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NS-Täterkinder: Keine Reue

Foto: DER SPIEGEL

NS-Täterkinder Keine Reue

Die Familiengeschichte von Folke Schimanski ist durchzogen von der zerstörerischen Kraft der NS-Gesinnung. Seine Schwester, Grande Dame der schwedischen Rechtsextremen, und sein Vater waren sich bis zuletzt einig: In der Familie gibt es nur einen "Nestbeschmutzer".
Zum Autor

Folke Schimanski, geboren 1936 in Berlin-Steglitz, floh mit seiner schwedischen Mutter und seiner Schwester im April 1945 nach Schweden. Er studierte Geschichte, Volkswirtschaft, Staatskunde und Philosophie an der Universität Lund, arbeitete unter anderem beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP, in Teheran, als Produzent beim Schwedischen Hörfunk und veröffentlichte als freischaffender Journalist mehrere Bücher. Er hat zwei Söhne und lebt mit seiner Lebensgefährtin in Helsingborg, Schweden.

Meine bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte meiner Familie begann erst 2007. Ich hatte mir zu dieser Zeit vorgenommen, ein Buch über meine Kindheit zu schreiben, ohne zu ahnen, wie ausufernd allein die Recherche sein würde. Einmal angefangen, war es mir nicht möglich, aufzuhören.

Als ich mit der Arbeit begann, waren meine Eltern schon lange tot. Das erleichterte und erschwerte meine Aufgabe. Einerseits war ich frei von Druck, Rücksicht auf sie zu nehmen, andererseits war genau das seit jeher mein Fehler gewesen: Ich hatte sie zu Lebzeiten nicht genügend befragt.

Was ich sehe, wenn ich zurückblicke: Meine Kindheit in Steglitz, meinen deutschen Vater, meine schwedische Mutter, die Schwester. Wir Kinder wuchsen auf in einem doppelten Patriotismus: Meine Mutter vergötterte sowohl die schwedische Königsfamilie als auch das deutsche Kaisertum. In der Weimarer Zeit stimmte sie für die Deutschnationalen, verehrte den greisen Feldmarschall von Hindenburg - so sehr, dass sie im Alter von 29 Jahren niederkniete, als er in das Reichstagsgebäude schritt. Als drei Jahre später Hitler an die Macht kam, wurde sie keine glühende Nationalsozialistin, aber sie war dem System gegenüber nicht sonderlich abgeneigt.

Mein Vater, ursprünglich Sozialdemokrat, unterschrieb 1933 seine Mitgliedschaft in der Sturmabteilung, durch die er sich auch eine neue Anstellung als Ingenieur erhoffte. Die SA war als paramilitärische Kampforganisation unter anderem dafür zuständig, Versammlungen der NSDAP gewaltsam abzuschirmen und gegnerische Veranstaltungen massiv zu behindern. Unter Hermann Göring wurde sie schließlich zu einer Art staatlicher Hilfspolizei, die mit harten Bandagen kämpfte.

Mein Vater, seit 1937 auch Mitglied der NSDAP, schien all das nach dem Krieg auf einmal verdrängt zu haben. Sein ewiges Mantra lautete "Es war Hitler und nicht wir". Doch Restbestände der Naziideologie blieben haften. Ich hörte sie heraus in seinen Bemerkungen über die Wehrmacht, den Holocaust, die Juden. In den ersten finsteren Nachkriegstagen in Berlin schrieb er unter einen Hakenkreuzstempel "Das waren Zeiten!". Trotzdem sah ich in ihm lange einen gutgläubigen Opportunisten. Einen Mann, den ich nicht besonders liebte, weder als private noch als politische Person. Aber der ungefährlich gewesen war, der bloß nach den Spielregeln gespielt hatte, die gerade für alle Figuren im Land gegolten hatten.

Eine zerrissene Familie

Ganz anders meine Schwester. Sie wurde schon in jungen Jahren fanatische Anhängerin der NS-Bewegung. Während sie zu Hause wenig Liebe erfuhr, besonders von meinem Vater übel behandelt wurde und daraufhin in der Schule immer weiter abfiel, blühte sie als Zehnjährige bei einer Kinderlandverschickung in Schlesien regelrecht auf. Eine Art Domizil fand sie im Milieu des Bundes Deutscher Mädel, wo sie sich offenbar akzeptiert und bestätigt fühlte. Diese Erinnerungen an Kameradschaft wirkten nach. Noch lange nach Kriegsende blieb sie treue Nationalsozialistin.

Was ich als nächstes erinnere: Die weißen Busse. Im April 1945 verließen meine Mutter, meine Schwester und ich Berlin und Deutschland dank des Schwedischen Roten Kreuzes. In den weißen Bussen wurden vor allem norwegische und dänische KZ-Gefangene, aber auch Frauen, die mit Deutschen verheiratet waren, und ihre Kinder aus dem Land gebracht. Mein Vater indes blieb. Er wurde nach Kriegsende von den Amerikanern als Mitläufer eingestuft, "entnazifiziert" und konnte 1948 seine Arbeit als Ingenieur in den Siemens-Schuckertwerken in Erlangen wiederaufnehmen.

Eine zerrissene Familie, nicht nur geografisch. Bald schon ließen sich meine Eltern scheiden, mein Vater heiratete neu, meine Mutter nicht. Sie witterte, zurück in Schweden, an jeder Ecke "Deutschenhass" und verschaffte uns gerade damit immer mehr Feinde. Meine Schwester machte in der neuen Heimat derweil keinen Hehl aus ihrer Gesinnung, heiratete einen bekannten schwedischen Nazi und, als dieser seinen politischen Standpunkt irgendwann wechselte, einen anderen jungen Naziführer. Bis 2010 war sie in führender Position einer hitlertreuen Partei und tritt heute als die Grande Dame der schwedischen Rechtsextremen auf.

Doch auch mir fiel die Integration schwer. Hatte ich mich in Deutschland immer als Schwede gesehen, fühlte ich mich in der neuen Heimat deutscher als je zuvor, flüchtete mich als Teenager sogar in Naziromantik, begeisterte mich für die Uniformen und Märsche. Doch das war, da bin ich mir in der Rückschau sicher, nicht viel mehr als Koketterie, um meinen Schulkameraden zu imponieren. Es war keine gefestigte politische Haltung.

Schon kurz nach dem Abitur lernte ich einen Berliner Lehrer kennen, der kompromittierende Fakten über weiter wirkende Nazirichter sammelte. Je mehr ich davon erfuhr, desto mehr glitt ich politisch nach links ab. Ich empfand mich nun als Schwede und engagierte mich in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, später in linksorientierten Organisationen.

Die Reisen in die Vergangenheit erfüllen mich mit Genugtuung

Beflügelt wurde das Engagement durch eine Reise im Jahr 1986. Als Rundfunkjournalist besuchte ich das westpreußische Dörfchen Kruschdorf, unweit von Bromberg/Bydgoszcz, in dem meine Familie während des Krieges evakuiert war. Ich hatte Kontakt mit polnischen Historikern in Thorn/Toru und dem Stadtarchivar von Bromberg aufgenommen. Durch sie lernte ich die Kriegszeit aus polnischer Sicht kennen. Dazu gehörte auch der "Bromberger Blutsonntag", zu dem die deutsche und die polnische Version stark auseinandergehen. Es war ein Pogrom von Volksdeutschen, kurz nach dem Angriff der deutschen Truppen 1939 auf Polen. Etwa 700 Deutsche wurden ermordet. Die Rache der Einsatzgruppen traf Abertausende Polen.

Als ich von der Reise zurückkehrte, konfrontierte ich meine Eltern, die damals noch lebten, mit der Geschichte. Sie mussten doch etwas davon mitbekommen haben! Doch beide ignorierten mich. Statt Dialog oder Einsicht bloß Abwehr mit der immer gleichen Formel: "Wir Deutschen haben ja auch gelitten."

Besonders mein Vater, den ich erst 30 Jahre nach unserem Abschied das erste Mal wieder in Deutschland besucht hatte, sah mich bis zum Schluss als "Nestbeschmutzer", wie ich nach seinem Tod durch die Briefkorrespondenz zwischen ihm und meiner Schwester erfuhr. Das zu erfahren, war trotz aller dunklen Ahnung und der vielen Fakten ein Schock. Selbst aus einer Familie verstoßen zu werden, die man in vielen Punkten ablehnt, ist furchtbar. Es reißt ein Loch ins eigene Leben, es entzieht einem eine Grundlage, die bisher selbstverständlich schien.

Und gleichzeitig ist der harte Bruch auch eine Art Freispruch. Ich kann meine Nachforschungen fortsetzen, ohne meiner Familie gegenüber in ein Loyalitätsdilemma zu geraten. Die Reisen in die Vergangenheit erfüllen mich mit einer Genugtuung, sie bereichern mein Leben. Ich kann, unter anderem mit den Besuchen im Studienzentrum Neuengamme, meine Lebenserfahrungen durch meine Nachforschungen ergänzen. Ich gewinne ein kompletteres Bild von mir. Einen Schlussstrich aber sehe ich nicht, und es kann wohl auch keinen geben. Die Recherche geht, ganz unabhängig von meinem Buch, weiter. Es dreht sich in meinem Leben fortan alles um mehr Wahrheit.

Aufgezeichnet von Lena Steeg.