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Müllers Memo Unser gefährlicher Industrie-Fimmel

Was Deutschlands Wirtschaft starkmacht? Unsere Fabriken natürlich! Doch die Fixierung auf die Produktion wird nicht mehr lange gutgehen. Höchste Zeit, sich ein anderes Wirtschaftsmodell auszusuchen.
Maschinenbau in Deutschland: Ist ein industrieller Sektor wirklich von Vorteil?

Maschinenbau in Deutschland: Ist ein industrieller Sektor wirklich von Vorteil?

Foto: Jens B¸ttner/ picture alliance / dpa

Fragen Sie einen deutschen Wirtschaftspolitiker, worin Frankreichs strukturelle Probleme bestehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird er Ihnen antworten, die gallische Wirtschaft habe sich nun mal weitgehend deindustrialisiert, weshalb dort zu wenig Gescheites produziert werde, und dass Sie sich doch mal das Schicksal von Peugeot Citroën anschauen sollten, jener einst stolzen Autofirma, die inzwischen taumelnd dem chinesischen Dongfeng-Konzern in die Arme fällt. Dann wird er Ihnen Zahlen präsentieren: In Frankreich werden nur noch rund zwölf Prozent der Wertschöpfung in der Industrie erbracht.

Schon erstaunlich: Die Industrie gilt inzwischen als Garant für eine gute, ausgewogene ökonomische Entwicklung. Eine Haltung, die nicht auf Deutschland beschränkt ist. Nachdem das produzierende Gewerbe jahrzehntelang im Westen als altmodisch, schmutzig und gefährlich abgetan wurde, erlebt nun die Herstellung physischer Güter eine Renaissance, wenigstens in der Wertschätzung der Wirtschaftspolitik.

US-Präsident Barack Obama will Amerika wieder zum Produktionsstandort ausbauen. Auch die EU hat sich die Stärkung der Industrie auf die Fahnen geschrieben. Sogar die Briten würden gern wieder basteln: Auf dem Tiefstpunkt der Finanzkrise gelobte der damalige britische Arbeitsminister Peter Mandelson, England solle künftig "weniger financial engineering und viel mehr echte Ingenieurkunst" pflegen.

Deutschland ist die Ausnahme

Vorbild für diese Entwicklung ist, wenig verwunderlich, Deutschland. Während anderswo das produzierende Gewerbe tendenziell schrumpfte, ist die Branche hierzulande etwa im Gleichschritt mit der Gesamtwirtschaft gewachsen. Der Anteil an der Wertschöpfung ist gegenüber dem Jahr 2000 sogar leicht gestiegen, auf knapp 26 Prozent. Die Zahl der Industriebeschäftigten ist nahezu konstant geblieben. Damit ist Deutschland die absolute Ausnahme unter den etablierten Volkswirtschaften, nirgends sonst gab es eine vergleichbare Entwicklung. Im Zuge der Globalisierung hat sich Deutschland spezialisiert - auf Luxusautos, Maschinenbau und Chemie. Bislang ist das eine erfolgreiche Strategie. Aber wird ein großer industrieller Sektor auch künftig noch von Vorteil sein?

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OECD-Kritik: Wo Deutschland die Spaltung droht

Foto: Ralf Hirschberger/ picture-alliance/ dpa

Die Gesundung der deutschen Wirtschaft verlief parallel zum Aufstieg der Schwellenländer. Osteuropäische, später asiatische Volkswirtschaften, allen voran China, industrialisierten sich im Zeitraffer. Davon profitierte Deutschland wie kein anderes Land; weil es hierzulande noch potente Firmen gibt, die Fabriken mit Maschinen ausstatten oder gleich ganze Fabriken errichten, weil es Infrastrukturanbieter wie Siemens gibt, die ganze Bahnsysteme zu installieren in der Lage sind, weil es Luxusautohersteller gibt, die die neuen Reichen in den Schwellenländern mit Statussymbolen versorgen. Gut möglich, dass sich bisherige Stärken nun aber in Schwächen umkehren. Wenn sich der Aufholprozess in den Schwellenländern abschwächt - wonach es derzeit aussieht -, wenn die Industrialisierung dort an Fahrt verliert, wenn einheimische Luxusautohersteller lernen, die Bedürfnisse der neuen Mittelschichten zu befriedigen, dann fragt man sich, wer denn künftig noch die Kunden der deutschen Industrie sein sollen.

Suchen wir uns deshalb Vorbilder, die besser dastehen als wir selbst. Schweden zum Beispiel. Das skandinavische Land genießt ein höheres Wohlstandsniveau als Deutschland. Beschäftigungsstand, Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit sind höher, die Einkommensverteilung gleichmäßiger. Staat und Wirtschaft geben einen größeren BIP-Anteil für Forschung und Entwicklung aus als alle anderen OECD-Länder (außer Finnland): stabil zwischen drei und vier Prozent des BIP.

Der Verkauf von Wissen boomt

Schwedens Wirtschaft ist hochgradig wettbewerbsfähig, was sich in ähnlich hohen Leistungsbilanzüberschüssen niederschlägt, wie sie Deutschland verzeichnet. Nach derzeit modischer Lesart dürfte es das nicht geben. Denn Schweden hat einen vergleichsweise kleinen industriellen Sektor: Nur 20 Prozent trägt die Industrie noch zum BIP bei, deutlich weniger als im Jahr 2000.

Aber das skandinavische Land verfügt über eine große Stärke, die Deutschland nicht hat: Es verdient sehr erfolgreich im Handel mit Dienstleistungen, insbesondere solchen, die auf Wissen basieren. Mehr als 20 Milliarden Dollar Überschuss erwirtschaftete Schweden 2011 mit dem Verkauf von Services, Patenten und Lizenzen - viermal so viel wie noch 2004. Deutschland hingegen machte im selben Zeitraum ein Defizit im Dienstleistungshandel von knapp 32 Milliarden Dollar.

In vielerlei Hinsicht gehört Schweden zu den am weitesten fortgeschrittenen Ländern der Welt. Die Entwicklung dort zeigt, wohin die Reise geht: Der Handel mit hirnintensiven Dienstleistungen und der Verkauf von Wissen ersetzen zunehmend den Handel mit physischen Produkten - postindustrielle, hochproduktive Aktivitäten mit großem Input von Wissen. Dafür braucht es andere Qualifikationen und ein anderes Umfeld, als es Deutschland bislang bietet.

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche

Dienstag

Berlin - Produzieren, bauen, schrauben - Am Tag der deutschen Industrie treten Kanzlerin Angela Merkel und der französische Ministerpräsidenten Manuel Valls nacheinander ans Rednerpult.

Essen - Flüchten zwecklos - Vor dem Landgericht Essen geht der Prozess gegen den ehemaligen Arcandor-Chef Thomas Middelhoff weiter. Ihm wird Untreue vorgeworfen.

Karlsruhe - War ich gut? - Der Bundesgerichtshof verhandelt die Frage, ob ein Arzt vom Betreiber eines Ärztebewertungsportals verlangen kann, dort wieder gelöscht zu werden.

Mittwoch

München - Rauf oder runter? - Der Ifo-Geschäfsklimaindex für den Monat September wird vorgestellt. Im Juli war das wichtigste deutsche Konjunkturbarometer zum dritten Mal in Folge gesunken.

Berlin - Neue Impulse - Die Fachkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung präsentiert ein Gutachten zum Thema "Ökonomische Bedeutung und Leistungspotenziale von Migrantenunternehmen".

Donnerstag

Berlin - Das Chlorhuhn grüßt - Im Bundestag wird eine Große Anfrage zu den Freihandelsabkommen der EU mit den USA und Kanada behandelt, zudem wird das Gesetz zur Umsetzung der Europäischen Bankenunion vorgestellt.

Freitag

Ottawa - Ende gut, alles gut? - EU-Kommissionspräsident Barroso, Ratspräsident Van Rompuy und Kanadas Ministerpräsident Harper wollen die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, CETA, offiziell für beendet erklären.

Sonntag

Bern - Abgesichert - Per Volksabstimmung entscheiden die Schweizer darüber, ob eine öffentliche Krankenkasse geschaffen werden soll.


In einer Reihe von Artikeln stellt Henrik Müller einige Thesen seines neuen Buchs "Wirtschaftsirrtümer" vor. Bislang erschienen "Wir machen uns was vor" sowie "Der Mythos der Hartz-Reformen"