauptbahnhof und auf den Petrowski-Stadtbezirk im Südwesten.

Die (leere) Schule Nr. 33 zum Beispiel, die am Mittwoch vergangener Woche getroffen wurde, liegt am Lenin-Prospekt in eben diesem südwestlichen Rayon. Getroffen wurde jüngst auch der (längst geräumte) Markt vor dem Hauptbahnhof und ein kleiner Laden, der rund um die Uhr auf hat - dort gab es in der Tat des Nachts Tote.

Rauch über Donezk (Archivbild): Einschläge vor allem am Rand der Stadt

Rauch über Donezk (Archivbild): Einschläge vor allem am Rand der Stadt

Foto: SERGEI KARPUKHIN/ REUTERS

Beide Gebiete befinden sich am Rande der Millionenstadt, sie liegen in der Nähe der Kampfzonen außerhalb von Donezk, wo sich Separatisten und Einheiten der Ukrainer gegenüberstehen. Beide Seiten schießen über die Stadt hinweg auf Stellungen des Gegners. Die Einschläge sind zweifellos Kollateralschäden und kein gezieltes Feuer. Das verwundert nicht, wenn man weiß, wie beide Seiten ihr Artilleriefeuer führen - die Ziele werden mitunter per Google Maps angepeilt. Von wem die einschlagenden Granaten im Einzelnen stammen, ist nicht festzustellen - die Donezker halten beide Varianten für möglich.

Sollte die ukrainische Armee tatsächlich beabsichtigen, Objekte in der Stadt zu beschießen, hätte sie schon lange das Gebäude der "Donezker Volksrepublik" am Puschkin-Boulevard unter Beschuss genommen oder den Stab der Rebellen im ehemaligen Sitz des ukrainischen Geheimdienstes an der Rosa-Luxemburg-Straße. Kein einziges Geschoss ist jedoch bisher auch nur in die Nähe dieser Orte gelangt - beide liegen mitten in Wohnvierteln. Getroffen wurde dagegen das Museum von Donezk, das sich weitab vom Zentrum befindet. Auch das jedoch wurde von Russland als "gezieltes Feuer" der Ukrainer dargestellt.

Szene aus Donezk (Mitte August 2014): Angriffe auf das Zentrum selten

Szene aus Donezk (Mitte August 2014): Angriffe auf das Zentrum selten

Foto: SERGEI KARPUKHIN/ REUTERS

Unterstellen könnte man noch, die Ukrainer würden durch Beschuss die Bevölkerung psychologisch terrorisieren wollen - aber selbst das ergibt keinen Sinn. Dann würden sich die Einschläge aufs Zentrum und stark bewohnte Gegenden konzentrieren.

Putins Vergleich mit der Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht ist daher Geschichtsklitterung. Im Übrigen vergaß der Präsident zu erwähnen, dass die Rebellen selbst aus Donezk heraus mit Artillerie und Granatwerfern schießen, was viele Einwohner bezeugen können. Und es gibt schon gar keine "Bombenangriffe gegen die Zivilbevölkerung", von denen Außenminister Sergej Lawrow ständig spricht. Ich habe in den vergangenen Wochen kein einziges Flugzeug am Himmel über Donezk gesehen.

Putin und die Erfolge der Volkswehr: Auf seiner Webseite hat Putin Ende vergangener Woche davon gesprochen, dass die sogenannte Volkswehr "Erfolge bei der Unterbindung der Gewaltoperationen Kiews" erzielt habe.

Einer der größeren Erfolge der vergangenen Tage besteht darin, dass Einheiten der Rebellen bei Nowoasowsk vorrückten - möglicherweise mit dem Ziel, die große Küstenstadt Mariupol einzunehmen. Sie eröffneten damit eine neue Front im Süden von Donezk, wo die ukrainische Armee bislang überhaupt nicht präsent war, wo es also auch keine "Gewaltoperationen Kiews" zu unterbinden galt. Der Vorstoß zielt auf weiteren Geländegewinn und Ausdehnung des von den Separatisten besetzten Gebietes.

Putin und der vermeintliche gezielte Beschuss der Infrastruktur: Immer wieder wird von russischer Seite behauptet, dass die Ukrainer gezielt auch die Industriebasis und die Infrastruktur des Donezker Beckens zerstören würden und dass für deren Wiederaufbau "mindestens 30 Jahre nötig" seien.

Gezielte Zerstörungen haben die Separatisten vorgenommen - sie haben in den vergangenen Wochen mindestens 40 Eisenbahn- und Straßenbrücken gesprengt. Die Zerstörung der Donbass-Industrie dagegen ist eine Mär. Viele Stahl- und Kohlewerke in den Gebieten von Luhansk und Donezk sind zwar von den Kampfhandlungen stark beeinträchtigt, sie arbeiten aber noch. Die meisten Bergwerke der Gegend zum Beispiel sind weiterhin in Betrieb, 130.000 Menschen arbeiten dort. Seit Jahresbeginn wurden dort 20,3 Millionen Tonnen Kohle gefördert.

Zerstörte Brücke nahe Donezk: Schäden an der Infrastruktur

Zerstörte Brücke nahe Donezk: Schäden an der Infrastruktur

Foto: VALENTYN OGIRENKO/ REUTERS

Selbst im Juli, mitten in den Kämpfen, brachten die Bergleute 2,4 Millionen Tonnen Kohle ans Tageslicht. Das ist zwar ein Rückgang der Förderung um 13,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum - die Förderung ist damit auf dem Tief des Krisenjahres 2009 angelangt. Aber die Schächte arbeiten noch. Auch die Schäden an den großen Werken sind vergleichsweise gering.

Putin und die Forderung nach Verhandlungen: Russlands Präsident hat zuletzt mehrfach gefordert, Kiew solle sich mit den "Vertretern des Donbass an den Verhandlungstisch setzen" - und meinte damit die Führer der Rebellen wie den Premier der sogenannten Donezker Volksrepublik, Alexander Sachartschenko.

Was Putin verschweigt: Leute wie Sachartschenko sieht das Gros der Bevölkerung in Donezk und Luhansk nicht als ihre Vertreter an. Sachartschenko wie auch der bisherige Verteidigungsminister Strelkow waren den meisten unbekannt, als sie in den Städten der Ostukraine auftauchten.

Viele der Rebellen, die gegen die Ukrainer kämpfen, sind frühere Arbeitslose oder teilweise auch Kriminelle, die die eigene Bevölkerung terrorisieren. Die Tatsache, dass sich trotz immer dringenderer Aufrufe der Separatisten, in ihre Volkswehr einzutreten, nur wenige Donezker als Freiwillige meldeten, spricht für sich. Die Rebellen hatten also gar keine andere Wahl, als auf Verstärkung aus Russland zu setzen.

Dass Kiew diese Leute kaum als Verhandlungspartner akzeptieren wird, ist sicher auch Putin klar - er hat das Scheitern der Gespräche offenbar von vornherein mit eingepreist. "Premier" Sachartschenko selbst hat in der vergangenen Woche bereits Friedensgespräche und sogar eine Föderalisierung der Ukraine ausgeschlossen - es gehe nur noch um die staatliche Unabhängigkeit der Ostgebiete. Es wäre verwunderlich, wenn auch das nicht längst mit Putin abgesprochen ist. Und Russlands Präsident einmal mehr heuchelt, wenn er nun zu Verhandlungen aufruft.

Sachartschenko, Premier der "Volksrepublik": Unabhängigkeit der Ostgebiete

Sachartschenko, Premier der "Volksrepublik": Unabhängigkeit der Ostgebiete

Foto: Max Vetrov/ AP/dpa

Was leider als historische Parallele bereits längst vergessen ist: Russland ist 1994 auf ganz ähnliche Weise gegen das abtrünnige Tschetschenien vorgegangen. Es hat im Sommer jenes Jahres in Nordtschetschenien eine Opposition von Moskaus Gnaden aufgebaut und ließ im Frühherbst Panzer dieser Opposition in die Hauptstadt Grosny einrücken. Die Tschetschenen stoppten und vernichteten sie. Die jungen Soldaten, die in ihnen saßen, verbrannten - es stellte sich heraus, dass es Russen in Uniformen ohne Hoheitsabzeichen waren.

Nach dem gescheiterten Putsch ließ der Kreml alle Masken fallen und rückte mit seiner Armee in Tschetschenien ein.

Umkämpfte Gebiete im Osten der Ukraine

Umkämpfte Gebiete im Osten der Ukraine

Foto: SPIEGEL ONLINE