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Familiengeschichte: Ein NS-Gegner wird entnazifiziert

Foto: Ernst Willing

Familiengeschichte "Sie wollen ein Nationalsozialist sein?"

Die Mitgliedschaft in der NSDAP machte den Lehrer Jakob Willing für die Entnazifizierungsbehörde zu einem Mitläufer. Wie der Vater tatsächlich zum Hitler-Regime stand, erfuhr sein Sohn Erwin erst nach dessen Tod - aus Dokumenten, die der Vater sorgsam aufbewahrt hatte.
Von Erwin Willing

Der Brief des Schulrats an den Lehrer Jakob Willing traf am 31. Oktober 1945 ein. Mein Vater ahnte bereits, dass dieses Schreiben an ihn nichts Gutes verkünden würde. Vorausgegangen war ihm am 12. Oktober ein Verhör beim kommissarischen Bürgermeister des Nachbarorts. Dabei war es um die Klärung der angeblichen Verstrickung meines Vaters in das Nazi-Regime gegangen.

Ohne Anrede und abschließende Grußformel teilte ihm der Schulrat mit, dass er sich auf Weisung der Militärregierung "genötigt" sähe, meinen Vater "mit sofortiger Wirkung aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen". Auch sei sein "gesamtes Vermögen gesperrt". Eine entsprechende Aufstellung habe er auf einem Formblatt, das "gegen 20 Reichspfennig Druckkosten" erhältlich sei, aufzulisten. Als Familie waren wir damit plötzlich mittellos. Im Juni 1946 wurde schließlich auch noch die Sperrung des Vermögens meiner Mutter und der "minderjährigen Kinder" angeordnet. Wenigstens warf man uns nicht aus der Dienstwohnung.

Vater wurde beschuldigt, seit 1937 Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Außerdem habe er sich als stellvertretender Kassenverwalter des Ortsverbands der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), einer karitativen Einrichtung zur Unterstützung Hilfsbedürftiger, schuldig gemacht. Aus diesen Gründen sei er nur für "gewöhnliche Arbeiten (ordinary work) beschäftigungswürdig", teilte die amerikanische Militärregierung mit. Seinen Beruf als Lehrer würde er nicht mehr ausüben können.

"Sühne" gegen 500 Reichsmark

Ich war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt, meine Schwestern waren 15 und 19. Unsere Familie wohnte im ersten Stock des Schulhauses eines kleinen Bauerndorfs im Kreis Hersfeld (Nordhessen). Meine Schwestern, die sich in der Lehre befanden bzw. in einem gering bezahlten Arbeitsverhältnis standen, mussten fortan ihre spärlichen Einkünfte der Familie zur Verfügung stellen. Um uns zu versorgen bauten die Eltern im Garten Kartoffeln und Gemüse an, anstatt Zucker gab es Honig aus der Bienenzucht meines Vaters. So überstanden wir neun Monate.

Am 4. Juli 1946 reihte die Spruchkammer Hersfeld, zuständig für die Entnazifizierung in unserem Landkreis, meinen Vater in die Gruppe der "Mitläufer" ein und verurteilte ihn zu einer "Sühne" von 500 Reichsmark plus 142,05 RM Verfahrensgebühren. Das entsprach in etwa dem Monatsgehalt eines Lehrers. Seine Beamtenrechte wurden "im früheren Umfange wiederhergestellt". Als Mitläufer (vierte von fünf Kategorien im Entnazifizierungsverfahren) galten Personen, die sich zwar nicht in nennenswertem Umfang aktiv an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt, aber auch keinen nennenswerten Widerstand geleistet hatten. Seinen Beruf durfte er ab 1. August 1946 wieder ausüben. Die Konten- und Vermögenssperrungen wurden erst im Februar 1947 durch die Militärregierung aufgehoben.

In den folgenden Jahren vermied es mein Vater, über die finsterste Epoche seines Lebens zu sprechen. Erst nach seinem Tod im Jahr 1966 konnte ich die von ihm wohlgehüteten Dokumente zu diesen Vorgängen einsehen.

Ein "Gegner des Nationalsozialismus"

Wenige Tage nach dem Eintreffen des Briefes vom Schulrat hatte mein Vater ein Gesuch an die amerikanische Militärregierung geschickt, in dem er darum bat, die Entscheidung zurückzunehmen und dabei die beigefügten eidesstattlichen Erklärungen der Entlastungszeugen zu berücksichtigen.

Der SPD-Ortsverein bescheinigte dem Lehrer Jakob Willing darin, dass er bereits 1933 "ein Gegner des Nationalsozialismus" gewesen war. Man könne "verschiedene Zusammenstöße" zwischen ihm und der NSDAP bezeugen. Auch nachdem Jakob Willing 1937 der NSDAP beigetreten war, habe er "sich nicht parteipolitisch betätigt". Die SPD forderte seine Wiedereinstellung, "damit der Unterricht recht bald wieder ordnungsgemäß weitergeführt werden kann".

Der neu eingesetzte Bürgermeister sagte aus, dass Jakob Willing anlässlich einer Veranstaltung den sogenannten "deutschen Gruß" verweigert habe. Der Lehrer Willing habe u.a. auch verhindert, dass das Bild des ehemaligen Reichspräsidenten Friedrich Ebert durch einen Amtsträger der NSDAP aus der Schule entfernt wurde, um es zu verbrennen. Anlässlich der Machtübernahme am 30. Januar 1933 habe er es abgelehnt, am Hissen der Hakenkreuzfahne am Schulgebäude teilzunehmen.

"Sie taten alles, um die Hitlerjugend in den Schmutz zu ziehen"

Ein paar Tage nach der Reichspogromnacht (9./10.November 1938), in der Synagogen angezündet und Tausende Juden in Konzentrationslager verbracht worden waren, hatte sich mein Vater gegenüber einem Bekannten in einer Gastwirtschaft mit den Worten: "…was ich da an der Synagoge und an den Judenhäusern gesehen habe, ist eine Kulturschande" empört. Ein anderer Gast hatte mitgehört und bedrohte meinen Vater. Nur durch das Eingreifen des Bekannten konnte der aufgebrachte Gast daran gehindert werden zuzuschlagen.

Dokumentiert ist auch ein Zwischenfall von Oktober 1939 nach einer Veranstaltung der Hitlerjugend in der Schule: Die sogenannten "Pimpfe", 10- bis 14-jährige Hitlerjungen, hatten bei Schießübungen mit Luftpistolen die Wandtafel in einem Klassenraum zertrümmert. Mein Vater bat die zuständige Stelle darum, solche Vorfälle in Zukunft zu verhindern. In einem Antwortschreiben wurde ihm vom "Hauptscharführer" empfohlen, sich nicht aufzuregen. Weiter heißt es in dem Schreiben:

"Sie natürlich, taten alles, um die H.J. in Schmutz zu ziehen und überall ein Hindernis zu sein. Sie Herr Willing haben gehandelt, jetzt werden wir es tun und zwar gründlich. Sie wollen ein Nationalsozialist sein, nein, Sie sollten sich schämen, ich bedaure nur, dass Sie schon lange gegen uns gewirkt haben. Aber noch ist es zu einer schriftlichen Aussage, die der Gerechtigkeit entspricht, Zeit."

Drei Wochen später entschuldigte sich der Briefschreiber allerdings für den unangemessenen Briefinhalt. Trotzdem wurde mein Vater in einem anonymen Brief des parteifeindlichen Verhaltens bezichtigt. Auch forderte ein SS-Sturmführer Maßnahmen gegen den "Feind der Partei". Der zuständige "Zellenleiter" der NSDAP weigerte sich, die Anklageschrift zu unterschreiben und verhinderte wahrscheinlich eine Verhaftung meines Vaters.

"Himmelschreiende Ungerechtigkeit"

Der bis dahin bei den Dorfbewohnern sehr beliebte und geschätzte Lehrer wurde systematisch denunziert. Wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustands hatte er Mitte 1937 nicht mehr die Kraft, sich dem Drängen der örtlichen Parteifunktionäre zum Eintritt in die NSDAP zu widersetzen.

Trotz der entlastenden Aussagen wollte die Militärregierung ihre Entscheidung nicht aufheben. Vaters Gesuch blieb unbeantwortet. Die jahrelangen Anfeindungen und Erniedrigungen hatte er mit Anstand und großer Selbstbeherrschung ertragen. Doch seine Einstufung als Mitläufer erfüllte ihn mit Bitterkeit.

Es sei eine "himmelschreiende Ungerechtigkeit", so äußerte er sich des Öfteren auch uns Kindern gegenüber, dass viele von denen, die nachweislich direkt oder mittelbar an Verbrechen des Nazi-Regimes beteiligt waren, weitgehend unbehelligt blieben und durch Seilschaften in lukrative Positionen bis in höchste Regierungsebenen gelangten. Darunter auch solche, die ihn in der Nazi-Zeit wegen seiner Verweigerungshaltung zugesetzt hatten und sich nunmehr als überzeugte Demokraten und Nazi-Hasser ausgaben.