Zum Inhalt springen
Fotostrecke

NS-Täterkinder: "Wie hätte ich ihn fragen sollen?"

Foto: DER SPIEGEL

NS-Täterkinder "Wie hätte ich ihn fragen sollen?"

Ihr Vater sei bloß ein Mitläufer gewesen: Mit dieser Version wuchs Barbara Brix auf. Erst spät machte sie sich auf die Suche nach der wahren Geschichte ihres Vaters - und stieß dabei auf eine Verbindung zu einem blutrünstigen Sonderkommando der Nationalsozialisten.
Aufgezeichnet von Friederike Bieber
Zur Autorin
Foto: attenzione/ Mark Mühlhaus

Barbara Brix, geboren in Breslau, floh mit Mutter und drei Geschwistern im Januar 1945 in den Westen Deutschlands. Aufgewachsen in der Nähe von Dortmund, engagierte sie sich später in Hamburg als Historikerin und Geschichtslehrerin für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus.

Es war 2006, kurz vor meiner Pensionierung, als mir klar wurde, dass ich mein ganzes Leben in einer relativen Unwissenheit darüber gelebt habe, was mein Vater im Krieg gewesen ist und was er getan hat. Ein befreundeter Historiker, der zu den Deutsch-Balten in der SS forschte, sagte zu mir: Dein Vater war bei den Einsatzgruppen!

Natürlich wusste ich, dass unsere Eltern im Nationalsozialismus mindestens Mitläufer waren. Wie haben wir sie in den 68er Jahren dafür attackiert! Ich wusste, dass mein Vater bei der SS war - als Arzt. Und ich wusste, dass er sich im Sommer 1941, sehr zur Empörung meiner hochschwangeren Mutter, an die "russische Front" - so war die Formulierung - gemeldet und dann irgendwie, irgendwo seine Beine verloren hat. Ich kannte meinen Vater nur ohne Beine.

Wie Ankläger traten meine Schwester und ich später vor unseren Eltern auf: Was wusstet ihr? Wo wart ihr? Vor uns unser Vater zitternd auf seinen Prothesen, bleich unter dem Ansturm und hilflos in der Reaktion. Und meine Mutter, völlig aufgelöst, wir sollten endlich aufhören, sonst würde der Vater noch einen Herzschlag bekommen. Ich war damals zufrieden mit uns, hielt uns für couragiert.

Dabei war es - wie ich es heute sehe - in erster Linie ein antiautoritärer Gestus, mit dem wir aus dem hierarchischen Eltern-Kind-Verhältnis ausbrechen wollten. Wir wollten unseren Eltern eins auswischen. Diese Vorwurfshaltung, die Angriffsattitüde hatte etwas überaus Selbstgerechtes. Wir waren von keinem echten Erkenntnisinteresse getrieben, geschweige denn von einem menschlichen Zugang.

Meldung zur Waffen-SS, da war er gerade 27 Jahre alt

Dann also die Einsatzgruppen. Ich wusste nicht viel darüber, außer, dass ihre Aufgabe in einem reinen Mordauftrag auf dem Gebiet der Sowjetunion bestand. Und mein Vater mittendrin? Ich war unfähig, das zusammenzudenken.

Mein Vater war doch derjenige, der mit seiner deutsch-baltischen Herkunft unsere Familie prägte, ein intellektuelles Klima schuf, mein Elternhaus zu einem bildungsbürgerlichen machte. Wir haben viel miteinander geredet und gelesen. Von meinem Vater habe ich meine Leidenschaft für Geschichte.

Als erstes fragte ich das Bundesarchiv nach Unterlagen zu meinem Vater und erhielt ein Bündel von Papieren, mit denen er 1940 als SS-Mann von Graz aus beim Reichssicherheitshauptamt um eine Heiratsgenehmigung nachgesucht hatte: Unterlagen über die Ahnen, über den Gesundheitszustand meiner Eltern, ein Foto in SS-Uniform, seinen Lebenslauf:

Geboren 1912 in Riga, dort Studium der Medizin. 1933, mit 21 Jahren, Eintritt in die Nationalsozialistische Volksdeutsche Partei (NSVDP) - eine illegale Partei, die sein älterer Bruder in Riga gegründet hatte. 1938 Umzug nach Breslau, wo er meine Mutter kennenlernte, dann nach Leipzig für seine Facharztausbildung in Kinderheilkunde.

Im September 1939, während des Überfalls auf Polen, Meldung zur Waffen-SS, da war er gerade 27 Jahre alt, erste Stationierung bei einer SS-Einheit in Graz. Hier endet der Lebenslauf des Heiratsgesuchs.

Ein besonders blutrünstiges Kommando

Aus Ludwigsburg, der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, erhielt ich zwei Protokolle aus den Jahren 1966 und 1968; später noch ein drittes von 1969. Mein Vater war also dreimal als Zeuge in verschiedenen NS-Prozessen vernommen worden. Ich wusste davon nichts.

Der letzte Prozess wurde unter anderem gegen seinen Bruder geführt, den Gründer der NSVDP in Lettland. Er hatte bei den Nazis Karriere gemacht, pflegte Verbindungen zu Himmler und Heidrich, war einer der Motoren dafür, dass fast die gesamte deutsch-baltische Volksgruppe in den neugegründeten Warthegau umgesiedelt wurde und die Häuser, Betriebe, Höfe der vertriebenen Polen erhielt.

In diesen Vernehmungsprotokollen wird mein Vater vor allem zum Sonderkommando 4A befragt. Das war ein besonders blutrünstiges Kommando der Einsatzgruppe C, der mein Vater angehörte. Ich erinnere mich an eine Ausstellung im Mémorial de la Shoah in Paris über die Massaker dieses Kommandos in der Ukraine. Es gab eine kalendarische Liste für den Monat August 1941, auf der die Zahl der Erschießungen pro Tag dokumentiert war. Eine blutige Spur, die dieses Kommando durch die Ukraine zog.

Und mein Vater mittendrin? Mein geistiger Mentor, der Mann, der mich ethisch und moralisch ins Leben eingewiesen hat? Ich konnte es mir nicht ausmalen.

Endlich fallen ihm Namen ein

Bei der Vernehmung leugnet mein Vater fast alles: Er wisse nichts, diese Namen sagen ihm nichts, er sei nur seiner ärztlichen Tätigkeit nachgegangen usw. Mein Vater, den ich immer für moralisch integer gehalten habe. Vor dem ich Respekt hatte.

Ich fand heraus, dass mein Vater sich mit großer Sicherheit zu jener Zeit in Kiew aufhielt, als das Massaker an der Schlucht von Babi Jar geschah, bei der durch verschiedene Kommandos der Einsatzgruppe C mehr als 33.000 Kiewer Juden in zwei Tagen umgebracht wurden. Ende September 1941 war das.

Aus dem letzten Protokoll geht hervor, dass mein Vater am 11. September von meiner Geburt unterrichtet worden war und Urlaub beantragt hatte. Er sollte aber noch bleiben, um in Kiew eine ärztliche Dienststelle einzurichten. Er war also dort und hat erst nach der Aktion seinen Urlaub angetreten. In den Protokollen bestreitet er, jemals bei einer Erschießungsaktion dabeigewesen zu sein. Er sei viel herumgefahren, sagte er aus, sei ja auch für die Lazarette der Wehrmacht zuständig gewesen und habe von den Aktionen nur durch Hörensagen mitbekommen.

Es gibt einige Zeugenaussagen, die von der Anwesenheit eines Arztes sprechen, ohne allerdings einen Namen zu nennen. Mein Vater war der einzige Arzt. Aber als solcher war er für die gesamte Einsatzgruppe C zuständig und hatte offenbar nicht unmittelbar mit dem Sonderkommando 4A zu tun.

Erst aus dem dritten Vernehmungsprotokoll von 1969 geht hervor, dass er doch sehr viel mehr wusste. Endlich fallen ihm Namen ein, gibt er zu, dass er mit dem Kommandeur seiner Einsatzgruppe über die deutsche Besatzungspolitik in der Ukraine gesprochen hat (und wohl sein Missfallen ausgedrückt habe). Dass er - allerdings nur vom Hörensagen - sehr wohl wusste, dass auch Juden umgebracht wurden.

Ich habe eine Art Obsession entwickelt

Ich muss heute zur Kenntnis nehmen, dass mein Vater schrecklich gefehlt hat. Er war ein überzeugter Nationalsozialist, er hatte eine antisemitische Grundhaltung und eine analytische Schwäche in der politischen Zuordnung. Er hat sich diesem System zur Verfügung gestellt und war voll integriert in seine Strukturen. Als ein normaler Mensch, zusammen mit Millionen anderen normalen Menschen, unter bestimmten historischen und persönlichen Dispositionen. Aber natürlich habe ich die leise Hoffnung, dass er als Arzt mehr über den Dingen stand als praktisch involviert gewesen zu sein.

Dieses Wissen erklärt mir heute ein Stück meiner eigenen Entwicklung. Vor allem nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1980 habe ich eine Art Obsession für die Geschichte des Nationalsozialismus entwickelt. Sie wurde Schwerpunkt meiner Tätigkeit als Geschichtslehrerin in Hamburg, ich begann, mit den Schülern Projekte zu initiieren, schrieb ein Büchlein über einen jüdischen Lehrer unserer Schule, gestaltete auf dem Schulhof eine Gedenktafel für die Kinder vom Bullenhuser Damm, die kurz vor Kriegsende in einem nahen Schulgebäude ermordet wurden, veranstaltete Erinnerungsfeiern. Ich besuchte mit meinen Schülern das KZ Neuengamme, erforschte mit ihnen das KZ-Nebenlager in der Spaldingstraße und vieles mehr.

Ich denke heute, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen diesem Engagement und den Verstrickungen meines Vaters. Offenbar wollte ich unbewusst etwas kompensieren, etwas reparieren, was an Schuld in der Familie, zwar nicht besprochen und nicht beschrieben, aber doch weitergereicht worden ist. Weitergereicht unter der Decke des Schweigens, unter der ja doch irgendwie kommuniziert wurde, mit Andeutungen und halbbewussten Gesten, die Kinder auf- und für sich übernehmen. Natürlich kann ich weder, noch muss ich etwas gutmachen. Dennoch ist da dieses starke Gefühl eines Involviertseins.

Manchmal wünsche ich, mein Vater hätte mir erklärt, was sich in ihm abgespielt hat, wie er dieses "Dritte Reich" für sich erlebt hat. Und ob er daraus Schlussfolgerungen gezogen hat für sein späteres Leben.

Und dann denke ich wieder: Ich weiß gar nicht, wie ich ihn hätte fragen oder wie ich ihm hätte in die Augen schauen sollen, wenn er hilflos reagiert hätte oder entschuldigend oder rechtfertigend oder leugnend. Vielleicht war es auch ein Glück, dass er darüber gestorben ist.

Recherche-Links

Wenn auch Sie die Lebenswege Ihrer Vorfahren während der Zeit des Nationalsozialismus nachverfolgen möchten, finden Sie hier eine Aufstellung der in den Protokollen erwähnten Dokumente und Archive für Ihre eigene Spurensuche.

Leider gibt es nicht nur eine Anlaufstelle, in der alle relevanten Unterlagen für diese Zeit gelagert sind. Durch Kriegsverluste variiert die Wahrscheinlichkeit, in Archiven Antworten auf Fragen zu erhalten.Militärdienst, Militäreinsätze, Auszeichnungen, Verwundungen, Kriegsgefangenschaften:

Die "Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht" kurz "WASt" (http://www.dd-wast.de/ ) erteilt Auskünfte über alle Aspekte im Zusammenhang mit dem Militärdienst in der Wehrmacht. Angaben zu Beginn und Ende des Wehrdienstes, über Zugehörigkeiten zu verschiedenen Truppenteilen, Beförderungen, Auszeichnungen, etc. Darüber hinaus können auch Informationen über mögliche Verwundungen oder Kriegsgefangenschaften vorhanden sein, oftmals sogar mit Fotos.

Weitere Unterlagen zu Kriegsgefangenschaften, Verhören, etc. können sich eventuell auch in den Hauptarchiven der alliierten Streitkräfte, z. B. in den National Archives in London  oder Washington, DC  befinden.

Mitgliedschaft bei der NSDAP, SS, SA, etc.:Unterlagen über Personen, die der NSDAP und ihren Gliederungen, der SS und deren angeschlossenen Verbänden sowie der SA angehörten, befinden sich im Bundesarchiv Berlin. (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/berlin_lichterfelde/index.html.de )Hier liegen die Bestände des ehemaligen "Berlin Document Centers": Die alliierten Streitkräfte haben nach Ende des Zweiten Weltkriegs schriftliche Überlieferungen von deutschen Behörden sowie militärischen und paramilitärischen Verbänden, der NSDAP, deren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden, beschlagnahmt. Diese Unterlagen dienten der Vorbereitung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse oder der Durchführung von Entnazifizierungsverfahren. Von der zentralen NSDAP-Mitgliederkartei sind schätzungsweise 80 Prozent erhalten. Weitere für diese Recherche interessante Bestände sind Parteikorrespondenzen oder Personalunterlagen von SS- und SA-Angehörigen. Die Personenakten des Heiratsamtes des Rasse- und Siedlungshauptamtes erlauben teilweise detailliert Einblicke in persönliche Lebensumstände von SS-Mitgliedern und deren Ehefrauen und Kindern.Entnazifizierungsakten:Durch die alliierten Mächte wurden Personen zur Entnazifizierung in verschiedene Kategorien eingeteilt:
Kategorie I: Hauptschuldige (Kriegsverbrecher)
Kategorie II: Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer)
Kategorie III: Minderbelastete
Kategorie IV: Mitläufer
Kategorie V: Entlastete

Die Akten der Kategorien IV und V werden meist in den regionalen Stadt-, Staats- oder Landesarchiven aufbewahrt, abhängig vom Wohnort zum Zeitpunkt der Erhebung. Die Akten der Personen, die in die Kategorien I - III befinden sich ausschließlich im Bundesarchiv Berlin (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/berlin_lichterfelde/index.html.de ).
Prozessakten:In Spruchkammerverfahren wurden zwischen 1946-1949 in den drei westlichen Besatzungszonen Personen, die in die oben erwähnten Kategorien I und II eingeteilt waren, verurteilt. Oftmals endete ein Verfahren mit einer Einstufung als Mitläufer. Diese Akten werden im Bundesarchiv Koblenz (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/koblenz/index.html.de ) verwahrt.Als zentrale Anlaufstelle für Akten zu Nachkriegsprozessen aller bundesweiten Staatsanwaltschaften und Gerichte seit 1958 sollte jedoch das Bundesarchiv Ludwigsburg (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/ludwigsburg/index.html.de ) (Zentralstelle für Aufklärung von NS-Verbrechen) kontaktiert werden. Hier gibt es neben vielen Originalakten auch Kopien der sonst regional aufbewahrten Akten. Des Weiteren können Originale einiger Verfahrensakten Nationalsozialistischer Gewaltverbrechen auch in den Archiven am Ort der jeweiligen Prozesse recherchiert werden.Personalakten von Offizieren:Im Bundesarchiv Freiburg (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/freiburg/index.html.de ) existieren Personalakten der Offiziere. Diese Akten können Unterlagen wie persönliche Führungszeugnisse, Aufstellungen der Dienstlaufbahn, mit Beförderungen, Auszeichnungen, Einsätze in Truppenteilen enthalten. Aber auch Fotos sowie Angaben zu Lehrgängen, Beurteilungen von Charakter und Persönlichkeit, Führungsqualitäten können hier überliefert sein.Zusätzliche Hintergrundinformationen:Wer den Werdegang des Vorfahren in historischen Zusammenhang setzen möchte, wird in der weiterführenden Fachliteratur fündig, die man im Fachhandel und über das Internet bekommt oder in regionalen Archiven oder Universitätsbibliotheken einsehen kann. Dort ist auch eine Recherche in historischen Zeitungen möglich.
Die Historiker und Mitarbeiter der vielen Gedenkstätten, die meist an Plätzen der Gräueltaten der Nationalsozialisten angesiedelt sind, geben ebenfalls Auskunft oder bieten Seminare zu verschiedenen Themen der NS-Zeit an. Hier sei beispielsweise die Gedenkstätte des KZ-Neuengamme (http://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/index.php?id=424 ) genannt.Trotz der Kriegswirren sind verhältnismäßig viele Dokumente bis zum heutigen Tag erhalten geblieben. Die Recherche kann kostspielig sein und ist vor allem langwierig. Zur Zeit dauert die Bearbeitung einer Anfrage bei der WASt mehr als 12 Monate. Die einzelnen Archive und Gedenkstätten sind sehr hilfreich und verweisen an andere Stellen für die Fortsetzung der Recherche.
Diese Aufstellung ist nur eine kleine Auswahl der möglichen Quellen, die personenbezogenen Unterlagen aus der Zeit des Nationalsozialismus preisgeben. Auch wurden hier nur die Unterlagen über Täter, nicht jedoch die für die Recherche nach Opfern erwähnt.Andrea Bentschneider bietet seit 2004 mit ihrer Agentur Beyond History professionelle Ahnen- und Familienforschung an. Sie ist Vorsitzende des Berufsverbandes der deutschen Berufsgenealogen.(http://www.beyond-history.de/de/index.php )